und
wann und wo er geboren wurde. Auf dem Klappentext-Foto guckt er mich an,
den Kopf schräg nach unten geneigt, die Haare wirr, den Mund
unmerklich geöffnet, wie erschrocken oder unwirsch, als habe man ihn
aus tiefem Schlaf geholt. Das Foto stammt, wie der schäbige Vorhang im
Hintergrund verrät, aus einem der Fotoautomaten-Kabinen, die zu der
Zeit in jedem Bahnhof zu finden sind.
Der dunkelbunt schimmernde Schutzumschlag stellt alle anderen Geschenke
auf dem Gabentisch meines Bruders in den Schatten: eine hochglänzende
Farbaufnahme einiger stehender Personen, eine nächtliche Szene, für
Sekundenbruchteile vom Blitzlicht der Dunkelheit der Straße entrissen.
Was genau da passiert, bleibt unklar, zumal das Wesentliche verborgen
bleibt; wir sehen die Köpfe nicht. Es ist die Zeit der Pop-Art. Die
Fotografie befreit sich vom Diktat der Gesamt- und Wesenschau, sie
erhebt die ungewohnte Perspektive, das Partikulare, den Schnitt zu einem
autonomen ästhetischen Gegenstand. Auch für die Typographie des Umschlags
von Keiner weiß mehr werden
die überlieferten Schönheitsregeln ignoriert. Der Grafiker hat
eine Schrift gewählt, die den Prägestreifen nachempfunden
ist, mit denen damals Leute mit wenig Geld Ordnung auf Marmeladengläsern
und Klingelschildern schaffen können. Entsprechend dem begrenzten
Zeichenvorrat der Geräte, die diese Schrift produzieren, muss der Grafiker
für den Titel auf das ß in weiß
verzichten, und auch das Verlagskürzel k&w
kann nicht richtig wiedergegeben werden.
Der ästhetische Schock, den der Schutzumschlag von Keiner weiß mehr 1968 auslöste, ist heute schwer zu vermitteln.
Damals, in der Ära der Sucherkamera, waren abgeschnittene Köpfe der
Alptraum eines jeden Hobbyfotografen. Natürlich war ich mir damals
schon sicher, dass es sich bei der scheinbaren Panne in Wahrheit um das
raffinierte Ergebnis einer genau
kalkulierten Bildinszenierung handelt. Die Idee stammt, wie dem
Impressum zu entnehmen ist, von dem Grafiker und Einbandkünstler Hannes
Jähn, der mehrere Jahrzehnte lang bis zu seinem frühen Tod 1987 für
die äußere Gestalt der Bücher aus dem Hause Kiepenheuer &
Witsch verantwortlich war. Erst sehr viel später erkannte ich, dass Jähns
Entwurf nicht bloß einen originellen Blickfang ergibt, sondern direkt
auf den Inhalt des Buches eingeht, indem er diesen kommentiert und interpretiert.
Ich fand heraus, dass das Foto entgegen dem ersten Eindruck nicht auf
einer nächtlichen Großstadtstraße, sondern im Studio aufgenommen
worden ist. Bei den abgebildeten Personen handelt es sich um - von
links nach rechts – Helmut Pieper (einem Freund der Familie Brinkmann),
Rolf Dieter Brinkmann, Maleen Brinkmann und Hannes Jähn. Auch wenn es
streng genommen gar nicht diese Personen sind, die wir sehen, sondern
bloß Körper, die inkognito leihweise für das Foto zur Verfügung
gestellt werden, hätte das Foto ohne Sinnverlust nicht mit anonymen
Modellen aufgenommen werden können. Keiner
weiß mehr ist, so die Botschaft des Schutzumschlages, ein autobiographischer
Roman.
Nicht nur die Wahl der Fotomodelle, auch die Bildkomposition ist von
einer zwingenden Logik. Indem der Grafiker sein fotografisches
Selbstporträt, sozusagen seine Signatur, eher bescheiden an den
Rand rückt, folgt er einer jahrhundertelangen Tradition. Die Frontseite
des Umschlags wird optisch von der Frau beherrscht. Dem Mann in der
Mitte (verkörpert durch Rolf Dieter Brinkmann) wendet sie den Rücken
zu, mit dem Mann am rechten Bildrand hält sie Körperkontakt. Wenn
man den Schutzumschlag auseinander faltet, dominieren Torso und Beine
des Autors die Bildmitte. Brinkmann steht im klassischen Kontrapost
frontal dem Betrachter zugewandt. Der Buchrücken wird durch das
Abbild des Autors vollständig ausgefüllt. Exakt im geometrischen
Zentrum des Buchrückens befindet sich die Körpermitte des
Abgebildeten. Dessen gut zu erkennende Männlichkeit markiert die zentrale
Stelle von Keiner weiß mehr
– formal wie inhaltlich. Wer das Buch gelesen hat, weiß, dass nur
so und nicht anders der Schutzumschlag aussehen kann. Gesichter dürfen
auf ihm nicht erscheinen. Die Figuren des Buches sind in ein
kompliziertes Beziehungsgeflecht von Isolation und aufeinander
Fixiertsein verwoben, dem sie durch Flucht in anonymisierten, buchstäblich
gesichtslos gewordenen Sex zu entkommen suchen. Und was die von Jähn
gewählte Schrift angeht: keine andere Schrifttype könnte die beklemmenden
Niederungen des Alltags, den Muff von Bratkartoffeln und Windeleimer
optisch besser zum Ausdruck bringen als die Prägeschrift der
Klingelschilder.
Die geometrische Mitte von Jähns Schutzumschlag erschließt sich nicht
dem flüchtigen Betrachter, so wie auch zahlreiche strukturelle Details
in Brinkmanns Texten nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Oft
verbergen seine Textgebilde in Aufbau und Gliederung räumliche Strukturen.
Zwei- oder dreidimensionale Ordnungsprinzipien, geometrische Muster
wie Kreis- und Spiralbewegungen sind sowohl in Brinkmanns Lyrik als
auch in seiner Prosa nachweisbar. Mitunter erkennen wir auch Symmetrie.
Symmetrische Strukturen sind nicht wegzudenken aus der Geschichte
der Malerei, der Architektur, der Rhetorik und der Musik. Durch die
symmetrische Ordnung, die Wiederkehr des Gleichen, schimmert die
archaische Furcht vor den Schrecken des Chaos. Die Symmetrie ist so
alt wie die Kunst, genauso wie die Sehnsucht nach Halt und Orientierung
so alt ist wie die Menschheit. Symmetrie hat als ästhetisches Prinzip
in modernen und postmodernen Zeiten weitestgehend ausgedient. Sie
ist als künstlerische Formel heutzutage nur noch ernst zu nehmen,
wenn sie sich selbst nicht ernst nimmt, wenn sie (selbst-)ironisch
auftritt. Ein kleines Beispiel aus Brinkmanns Lyrikband Le Chant du Monde von 1963/64 soll dies verdeutlichen. Die
Symmetrieachsen bestehen aus den Zeilenzwischenräumen sowie der
Leerzeile zwischen den beiden Strophen:
Zwischen
den Zeilen
steht nichts
geschrieben.
Jedes Wort
ist schwarz
auf weiß
nachprüfbar.
Im Zentrum steht nichts anderes als: nichts.
Meine Liebe zu Brinkmann war keine Liebe auf den ersten Blick. Erst
durch die intensivere Beschäftigung mit seinen Texten bemerkte ich ihre
Eleganz und Raffinesse. Zwar gibt es Brinkmann-Gedichte, deren Sinn sich
beim ersten Lesen oder Hören erschließt; diese eingängigen Texte bestechen
unmittelbar durch den Charme ihres Witzes und ihrer Melodie. Oft ist es
aber umgekehrt: Wir ahnen das hinter jeder einzelnen Zeile stehende professionelle
Können des Autors, ohne jedoch die vermutete Pointe, den möglicherweise
abgründigen Hinter-Sinn dieser Lyrik sogleich zu erkennen. Nur wer
sich die Mühe macht, mit der gleichen Genauigkeit und Sorgfalt zu
lesen, mit der der Autor diese Texte verfasst hat, wird weiterkommen.
Am Ausgang der Sinn-Suche wartet eine angenehme Überraschung.
Dieser ruppige ungekämmte Typ auf dem Automatenbild hat
literarische Kunstwerke produziert, die staunen machen. Eine ganze
Reihe von Brinkmann-Texten sind nicht einfach zu konsumieren. Sie sind
nicht geschaffen für den kleinen Lesehunger zwischendurch. Ohne die
erforderliche Geduld werden wir von ihren Eigentümlichkeiten
befremdet sein, werden schnell resignieren vor den scheinbar
unendlich sich verzweigenden Satzkaskaden seiner Prosa und werden
ratlos reagieren angesichts der nicht immer auf Anhieb verständlichen
Zitate und Anspielungen seiner Lyrik. Wer sich mit der nötigen
Neugier und der Bereitschaft zu einer ästhetisch-intellektuellen
Herausforderung auf Brinkmann einlässt, der wird reichlich belohnt
durch das Glück der Entdecker. Er wird erfahren, welch kreatives Potenzial
in unserer Sprache verborgen liegt. Herauszufinden, mit welchen Kunstgriffen
der Dichter die Sprache zum Sprechen bringt, erzeugt ein zugegebenermaßen
nicht ganz mühelos erhältliches, anspruchsvolles Vergnügen: Rätselspaß
auf höchstem Niveau.
*
Zurück zu Keiner weiß mehr. Ich habe damals den Roman gelesen, aber er sagte
mir nicht allzu viel. Das Thema interessierte mich nicht sonderlich.
1968 war ich 21, was gingen mich da Eheprobleme von fast Dreißigjährigen
an. Erst zwanzig Jahre später las ich den Roman ein zweites Mal. Ich
lebte inzwischen in Vechta, dort, wo Rolf Dieter Brinkmann am 16. April
1940 das Licht der Welt erblickt hatte. Der Anstoß, mich mit dem
Vechtaer Autor zu befassen, kam von außen. Als Bibliothekar sollte ich
für die Germanisten des örtlichen Uni-Ablegers Material zu Brinkmanns
Leben und Werk zusammenstellen. Der Auftrag bildete den Grundstein
zur Vechtaer Brinkmann-Forschung. Im Laufe meiner Recherchen über
Brinkmanns Vechtaer Zeit, begleitet von der Lektüre seiner
autobiographischen Schriften, erstand vor meinem inneren Auge das
Leben eines Jungen in den 50er Jahren. Mit zunehmendem Lebensalter war
der Generationensprung, der mich einst von Brinkmann getrennt hatte,
auf wenige Jahre
zusammengeschrumpft. Viele Details aus Brinkmanns Vita weckten
eigene Erinnerungen, ich blickte teilweise in meine eigene
Kinderstube. Die Ängste und die Ärmlichkeit, die Heimlichkeiten
und die bescheidenen Freuden, die staubigen Wege und die Brennnesseln
jener Jahre - all das war
mir, obwohl in der Großstadt aufgewachsen, sehr vertraut.
Vechta,
eine Kleinstadt von damals 14 Tausend Einwohnern, ländlich geprägt.
Dort erlebt Rolf Dieter Brinkmann als Kleinkind die Schrecken des
Krieges. Die Befreiung von der Angst vor Gewalt, Verwundung und Verstümmelung
ist ihm zeitlebens nicht gelungen. Rolf Dieter Brinkmann stammt aus
bescheidenen Verhältnissen. Der Vater ein kleiner Angestellter beim
Finanzamt, die Mutter Hausfrau. Familie Brinkmann besitzt kein Wohnungseigentum,
mehrfach muss sie innerhalb von Vechta umziehen. Die Eltern sind
katholisch, Brinkmann wächst in einem stark religiös geprägten
Umfeld auf. Es wird ein finanzielles Opfer gewesen sein, dass ihm als
dem älteren Sohn der schulgeldpflichtige Besuch des Gymnasiums ermöglicht
wird. Brinkmann ist außer im Fach Deutsch kein guter Schüler.
Erwartungen an Leistung und Anpassung verweigert er sich. Früh bemerkt
er sein intuitives Verständnis für Geschriebenes und sein
Talent, eigene Formulierungen zu bilden. Mit einer Ausnahme weigern
sich seine Lehrer, seine frühe Belesenheit und außergewöhnliche
Sprachsensibilität anzuerkennen. Das Gefühl, nicht verstanden zu
werden, erzeugt bei ihm Trotz und verbale Aggressionen, von denen auch
der eigene Vater nicht verschont bleibt. Als Brinkmann 16 ist,
erkrankt die Mutter an Brustkrebs, einer Krankheit, der sie 1957
erliegt. Während der Leidenszeit der Mutter sacken Brinkmanns schulische
Leistungen weiter ab, er muss das Gymnasium verlassen. Der Vater
besorgt ihm eine Lehrstelle beim Oldenburger Finanzamt, wo er es
freilich nicht lange aushält. Er jobbt hier und da und geht auf
Reisen. 1959 beginnt er eine Buchhandelslehre in Essen, die er
auch erfolgreich beendet.
Brinkmann, der bereits mit 18 empfindsame Gedichte schrieb, beginnt während
seiner Zeit in Essen zu veröffentlichen. Nach einigen kleineren
Arbeiten erfolgt 1962 der Druck seines ersten Buches, des Gedichtbandes Ihr
nennt es Sprache. Seine frühen Werke, darunter ein bibliophil ausgestatteter
Lyrikband mit Originalradierungen von Emil Schumacher, erscheinen in
ambitionierten kleinen Verlagen. Brinkmann war inzwischen nach Köln
gezogen. 1964 heiratet er die Lehramtsstudentin Maleen Kramer, im
selben Jahr wird Sohn Robert geboren. Brinkmann studiert an der Kölner
Pädagogischen Hochschule, obwohl er eigentlich gar nicht Lehrer werden
will. Er ist ein reiner Büchermensch, er lebt mit radikaler Ausschließlichkeit
lesend und schreibend für die Literatur und versucht nach Möglichkeit
auch von ihr zu leben. Als gelernter Buchhändler jobbt er anfangs
gelegentlich in diesem Beruf. Ansonsten führt er das Leben eines
professionellen Schriftstellers, und der Erfolg, wenn auch nicht unbedingt
der finanzielle, gibt seinem Lebensentwurf recht. Nachdem Dieter
Wellershoff, damals Verlagslektor bei Kiepenheuer & Witsch,
sein Talent erkannt hat, wird Brinkmann dort Hausautor. 1965 erscheint
sein Erzählungsband Die Umarmung.
Der renommierte Verlagsname sorgt zuverlässig dafür, dass
Brinkmanns Bücher vom Feuilleton aufmerksam registriert werden. Marcel
Reich-Ranicki attestiert ihm anlässlich des Erscheinens von
Die Umarmung in der Zeit
eine „geradezu erstaunliche Sensibilität“ und gelangt zu dem
Urteil: „eine wichtige Publikation. Weil sie große Möglichkeiten
ankündigt.“ Als 1968 Keiner
weiß mehr und der Lyrikband Die
Piloten erscheinen, befindet sich der Autor auf dem Höhepunkt
seiner Popularität. Sein Roman wird, was damals wie heute nur wenigen
Büchern widerfährt, im Spiegel
rezensiert. Anders als bei Brinkmanns Lyrik, die insgesamt wohlwollend
aufgenommen wird, scheiden sich bei seinem Roman die kritischen
Geister. Nur wenige Kritiker erkennen die innovative Kraft der
Sprache, einige vermissen den langen erzählerischen Atem,
andere sehen eine Überbetonung des Sexuellen und einen nihilistischen
Blick auf die Institution Ehe. Der Roman findet bei den Lesern und
Leserinnen gleichwohl (oder eben deswegen) mit über 50 Tausend
verkauften Exemplaren eine lebhafte Resonanz.
Die Jahre 1966 bis 1969 sind mit Blick auf die Zahl der Veröffentlichungen
Brinkmanns produktivste Phase. In diesem Zeitraum erscheinen neben dem
Roman und zahlreichen kleineren Arbeiten allein sechs Lyrikbände, ein
Erzählungsband und zwei umfangreiche Übersetzungs-Anthologien
angloamerikanischer Texte. Daneben beschäftigt sich Brinkmann mit
Film- und Fotoarbeiten. Vom Westdeutschen Rundfunk übernimmt er mehrere
Auftragsarbeiten (Essay, Feature, Lesung). 1970 ist für Brinkmann ein
Wendejahr. Ein weiterer Lyrikband (Gras)
erscheint, es soll das letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Buch
bleiben. Wie seine Witwe später berichtet, entscheidet Brinkmann
1971, zunächst keine weiteren Bücher zu veröffentlichen. Es folgt
eine Zeit des Rückzugs aus dem Literaturbetrieb und des Sammelns
von Material für einen zweiten Roman. Parallel dazu schreibt
Brinkmann drei Hörspiele. 1972/73 verbringt er ein Jahr als Stipendiat
der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Dort entstehen Teile seiner
autobiographischen Materialienbücher. Anschließend beginnt er die
Arbeit am Manuskript eines umfangreichen Lyrikbandes. 1974 übernimmt
er für ein halbes Jahr eine Gastdozentur in Austin, Texas. Im April
1975 reist er zu einem Lyrikertreffen nach Cambridge. Kurz darauf, am
23. April, kommt Rolf Dieter Brinkmann bei einem Verkehrsunfall in London
ums Leben. Einige Tage nach seinem Tod erscheint sein Lyrikband Westwärts
1 & 2 als Taschenbuch bei Rowohlt. Gemessen an den für Gedichtbände
geltenden Marktgesetzen erzielt das Buch einen überwältigenden
Erfolg. Dieses Mal ist sich die Kritik einig, sie feiert den Band als
herausragendes literarisches Ereignis. Für Westwärts
1 & 2 wird Brinkmann posthum mit dem Petrarca-Preis
ausgezeichnet. Massenhafte Verbreitung finden einige der Gedichte
(darunter Die Orangensaftmaschine
und Einen jener klassischen)
durch Abdruck und Interpretation in Lesebüchern für den
Schulgebrauch.
Der zweite Roman, den Brinkmann schreiben wollte, blieb ein Projekt. So
bleibt auch ungewiss, ob die umfangreichen Aufzeichnungen, die posthum
in drei Bänden bei Rowohlt erschienen, als eine Art Rohmaterial für
diesen Roman zu gelten haben oder vom Autor für eine separate Veröffentlichung
bestimmt waren. Diese Ungewissheit hinderte die Nachwelt indes nicht daran,
die Materialien als autonome literarische Werke zu rezipieren. Insbesondere
Rom, Blicke, ein aus Briefen, Notaten und Fotos zusammengesetztes
Materialienbuch, gilt heute zu Recht als ein die herkömmlichen Gattungsgrenzen
aufhebendes literarisches Meisterwerk.
Brinkmanns nachgelassene Schriften sind längst noch nicht alle veröffentlicht.
Vieles ruht noch unerschlossen im Verborgenen und wird von der
literarischen Welt ungeduldig erwartet. Jedes Mal wenn bei Rowohlt Teile
der bislang ungehobenen Schätze publik gemacht werden, gibt es
eine erhebliche Resonanz. Der zuletzt verlegte Band mit Briefen
an einen amerikanischen Freund wurde in allen großen Zeitungen ausführlich
vorgestellt. Brinkmann ist tot, das Interesse an ihm lebendiger denn je
zuvor.
*
Vechta, Sommer 2002. Ich höre den Mitschnitt einer Rundfunksendung aus
dem Jahr 1971. Westdeutscher Rundfunk, 3. Programm. „Programmschluß
– neue Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann“ heißt die Sendung. Es
lesen professionelle Sprecher. Die Gedichte sind überwiegend unveröffentlicht.
Es sind Texte, die in ihrer Musikalität unmittelbar anspringen, einfache
sympathische Wendungen. Das ist der andere, der ‚leichte’ doch
deswegen nicht weniger geniale Brinkmann. Ich kann mich entspannt zurücklehnen,
der Germanist in mir macht Pause. Diese Verse sind einfach und schön,
sie sind einfach schön. (Dass Einfachheit nicht einfach so entsteht,
sondern ein hochkomplexes ästhetisches Prinzip darstellt, will mir
der Germanist zuflüstern, aber ich höre nicht hin.) „Der blaue
Knall der verlöschenden / Gasflamme eines Nachmittags im Juni
// als ich allein in der Küche sass und / dem Lärm eines Flugzeugs in
der Luft // zuhörte, das in dem Augenblick vorüberflog / brachte
mich zurück in die heftige Stille // in der ich dalag, nachdem ich
aus / dem Baum gefallen war und mir // den Fuss gebrochen hatte.“
(Das Gedicht geht noch weiter, aber mehr zu zitieren, verbietet das Urheberrecht.)
Tempo und Intonation des Sprechers, eines sein Handwerk perfekt
beherrschenden Schauspielers, sind dem Text angemessen
und bringen ihn zum Klingen. Der Schauspieler heißt Diether
Krebs. Er spricht distanziert, unterkühlt, vielleicht auch ein
wenig spöttisch, ein winziger Hauch von "Sketchup".
Von
Brinkmann stammen Gedichte, die tatsächlich so einfach zu lesen sind,
wie der Autor es sich für seinen eigenen Schreibprozess gewünscht
hat: „die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür
aufzumachen“. Diese Gedichte bedürfen keiner umständlichen
Deutung, sie interpretieren sich selbst durch ihren lässigen
Auftritt, ihre lapidare Geschichte und ihren untergründigen Humor.
Sie leben ganz von der Melodie und der Schönheit der Wörter. Zu diesen
‚einfachen’ Brinkmann-Gedichten gehören das bekannte Tango-Gedicht
und das Mondlicht-Gedicht aus Westwärts 1 & 2 und auch das so gut wie unbekannte
Schattenmorellen-Gedicht, das für denselben Band bestimmt war, aber
aus Platzgründen in ihn nicht aufgenommen wurde: „Schattenmorellen
/ entzückten mich, als ich heute / durch die graue, nasse Straße /
ging, unter den vielen Gesichtern // frisch und klar, mehr als das /
Problem des Unendlichen / kurz vor halb sieben, // Ladenschluß.“
Die
Tür, die sich da öffnet, lässt auch Leser ein, die sonst keine Lyrik
mögen. Sie erwartet gelassene, entspannte Lektüre, schwebend
leicht und unangestrengt.
Werke (Auswahl):
Le
Chant du Monde. Gedichte. Olef/Eifel 1964
Die Umarmung. Erzählungen. Köln
1965
Raupenbahn. Erzählungen. Köln
1966
Was fraglich ist wofür.
Gedichte. Köln 1967
Keiner weiß mehr. Roman. Köln
1968
Die Piloten. Gedichte. Köln
1968
[Mithrsg.] Acid. Neue
amerikanische Szene. Darmstadt 1969
[Hrsg.] Silver screen. Neue
amerikanische Lyrik. Köln 1969
Gras. Gedichte. Köln 1970
Westwärts 1 & 2.
Gedichte. Reinbek 1975
Rom, Blicke. Reinbek 1979
Eiswasser an der Guadelupe Str.
Reinbek 1985
Erkundungen für die Präzisierung
des Gefühls für einen Aufstand. Tagebuch. Reinbek 1987
Schnitte. Reinbek 1988
Briefe an Hartmut. Reinbek
1999
Über Rolf Dieter Brinkmann:
Rolf Dieter Brinkmann. München 1981 (Text & Kritik 71)
Sibylle Späth: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989
Rolf
Dieter Brinkmann. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Reinbek 1995
(Literaturmagazin 36, Sonderheft)
Too
much – das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Hrsg. von Gunter
Geduldig und Marco Sagurna. Vechta 2000
Amerikanischer
Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum
60. Hrsg. von Gunter Geduldig. Vechta 2000 (Eiswasser I/II 2000)
Rolf
Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1.
Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns.
Hrsg. von Gudrun Schulz und Martin Kagel. Vechta 2001
Zur
Auswahl
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