Gunter Geduldig

 „Jedes Wort ist schwarz auf weiß nachprüfbar.“

Rolf Dieter Brinkmann

Geboren am 16. April 1940 in Vechta, 
gestorben am 23. April 1975 in London

Aachen, Weihnachten 1968. Mein kleiner Bruder (18) bekommt zum Geburtstag, der auf den Heiligen Abend fällt, einen Roman mit dem merkwürdigen Titel Keiner weiß mehr. Er hat sich das Buch gewünscht. Der Band, gerade erst im Frühjahr bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, liegt schon in vierter Auflage vor. Von dem Verfasser, er heißt Rolf Dieter Brinkmann, habe ich schon gehört, gelesen habe ich von ihm nicht eine Zeile. Ich schlage das Buch auf, lese den Klappentext und erfahre nichts über den Autor, nicht wo er lebt 

und wann und wo er geboren wurde. Auf dem Klappentext-Foto guckt er mich an, den Kopf schräg nach unten geneigt, die Haare wirr, den Mund unmerklich geöffnet, wie erschrocken oder unwirsch, als habe man ihn aus tiefem Schlaf geholt. Das Foto stammt, wie der schäbige Vorhang im Hintergrund verrät, aus einem der Fotoautomaten-Kabinen, die zu der Zeit in jedem Bahnhof zu finden sind.

Der dunkelbunt schimmernde Schutzumschlag stellt alle anderen Geschenke auf dem Gabentisch meines Bruders in den Schatten: eine hochglänzende Farbaufnahme einiger stehender Personen, eine nächtliche Szene, für Sekundenbruchteile vom Blitzlicht der Dunkelheit der Straße ent­rissen. Was genau da passiert, bleibt unklar, zumal das Wesentliche ver­borgen bleibt; wir sehen die Köpfe nicht. Es ist die Zeit der Pop-Art. Die Fotografie befreit sich vom Diktat der Gesamt- und Wesenschau, sie erhebt die ungewohnte Perspektive, das Partikulare, den Schnitt zu einem auto­nomen ästhetischen Gegenstand. Auch für die Typographie des Umschlags von Keiner weiß mehr werden die überlieferten Schön­heits­regeln ignoriert. Der Grafiker hat eine Schrift gewählt, die den Präge­­strei­fen nachemp­fun­den ist, mit denen damals Leute mit wenig Geld Ordnung auf Marmela­den­gläsern und Klingelschildern schaffen können. Ent­sprechend dem be­grenz­ten Zeichenvorrat der Geräte, die diese Schrift produzieren, muss der Gra­fiker für den Titel auf das ß in weiß ver­zichten, und auch das Verlags­kürzel k&w kann nicht richtig wiederge­geben werden.

Der ästhetische Schock, den der Schutzumschlag von Keiner weiß mehr 1968 auslöste, ist heute schwer zu vermitteln. Damals, in der Ära der Sucherkamera, waren abgeschnittene Köpfe der Alptraum eines jeden Hobbyfotografen. Natürlich war ich mir damals schon sicher, dass es sich bei der scheinbaren Panne in Wahrheit um das raffinierte Ergebnis einer  genau kalkulierten Bildinszenierung handelt. Die Idee stammt, wie dem Impressum zu entnehmen ist, von dem Grafi­ker und Einbandkünstler Han­nes Jähn, der mehrere Jahrzehnte lang bis zu seinem frühen Tod 1987 für die äußere Gestalt der Bücher aus dem Hause Kiepen­heuer & Witsch ver­antwortlich war. Erst sehr viel später erkannte ich, dass Jähns Entwurf nicht bloß einen originellen Blickfang ergibt, sondern direkt auf den Inhalt des Buches eingeht, indem er diesen kommentiert und inter­pretiert. Ich fand heraus, dass das Foto entgegen dem ersten Ein­druck nicht auf einer nächt­lichen Großstadt­straße, sondern im Studio auf­genommen worden ist. Bei den abgebil­deten Personen handelt es sich um - von links nach rechts – Helmut Pieper (einem Freund der Familie Brinkmann), Rolf Dieter Brinkmann, Maleen Brinkmann und Hannes Jähn. Auch wenn es streng genommen gar nicht diese Personen sind, die wir sehen, sondern bloß Körper, die inkognito leihweise für das Foto zur Verfügung gestellt werden, hätte das Foto ohne Sinnverlust nicht mit anonymen Modellen aufgenommen werden können. Keiner weiß mehr ist, so die Botschaft des Schutzumschlages, ein autobiographischer Roman.

Nicht nur die Wahl der Fotomodelle, auch die Bildkomposition ist von  ei­ner zwingenden Logik. Indem der Grafiker sein fotografisches Selbst­por­trät, sozusagen seine Signatur, eher bescheiden an den Rand rückt, folgt er einer jahrhundertelangen Tradition. Die Frontseite des Um­schlags wird optisch von der Frau beherrscht. Dem Mann in der Mitte (verkörpert durch Rolf Dieter Brinkmann) wendet sie den Rücken zu, mit dem Mann am rech­ten Bildrand hält sie Körperkontakt. Wenn man den Schutzumschlag auseinander faltet, dominieren Torso und Beine des Autors die Bildmitte. Brinkmann steht im klassischen Kontrapost frontal dem Betrachter zu­gewandt. Der Buchrücken wird durch das Abbild des Autors vollständig ausgefüllt. Exakt im geome­trischen Zentrum des Buchrückens befindet sich die Körpermitte des Abgebildeten. Dessen gut zu erkennende Männ­lichkeit markiert die zen­trale Stelle von Keiner weiß mehr – for­mal wie inhalt­lich. Wer das Buch gelesen hat, weiß, dass nur so und nicht anders der Schutzumschlag aus­sehen kann. Gesichter dürfen auf ihm nicht er­schei­­nen. Die Figuren des Buches sind in ein kompliziertes Be­ziehungs­ge­flecht von Isolation und aufeinander Fixiertsein verwoben, dem sie durch Flucht in anonymisierten, buchstäblich gesichtslos gewordenen Sex zu entkommen suchen. Und was die von Jähn gewählte Schrift angeht: keine andere Schrifttype könnte die beklem­men­den Niederungen des Alltags, den Muff von Bratkartoffeln und Windeleimer optisch besser zum Aus­druck bringen als die Prägeschrift der Klingelschilder.

Die geometrische Mitte von Jähns Schutzumschlag erschließt sich nicht dem flüchtigen Betrachter, so wie auch zahlreiche strukturelle Details in Brink­manns Texten nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Oft verbergen seine Textgebilde in Aufbau und Gliederung räum­liche Struk­turen. Zwei- oder drei­dimensionale Ord­nungs­prinzipien, geometrische Mus­ter wie Kreis- und Spiralbe­wegungen sind sowohl in Brink­manns Lyrik als auch in seiner Prosa nachweisbar. Mitunter erkennen wir auch Sym­me­trie. Sym­me­­trische Strukturen sind nicht wegzu­denken aus der Ge­schichte der Ma­lerei, der Architektur, der Rhetorik und der Musik. Durch die symme­tri­sche Ordnung, die Wiederkehr des Glei­chen, schimmert die archaische Furcht vor den Schrecken des Chaos. Die Sym­metrie ist so alt wie die Kunst, genauso wie die Sehnsucht nach Halt und Orientierung so alt ist wie die Mensch­heit. Symmetrie hat als ästhetisches Prinzip in mo­der­nen und postmoder­nen Zeiten weitestgehend ausgedient. Sie ist als künst­­lerische Formel heutzutage nur noch ernst zu nehmen, wenn sie sich selbst nicht ernst nimmt, wenn sie (selbst-)ironisch auftritt. Ein kleines Beispiel aus Brinkmanns Lyrikband Le Chant du Monde von 1963/64 soll dies ver­deutlichen. Die Symmetrieachsen bestehen aus den Zeilen­zwischen­­räumen sowie der Leerzeile zwischen den beiden Strophen:

Zwischen
den Zeilen
steht nichts
geschrieben.

Jedes Wort
ist schwarz
auf weiß
nachprüfbar.


Im Zentrum steht nichts anderes als: nichts.

Meine Liebe zu Brinkmann war keine Liebe auf den ersten Blick. Erst durch die intensivere Beschäftigung mit seinen Texten bemerkte ich ihre Eleganz und Raffinesse. Zwar gibt es Brinkmann-Gedichte, deren Sinn sich beim ersten Lesen oder Hören erschließt; diese eingängigen Texte be­stechen unmittelbar durch den Charme ihres Witzes und ihrer Melodie. Oft ist es aber umgekehrt: Wir ahnen das hinter jeder einzelnen Zeile stehende pro­fes­sionelle Können des Autors, ohne jedoch die vermutete Pointe, den möglicherweise abgründigen Hinter-Sinn dieser Lyrik sogleich zu erken­nen. Nur wer sich die Mühe macht, mit der gleichen Genauigkeit und Sorg­falt zu lesen, mit der der Autor diese Texte verfasst hat, wird weiterkom­men. Am Aus­gang der Sinn-Suche wartet eine ange­nehme Überraschung. Dieser rup­pige ungekämmte Typ auf dem Auto­matenbild hat literarische Kunst­werke produziert, die staunen machen. Eine ganze Reihe von Brinkmann-Texten sind nicht einfach zu konsumieren. Sie sind nicht geschaffen für den kleinen Lesehunger zwischendurch. Ohne die erfor­derliche Geduld werden wir von ihren Eigentümlichkeiten befremdet sein, werden schnell re­sig­nieren vor den schein­bar unendlich sich verzweigenden Satzkas­kaden seiner Prosa und werden ratlos reagieren angesichts der nicht immer auf Anhieb verständ­lichen Zitate und Anspie­lun­gen seiner Lyrik. Wer sich mit der nötigen Neugier und der Be­reit­schaft zu einer ästhe­tisch-intellektuellen Herausforderung auf Brink­mann ein­lässt, der wird reichlich belohnt durch das Glück der Entdecker. Er wird erfahren, welch kreatives Poten­zial in unserer Sprache verborgen liegt. Herauszufinden, mit welchen Kunst­griffen der Dichter die Sprache zum Sprechen bringt, erzeugt ein zuge­gebenermaßen nicht ganz mühelos erhältliches, anspruchsvolles Ver­gnügen: Rätselspaß auf höchstem Niveau.

*


Zurück zu Keiner weiß mehr. Ich habe damals den Roman gelesen, aber er sagte mir nicht allzu viel. Das Thema interessierte mich nicht sonder­lich. 1968 war ich 21, was gingen mich da Eheprobleme von fast Dreißig­jährigen an. Erst zwanzig Jahre später las ich den Roman ein zweites Mal. Ich lebte inzwischen in Vechta, dort, wo Rolf Dieter Brinkmann am 16. April 1940 das Licht der Welt erblickt hatte. Der Anstoß, mich mit dem Vechtaer Autor zu befassen, kam von außen. Als Bibliothekar sollte ich für die Ger­manisten des örtlichen Uni-Ablegers Material zu Brink­manns Leben und Werk zu­sam­men­stellen. Der Auftrag bildete den Grundstein zur Vechtaer Brink­mann-Forschung. Im Laufe meiner Recherchen über Brink­manns Vechtaer Zeit, begleitet von der Lektüre seiner autobiographischen Schrif­ten, erstand vor meinem inneren Auge das Leben eines Jungen in den 50er Jahren. Mit zunehmen­dem Lebensalter war der Generationensprung, der mich einst von Brink­mann getrennt hatte, auf  wenige Jahre zusammengeschrumpft. Viele Details aus Brink­­manns Vita weckten eigene Erin­nerungen, ich blickte teil­weise in meine eigene Kinderstube. Die Ängste und die Ärmlichkeit, die Heim­­lichkeiten und die bescheidenen Freuden, die staubigen Wege und die Brennnesseln jener Jahre  - all das war mir, obwohl in der Großstadt aufgewachsen, sehr vertraut.

 

Vechta, eine Kleinstadt von damals 14 Tausend Einwohnern, ländlich ge­prägt. Dort erlebt Rolf Dieter Brinkmann als Kleinkind die Schrecken des Krieges. Die Befreiung von der Angst vor Gewalt, Verwundung und Ver­stüm­melung ist ihm zeitlebens nicht gelungen. Rolf Dieter Brinkmann stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Der Vater ein kleiner Ange­stellter beim Finanzamt, die Mutter Hausfrau. Familie Brinkmann besitzt kein Woh­nungseigentum, mehrfach muss sie innerhalb von Vechta umziehen. Die Eltern sind katholisch, Brinkmann wächst in einem stark religiös ge­prägten Umfeld auf. Es wird ein finan­zielles Opfer gewesen sein, dass ihm als dem älteren Sohn der schulgeld­pflichtige Besuch des Gymnasiums er­möglicht wird. Brink­mann ist außer im Fach Deutsch kein guter Schü­ler. Erwartungen an Leistung und Anpassung verweigert er sich. Früh bemerkt er sein intui­tives Ver­stän­dnis für Geschriebenes und sein Talent, eigene Formu­lierun­gen zu bilden. Mit einer Ausnahme weigern sich seine Lehrer, seine frühe Be­lesenheit und außergewöhnliche Sprachsen­sibilität anzuer­kennen. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, erzeugt bei ihm Trotz und verbale Aggres­sionen, von denen auch der eigene Vater nicht ver­schont bleibt. Als Brink­mann 16 ist, erkrankt die Mutter an Brust­krebs, einer Krankheit, der sie 1957 erliegt. Während der Leidens­zeit der Mutter sacken Brinkmanns schu­li­sche Leistungen weiter ab, er muss das Gym­na­sium verlassen. Der Va­ter besorgt ihm eine Lehr­­stelle beim Olden­bur­ger Finanzamt, wo er es freilich nicht lange aushält. Er jobbt hier und da und geht auf  Reisen. 1959 beginnt er eine Buchhan­delslehre in Essen, die er auch erfolg­reich beendet.

Brinkmann, der bereits mit 18 empfindsame Gedichte schrieb, beginnt während seiner Zeit in Essen zu veröffentlichen. Nach einigen kleineren Arbeiten erfolgt 1962 der Druck seines ersten Buches, des Gedichtbandes Ihr nennt es Sprache. Seine frühen Werke, darunter ein bibliophil ausge­stat­teter Lyrikband mit Originalradierungen von Emil Schumacher, er­scheinen in ambitionierten kleinen Verlagen. Brinkmann war inzwischen nach Köln gezogen. 1964 heiratet er die Lehramtsstudentin Maleen Kra­mer, im selben Jahr wird Sohn Robert geboren. Brinkmann studiert an der Kölner Pä­dagogischen Hochschule, obwohl er eigentlich gar nicht Lehrer wer­den will. Er ist ein reiner Büchermensch, er lebt mit radika­ler Ausschließlichkeit lesend und schreibend für die Lite­ratur und versucht nach Möglichkeit auch von ihr zu leben. Als ge­lernter Buch­händ­ler jobbt er anfangs gelegentlich in die­sem Beruf. An­sonsten führt er das Leben eines professionellen Schriftstel­lers, und der Erfolg, wenn auch nicht un­bedingt der finanzielle, gibt seinem Lebensentwurf recht. Nach­dem Dieter Wellers­hoff, damals Ver­lags­­lektor bei Kiepenheuer & Witsch, sein Talent er­kannt hat, wird Brinkmann dort Hausautor. 1965 erscheint sein Erzäh­lungs­band Die Um­armung. Der renom­mierte Ver­lagsname sorgt zu­ver­lässig dafür, dass Brinkmanns Bücher vom Feuilleton aufmerk­sam re­gistriert werden. Mar­cel Reich-Ranicki attestiert ihm anläss­lich des Erscheinens von Die Um­armung in der Zeit eine „geradezu er­staun­liche Sensibilität“ und gelangt zu dem Urteil: „eine wichtige Pub­lika­tion. Weil sie große Mög­lich­keiten an­kündigt.“ Als 1968 Keiner weiß mehr und der Lyrikband Die Piloten erscheinen, befindet sich der Autor auf dem Höhe­punkt seiner Popu­la­rität. Sein Roman wird, was damals wie heute nur we­nigen Bü­chern widerfährt, im Spiegel re­zensiert. Anders als bei Brinkmanns Lyrik, die insgesamt wohlwollend aufge­nommen wird, schei­den sich bei seinem Ro­man die kritischen Geister. Nur wenige Kriti­ker erkennen die inno­vative Kraft der Sprache, einige ver­mis­sen den langen er­zähleri­schen Atem, andere sehen eine Überbe­tonung des Sexuellen und einen nihilistischen Blick auf die Institution Ehe. Der Ro­man findet bei den Lesern und Leserinnen gleichwohl (oder eben des­we­gen) mit über 50 Tausend verkauften Exemplaren eine lebhafte Re­sonanz.

Die Jahre 1966 bis 1969 sind mit Blick auf die Zahl der Veröffent­lichun­gen Brinkmanns produktivste Phase. In diesem Zeitraum er­scheinen neben dem Roman und zahlreichen kleineren Arbeiten allein sechs Lyrik­bände, ein Erzäh­lungs­band und zwei umfangreiche Übersetzungs-Anthologien anglo­amerikanischer Texte. Daneben beschäftigt sich Brinkmann mit Film- und Fotoarbeiten. Vom Westdeutschen Rundfunk übernimmt er mehrere Auftragsarbeiten (Essay, Feature, Lesung). 1970 ist für Brinkmann ein Wen­dejahr. Ein wei­terer Lyrikband (Gras) erscheint, es soll das letzte zu Leb­zeiten veröffentlichte Buch bleiben. Wie seine Witwe später berichtet, ent­scheidet Brinkmann 1971, zunächst keine weiteren Bücher zu veröffent­lichen. Es folgt eine Zeit des Rückzugs aus dem Literatur­betrieb und des Sam­melns von Material für einen zweiten Roman. Paral­lel dazu schreibt Brinkmann drei Hör­spiele. 1972/73 ver­bringt er ein Jahr als Sti­pendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Dort entstehen Teile seiner autobio­graphischen Materialienbücher. An­schließend beginnt er die Arbeit am Manuskript eines umfangreichen Lyrik­ban­des. 1974 über­nimmt er für ein halbes Jahr eine Gastdozentur in Austin, Texas. Im April 1975 reist er zu einem Lyrikertreffen nach Cam­bridge. Kurz darauf, am 23. April, kommt Rolf Dieter Brinkmann bei einem Verkehrsunfall in Lon­don ums Leben. Einige Tage nach seinem Tod erscheint sein Lyrikband West­wärts 1 & 2 als Taschen­buch bei Ro­wohlt. Gemessen an den für Ge­dicht­bände gel­ten­­den Markt­gesetzen erzielt das Buch einen überwäl­tigen­den Erfolg. Die­ses Mal ist sich die Kritik einig, sie feiert den Band als heraus­ragendes litera­risches Ereignis. Für Westwärts 1 & 2 wird Brink­mann post­hum mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. Massenhafte Ver­breitung fin­den einige der Gedichte (darunter Die Orangensaftmaschine und Einen jener klassischen) durch Abdruck und Interpretation in Lese­büchern für den Schulgebrauch.

Der zweite Roman, den Brinkmann schreiben wollte, blieb ein Projekt. So bleibt auch ungewiss, ob die umfangreichen Aufzeichnungen, die posthum in drei Bänden bei Rowohlt erschienen, als eine Art Roh­material für diesen Roman zu gelten haben oder vom Autor für eine separate Veröffent­lichung bestimmt waren. Diese Ungewissheit hinderte die Nachwelt indes nicht da­ran, die Materialien als autonome literarische Werke zu rezipieren. Ins­be­sondere Rom, Blicke, ein aus Briefen, Notaten und Fotos zusam­men­ge­setz­tes Materialienbuch, gilt heute zu Recht als ein die herkömm­lichen Gat­tungs­grenzen aufhebendes literarisches Meisterwerk.

Brinkmanns nachgelassene Schriften sind längst noch nicht alle veröf­fent­­licht. Vieles ruht noch unerschlossen im Verborgenen und wird von der literarischen Welt ungeduldig erwartet. Jedes Mal wenn bei Rowohlt Teile der bislang un­geho­benen Schätze publik ge­macht wer­den, gibt es eine er­heb­liche Resonanz. Der zuletzt ver­leg­te Band mit Briefen an einen ameri­kanischen Freund wurde in allen großen Zeitungen ausführlich vorgestellt. Brinkmann ist tot, das Interesse an ihm lebendiger denn je zuvor.

*

Vechta, Sommer 2002. Ich höre den Mitschnitt einer Rundfunksendung aus dem Jahr 1971. Westdeutscher Rundfunk, 3. Programm. „Programmschluß – neue Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann“ heißt die Sendung. Es lesen professio­nelle Sprecher. Die Gedichte sind überwiegend unveröf­fentlicht. Es sind Texte, die in ihrer Musikalität unmittelbar anspringen, ein­fache sym­pathische Wendungen. Das ist der andere, der ‚leichte’ doch deswegen nicht weniger geniale Brink­mann. Ich kann mich entspannt zu­rücklehnen, der Germanist in mir macht Pause. Diese Verse sind einfach und schön, sie sind einfach schön. (Dass Einfachheit nicht einfach so ent­steht, sondern ein hochkomplexes äs­the­tisches Prinzip darstellt, will mir der Ger­manist zu­flüstern, aber ich höre nicht hin.) „Der blaue Knall der ver­löschen­­­den / Gasflamme eines Nachmittags im Juni // als ich allein in der Küche sass und / dem Lärm eines Flugzeugs in der Luft // zu­hörte, das in dem Augenblick vorü­ber­flog / brachte mich zurück in die heftige Stille // in der ich dalag, nach­dem ich aus / dem Baum gefallen war und mir // den Fuss ge­brochen hatte.“ (Das Gedicht geht noch weiter, aber mehr zu zi­tieren, verbietet das Ur­heberrecht.) Tempo und Into­nation des Sprechers, eines sein Hand­werk perfekt beherr­schenden Schau­spielers, sind dem Text an­gemessen  und bringen ihn zum Klingen. Der Schauspieler heißt Diether Krebs. Er spricht distan­ziert, unter­kühlt, vielleicht auch ein wenig spöttisch, ein winziger Hauch von "Sketchup".

 

Von Brinkmann stammen Gedichte, die tatsächlich so einfach zu lesen sind, wie der Autor es sich für seinen eigenen Schreibprozess ge­wünscht hat: „die Ge­dich­te einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzu­machen“. Diese Gedichte bedürfen keiner umständlichen Deutung, sie in­ter­pretieren sich selbst durch ihren lässigen Auftritt, ihre lapidare Ge­schich­te und ihren untergründigen Humor. Sie leben ganz von der Melodie und der Schönheit der Wörter. Zu diesen ‚einfachen’ Brinkmann-Gedich­ten gehören das bekannte Tango-Ge­dicht und das Mondlicht-Gedicht aus Westwärts 1 & 2 und auch das so gut wie unbekannte Schattenmorellen-Gedicht, das für denselben Band be­stimmt war, aber aus Platzgründen in ihn nicht aufgenommen wurde: „Schat­ten­mo­rellen / ent­zückten mich, als ich heute / durch die graue, nasse Straße / ging, unter den vielen Ge­sich­tern // frisch und klar, mehr als das / Pro­blem des Un­endlichen / kurz vor halb sieben, // Laden­schluß.“

 

Die Tür, die sich da öffnet, lässt auch Leser ein, die sonst keine Lyrik mö­gen. Sie erwartet gelassene, ent­spannte Lektüre, schwebend leicht und unan­gestrengt.  




Werke (Auswahl):

Le Chant du Monde. Gedichte. Olef/Eifel 1964
Die Umarmung. Erzählungen. Köln 1965
Raupenbahn. Erzählungen. Köln 1966
Was fraglich ist wofür. Gedichte. Köln 1967
Keiner weiß mehr. Roman. Köln 1968
Die Piloten. Gedichte. Köln 1968
[Mithrsg.] Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969
[Hrsg.] Silver screen. Neue amerikanische Lyrik. Köln 1969
Gras. Gedichte. Köln 1970
Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek 1975
Rom, Blicke. Reinbek 1979
Eiswasser an der Guadelupe Str. Reinbek 1985
Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Tagebuch. Reinbek 1987
Schnitte. Reinbek 1988
Briefe an Hartmut. Reinbek 1999

Über Rolf Dieter Brinkmann:
Rolf Dieter Brinkmann. München 1981 (Text & Kritik 71)
Sibylle Späth: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989

Rolf Dieter Brinkmann. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Reinbek 1995                   (Literaturmagazin 36, Sonderheft)

Too much – das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Hrsg. von Gunter Geduldig und Marco Sagurna. Vechta 2000

Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. Hrsg. von Gunter Geduldig. Vechta 2000 (Eiswasser I/II 2000)

Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Hrsg. von Gudrun Schulz und Martin Kagel. Vechta 2001


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