es
das Haus meiner ersten Kinderfreundin, das Haus, in dem ich zum Spielen
aus und ein ging, das ich nach meinem Elternhaus am besten kannte.
Irgendwann sagte jemand "Das Bürger-Haus",
Leute von außerhalb kamen, fotografierten es, hielten für
bedeutsam und wichtig, was für mich alltäglich war. Ich fragte die
Erwachsenen meiner nahen Umgebung, man war verlegen, hielt sich mit Erklärungen
zurück, wehrte ab mit "Das verstehst du noch nicht",
es dauerte Jahre, bis man mich für reif genug hielt, mir die ganze
Wahrheit zu sagen.
Anrüchig war das auch nach 200 Jahren und beflügelte noch immer den
Dorfklatsch: Eine Ehe zu dritt habe er hier geführt, der Herr Dichter.
Mit der armen Dorette sei er vor den Augen der Welt verheiratet gewesen,
seine Geliebte aber war Dorettes jüngere Schwester Auguste, von ihm
Molly genannt, die Adressatin unzähliger Liebesgedichte. Ein Kind mit
der Geliebten war da auch, er hat seine Molly zur Geburt zu Verwandten
geschickt, hat alles vor den neugierigen Augen und Ohren verborgen,
vertuscht. So einer war das, der Herr Dichter. Was er gedichtet hat? Na, diese Schauerballade, die
"Lenore". Ach so,
und den "Münchhausen".
So bin ich an Gottfried August Bürger geraten. Über seinen Balladen
und Gedichten lag für meine Augen dichter Pathos - Nebel, der mir den
Zugang zu seinen Versen verschleiert hat. Zeitgeist und Zeitempfinden
hatten in 200 Jahren viele Veränderungen durchlaufen. In Intervallen
interessierte ich mich über die Jahre hin mal mehr, mal weniger für
meinen unruhigen, fernen Nachbarn.
Als ich dann aber doch über das Reclam-Heft "Gedichte. Eine
Auswahl" hinaus war, und je mehr ich Einblick bekam in seine
aufregende, tragische Lebensgeschichte, um so mehr bekam für mich
vieles in seinem Werk Lebendigkeit, Authentizität, Eigenart. Seine
Widersprüche hat er vor sich her getragen, sein Leiden an der Welt hat
er mal wehmütig, mal zornig zur Schau gestellt. Trotzig ist er seinen
selbstgerechten Kritikern gegenübergetreten, hat ihnen seine Empörung
ins Gesicht geschleudert:
Wann über meine Männertugend
Ihr zu Gericht euch niedersetzt,
So hetzt ihr jeden Fehl; ihr hetzt
Herbei sogar den Fehl der Jugend.
Weil euch denn dran gelegen ist,
Dass jeden Quark ihr von mir wisst,
So sei hiermit euch unverhalten:
Die ersten Hosen, die ich trug,
Und vollends gar mein Kindertuch
Hab ich nicht immer rein gehalten.
Folgt man den Funken, die die Widersprüche zwischen Lebensanspruch und
Lebenswirklichkeit im Bürgerschen Leben beleuchten, so kann es
passieren, dass man sich nach 200 Jahren aufs Neue in aufregende Nähe
verwickelt sieht. Pflicht und Neigung – so haben wir das in der Schule
gelernt – ist ein Konflikt, der nicht zu lösen ist. Um zu leben,
konnte auch er sein Brot nicht mit dem verdienen, was ihn im Innersten
umtrieb. Zwölf Jahre lang war er Amtmann des adligen Gerichts deren von
Uslar Gleichen. Zur selben Zeit hat er, begeistert von der französischen
Revolution, Gedichte geschrieben, die Adel und Pfaffen aufs Schafott wünschten.
Da ist das Gedicht
Der Bauer
An seinen durchlauchtigen
Tyrannen:
Wer bist du, Fürst, dass ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad
Zerschlagen darf dein Ross?
Wer bist du, Fürst, dass in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebläut
Darf Klau und Rachen hau n?
Wer bist du, dass, durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? -
Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Ross und Hund und Du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.
Du Fürst hast nicht bei Egg und Pflug,
Hast nicht den Erntetag durchschwitzt.
Mein, mein ist Fleiß und Brot! –
Ha! Du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!
Ein Fanal.
Aber da ist auch anderes. Als ihm im Juli 1782 seine Amtmannsstelle
zuwider ist, schreibt er an Friedrich den Großen:
[...] Ich bin Ew. Majestät
geborener Untertan aus dem Halberstädtischen, wo ich auch noch einige
ererbte Grundstücke besitze. Mein Schicksal hat mich schon vor zehn
Jahren als einen noch sehr jungen Studenten hierher in das Hannöversche
verschlagen, wo ich seitdem ein Justizamt auf dem Lande verwalte. Allein
noch konnte die Zeit meinen Wunsch nicht unterdrücken, in irgendeins
der glücklichen Länder unter Ew. Majestät Szepter zurückzukehren und
dem besten der Könige zu dienen. Ja, er ist so lebhaft, so unruhig,
dass er mich jetzt gerades Wegs vor Höchstdero Thron reißt, um das
Anerbieten fleißiger und getreuer Dienste, soviel deren ich fähig bin,
in demütiger Erwartung allhier niederzulegen.
Die Mächtigen und Großen seiner Welt haben sein Hilferufen
abgewehrt, von Friedrich kam keine Antwort, dem Geheimrat Goethe in
Weimar, der ihn zu Sturm- und Drang- Zeiten als Bruder im Geist an die
Brust gedrückt hatte, ist er am Ende lästig gefallen. Seine
Zerrissenheit war ihm Antrieb zum Schreiben. Sein Leiden an der Welt
scheint ihm Rechtfertigung, sich in seinen persönlichen Beziehungen über
die Konventionen seiner Zeit zu hinwegzusetzen. Wie sehr dabei sein
Lebensanspruch den der ihm nahen Menschen unterdrückt hat, bleibt eine
offene Frage, der die Literaturwissenschaft bisher noch keine Beachtung
geschenkt hat. Gottfried August Bürger hat es nicht vermocht, seine
ungelösten Lebensfragen auf eine höhere Ebene zu verlagern, auch
Pegasus‘ Schwingen haben ihn nicht aus dem irdischen Jammertal tragen
können.
Geboren wurde er in der Sylvesternacht 1747 in dem kleinen Dorf
Molmerswende im Ostharz. Seine Eltern sind der Pfarrer Johann Gottfried
Bürger und seine Frau Gertrude. Zu Hause hat er wenig Anregung. Sein
Vater ist selbstgenügsam und bequem, seine Mutter eine vielleicht
kluge, jedoch verbitterte und jähzornige Frau. Zum Glück nimmt sich
der Großvater mütterlicherseits Jakob Philipp Bauer der Ausbildung und
Erziehung des Jungen an. Von 1759 bis 1760 besucht er die Stadtschule in
Aschersleben und wohnt bei seinem Großvater. Nach drei Jahren auf dem Pädagogium
in Halle beginnt er 1764 ein Theologiestudium an der dortigen Universität.
Die Freundschaft mit Christian Adolph Klotz, dem als leichtlebig
geltenden Professor der Philosophie und Beredsamkeit, erweckt in
Gottfried August Bürger die Neigung zur Literatur und zu eigenen
poetischen Versuchen. Als er sich jedoch an der Gründung einer
verbotenen studentischen Landsmannschaft beteiligt, entzieht ihm Großvater
Bauer die finanzielle Unterstützung und beordert ihn nach Aschersleben
zurück. Erst 1768 gelingt es ihm, den großväterlichen Geldgeber
milder zu stimmen, und noch einmal zieht Gottfried August Bürger zum
Studium in die Welt. An der Georg-August-Universität in Göttingen
beginnt er nun – auf Wunsch des Großvaters – Jura zu studieren.
Doch der Stachel der Literatur sitzt schon zu tief. In Göttingen lernt
er Heinrich Christian Boie kennen und die schwärmerischen jungen Männer
des Göttinger Hainbundes, Hölty, die Brüder Stolberg, Voss, Hahn,
Gotter, Miller. Er korrespondiert mit dem berühmten Gleim in
Halberstadt, veröffentlicht im Göttinger
Musenalmanach. Er beschäftigt sich mit dem Gedanken, Homer und
Shakespeare zu übersetzen. Pflicht und Neigung unterscheiden sich ihm
immer mehr in Jurisprudenz und Literatur.
Nach einer juristischen Probearbeit über einen Kindsmordsfall wird er
1772 als Amtmann des adeligen Gerichts derer von Uslar Gleichen mit Sitz
in Gelliehausen, nahe Göttingen, eingesetzt. Am Anfang ist er von
seiner neuen Aufgabe begeistert, euphorisch schreibt er an einen Freund:
Ich bin in meinem Gericht souveräner
Herr über Leben und Tod, Galgen, Rad, Staupenschlag, Zuchthaus,
Karrenschieben, Halseisen, Spanische Jungfer, Buckel voll Prügel,
Hundeloch, kurz, was ich will, kann ich erkennen [...] Ich habe auch ein
starkes Militär unter meinem Kommando. Eine Armee von 24 Mann
Landmiliz, die auf meinen Wink marschfertig sein müssen, und wodurch
ich meinen Staat in Zaume halte. Und wenn ein Fürst in meinen Grenzen
ein Verbrechen begeht, so lass ich ihn durch meine dienstfertigen
Geister ergreifen und hege mein hochnotpeinliches Halsgericht über ihn.
Doch schon bald sieht er sich vom Regen in die Traufe gekommen.
Bitter beklagt er sich in einem Brief an Gleim:
Mein kleines poetisches Talent
verwelkt bei meiner jetzigen Lage fast ganz, denn der ‚Actum
Gelliehausen’ usw., der ‚In Sachen‘ usw., der ‚Hiermit wird‘
usw. sind gar zu viel. Statt: ‚Ich rühme mir mein Dörfchen hier‘
usw., heißt es: ‚Ihr Ochsen, die ihr alle seid, euch Flegeln geb ich
den Bescheid usw.
In Gelliehausen wohnt er im Haus am Teich, in dem auch ein Amtsvorgänger,
der Hofrat Ernst Ferdinand Listn und seine Frau leben. Die Hofrätin ist
eine kunstsinnige, vereinsamte Frau, die von sich behauptet, im Verkehr
mit der Geisterwelt zu stehen. Sie korrespondiert mit den
Hainbunddichtern Cramer und Boie, und natürlich wird der junge Amtmann
zu ihrem Vertrauten. Im Haus am Teich entsteht im Sommer 1773 die
Ballade „Lenore“:
Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen?“-
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht,
Und hatte nicht geschrieben:
Ob er gesund geblieben.
[…]
Die Zwiesprache mit dem Totenreich, der
schauerliche Ritt durch den Hades trifft den Nerv der Zeit. Sie macht
den Dichter Gottfried August Bürger auf einen Schlag berühmt, verleiht
der Form der Ballade in der deutschen Literatur Rang.
Das Leben im Haus am Teich aber verdunkelt sich. Die Hofrätin wurde gemütskrank
und „verfiel im Herbst desselben Jahres in einen unheilbaren
Irrsinn." Bürger flieht, reitet auf seinem Pferd durch das Tal der
Garte, und findet im Haus seines Amtmannkollegen Johann Carl Leonhart in
Niedeck – Gelliehausen gegenüber – das wirkliche Leben und verläuft
sich darin. Am 22.11.1774 heiratet er Dorette Leonhart, die ältere der
beiden Leonhart-Schwestern, aber schon während er mit ihr vor dem Altar
steht – so versichert er später – merkt er, dass er unsterblich in
die jüngere Schwester, die 16jährige Auguste verliebt ist.
Im September 1775 zieht er mit seiner Frau Dorette und ihrem im Mai
geborenen Töchterchen Antoinette ins nahe gelegene Wöllmarshausen.
„Mein Drecksgässchen“ nennt er den Weltenwinkel, in dem ich – 200
Jahre später – Kind war. Was der Dorfklatsch mir als anrüchig
vermittelte, war in Wirklichkeit vor allem tragisch: Im April 1777
stirbt Bürgers Schwiegervater, der Amtmann Leonhart, Bürger hat
Verantwortung für die Familie seiner Frau zu übernehmen, im Sommer
stirbt das Töchterchen Antoinette, im März 1778 schenkt Dorette der
Tochter Marianne Friederike das Leben. Vermutlich im selben Jahr
entdeckt Dorette das Verhältnis ihres Mannes zu ihrer Schwester. Sie
wehrt sich gegen alle Ratschlage ihrer Verwandten, sich von Bürger zu
trennen. Auch eine von der Familie eingefädelte geographische Trennung
kann die Liebe zwischen „Molly“ und Bürger nicht mindern.
Bürger stöhnt unterdes zunehmend unter den Lasten seiner Amtmannsgeschäfte.
Die literarische Quelle sprudelt nur mäßig. Freund Boie rät zu einer
Reise gegen den Seelenkummer. Statt zu reisen, begeht Gottfried August Bürger
die Dummheit, das Pachtgut des Generals v. Uslar in Appenrode bei Göttingen
zu übernehmen und sich frei nach Rousseau mit dem Leben auf dem Lande
zu versuchen. Molly kehrt zurück, und auf dem Landgut beginnt nun die
Ehe zu dritt. In seiner Lebensbeichte schreibt Bürger: Was
der Eigensinn der Gesetze nicht gestattet haben würde, das glaubten
drey Personen sich selbst gestatten zu dürfen, da die Gesetze, die doch
bloß ihr Glück befördern sollten, sie durch ihren Zwang so höchst
unglücklich machten. Die Angetraute war und blieb nur Weib vor der
Welt, die andere aber war es – nicht ohne jeder Wissen und Genehmigung
– wirklich ins Geheim […]
Er wollte die Fülle des Lebens auskosten, in euphorischen Versen
huldigt er dem Gott der Fruchtbarkeit und der Liebe, doch allzu schnell
und immer wieder begegnet er dem Tod. 1781 führt er als Amtmann die
Untersuchungen gegen Catharina Elisabeth Erdmann, die ihr unehelich
geborenes Kind in der Garte ertränkt hat. Schon im folgenden Jahr wird
sein Vernehmungsprotokoll in juristischen Vorlesungen an der Universität
Göttingen als mustergültig zitiert. Ich lese es gut 200 Jahre später
und bin elektrisiert. Das Protokoll ist ein Dokument über die Zeit
hinweg, wie man es selten findet. Es setzt mich auf die Spur, dem
Geschehen nachzugehen, es bringt mich dazu, mir das Leben eines Menschen
vorzustellen, der, bis ins Letzte hinein, von anderen Menschen
ausgenutzt wurde. Fiktion und Dokument verquicken sich, nach dreijähriger
Recherchearbeit erscheint 1982 mein Buch „Vermutungen über ein
argloses Leben“. Ich verdanke es meinem Nachbarn Gottfried August Bürger.
Er ist mein Haupt- Gewährsmann. Ich habe sein Protokoll verglichen mit
andern Vernehmungsprotokollen ähnlicher Fälle in jener Zeit. Er fragt
anders, einfühlsamer als seine juristischen Kollegen. Er hat Grund dafür:
Sein Verhältnis zu Molly wird immer intensiver, die Ketten der
Konventionen sind längst gesprengt, was aber vor den Augen der Welt ängstlich
verborgen wird. Ein Jahr später schickt er seine Geliebte zur Geburt
ihres ersten Kindes zu Verwandten weit weg, hält geheim, was er geheim
halten kann. In Gedichten jedoch feiert er seine glühende Liebe zu
Molly.
Das
frohe, unbeschwerte Leben auf dem Lande war ein Literaten-Irrtum, der
Amtmann, der schon längst seines Amtes überdrüssig ist, zieht sich
nach Gelliehausen zurück. Dort stirbt seine Frau Dorette nach der
Geburt des dritten Kindes. Auch das Neugeborene, wieder ein Mädchen, überlebt
die Mutter nur um zwei Wochen. Ein Jahr später heiratet Gottfried
August Bürger endlich die „Geliebte seines Herzens.“ Molly ist im
dritten Monat schwanger. Er gibt endlich seine Amtmannsstelle auf, zieht
mit Molly nach Göttingen, folgt Goethes Rat, sich an einer nahen
Universität zu verdingen, bekommt eine Anstellung als Honorarprofessor,
hält Vorlesungen über Ästhetik, deutsche Sprache, deutschen Stil und
Philosophie an der Georgia Augusta und wohnt im Haus seines Verlegers
Dieterich. Alles soll nun gut werden, das Leben in neuen, geordneten
Bahnen fließen. Da stirbt auch Molly nach der Geburt ihres Kindes.
Auch das muss er ertragen, das neue Leben allein bestreiten. Statt ländlichem
Klatsch sieht er sich nun städtischem Dünkel gegenüber. Als Literat
hat er gegenüber den ordentlichen Professoren an der Uni einen schweren
Stand. Volkstümlich will er als Dichter sein, verständlich und den
einfachen Leuten nah. Er beschreibt es in seiner theoretischen Schrift
„Aus Daniel Wunderlichs Buch“. Damit bleibt er den Akademikern
fremd. Nie hat er sich zur Autorenschaft dessen bekannt, was sich als
das Populärste von ihm erweisen sollte, was auch über die Zeiten
geblieben ist: "Münchhausen. Die Wunderbare Reisen zu Wasser und
zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen,
sie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen
pflegt" wurde 1785 zum erstenmal von Rudolf Erich Raspe anonym in
England herausgegeben. Es sind Jagd- und Reiseabenteuer des legendären
„Lügenbarons“ Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen aus
Bodenwerder an der Weser. Bürger hat die Raspeschen Geschichten übersetzt,
sprachlich nuanciert, eigene Geschichten dazuerfunden. Dass auch er als
Autor anonym bleiben wollte, mag nicht nur mit der Furcht vor dem über
die Geschichten gar nicht erfreuten Baron Münchhausen zusammenhängen,
sondern auch damit, dass die Junker-Geschichten zwar volkstümlich
waren, Bürgers sozialkritischem Weltbild aber entgegen standen. Doch
auf der Kanonenkugel reiten, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen
– im wirklichen Leben hätte er das gern gekonnt.
Getroffen hat ihn Schillers grundsätzlich ablehnende Kritik, die dieser
1791 anonym in der „Allgemeinen-Literatur-Zeitung“ veröffentlichte.
Mit dem Werk wird da auch der Mensch verurteilt. Die Sturm- und Drang
– Zeiten sind passé. Gemessen an der nun von Schiller geforderten
Idealität der Literatur erscheinen diesem die Bürgerschen Balladen und
Gedichte grob und viel zu sehr ins Leben verwickelt. Schiller vermengt
ästhetische und moralische Kriterien und bescheinigt dem Menschen Bürger
einen fragwürdigen Charakter.
Auch mit dem anderen ganz Großen der deutschen Literatur kommt es zum
Zerwürfnis. Goethe hatte im Februar 1774 selbst den Briefwechsel mit Bürger
eröffnet, hatte ihm seinen „Götz“ geschickt, hatte Bürger eine
Shakespeare-Übersetzung angetragen, Geld für dieses Unternehmen
gesammelt und es Bürger geschickt, sich aber seinem Drängen gegenüber,
ihm am Weimarer Hof eine angemessene Anstellung zu verschaffen,
reserviert gezeigt. Als Bürger schließlich 1789 Goethe in Weimar
aufsucht, lässt der Herr Geheimrat ihn lange warten, und als er ihn
vorlässt, erkundigt er sich nur kühl und distanziert nach dem Wetter
in der Universitätsstadt Göttingen. Verbittert und erbost schreibt
Gottfried August Bürger über diese Begegnung:
Mich drängt‘ es in ein Haus zu
gehen,
Drin wohnt ein Künstler und Minister.
Den edlen Künstler wollt‘ ich sehn,
Und nicht das Alltagsstück Minister.
Doch steif und kalt blieb der Minister
Vor meinem trauten Künstler stehn,
Und vor dem hölzernen Minister
Kriegt‘ ich den Künstler nicht zu sehn.
Hol‘ ihn der Kuckuck und sein Küster!
Im Herbst desselben Jahres 1789 wird Bürger
ein Exemplar der Wochenschrift „Beobachter“ aus Stuttgart
zugeschickt. Darin findet sich ein zwölfstrophiges Gedicht einer Frau
in der Manie Bürgers, ein Heiratsantrag, natürlich anonym. Bürger
zieht Erkundigungen ein, reist inkognito nach Stuttgart, heiratet
„sein Schwabenmädchen“, die Schauspielerin Elise Hahn. Doch wieder
endet, was so romantisch und wunderbar unvernünftig begann, in einer
Katastrophe. Ein Sohn wird geboren, aber der alt gewordene Dichter und
die junge, lebenslustige Frau werden zum Gespött der Göttinger
akademischen Welt. Sie betrügt ihn, er lässt sich scheiden.
Von der Welt verlassen und verarmt stirbt Gottfried August Bürger am 8.
Juni 1794 an der Auszehrung. Georg Christoph Lichtenberg, der Weltweise,
Göttinger Nachbar zu Bürgers Zeit, schreibt: "Der gute Bürger
ist mir in diesen Tagen wenig aus dem Sinn gekommen. Ich habe sein Begräbnis
durch das Perspektiv mit angesehen. Als ich den Leichenwagen mit einer
Art Anlauf durch das Kirchhofstor rollen sah, so hätte nicht viel
gefehlt, ich hätte laut aufgeweint. Das Abnehmen vom Wagen konnte ich
unmöglich mit ansehen, und ich mußte mich entfernen. Es begleitete ihn
niemand als Professor Althof mit farbigem Kleide, Dr. Jäger und des
Verstorbenen armer Knabe."

Werke:
Gottfried August Bürger: Gedichte. Hg. Von Arnold E. Berger.
Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Leipzig, Wien (1891).
(Meyers Klassiker-Ausgaben).
Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer
Einleitung und Anmerkungen hg. Von Wolfgang von Wurzbach. Leipzig (1902.
1924).
Gottfried August Bürger: Gedichte in zwei Teilen. Hg. Und mit
Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Consentius. Berlin u.a.
(1909). (Goldene Klassiker-Bibliothek). Kritisch durchgesehene und erläuterte
Ausgabe. Ebd. (1914).
Gottfried August Bürger: Werke in einem Band. Ausgewählt und
eingeleitet von Lore Kaim und Siegfried Streller. Weimar 1956.
(Bibliothek deutscher Klassiker).
Gottfried August Bürger: Werke und Briefe. Auswahl. Hg. Von Wolfgang
Friedrich. Leipzig 1958.
Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke. Hg. Von Günter und Hiltrud
Häntzschel. München und Wien 1987.
Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur
Literaturgeschichte seiner Zeit. Aus dem Nachlasse Bürgers und anderen,
meist handschriftlichen Quellen hg. Von Adolf Strothmann. 4 Bde. Berlin.
Reprint Bern 1970.
Gottfried August Bürger und Johann Christian Dietrich. Briefwechsel.
Hg. Von Erich Ebstein. Leipzig 1910. (Gesellschaft der Münchner
Bibliophilen.
Gottfried August Bürger und Philippine Gatterer. Ein Briefwechsel aus Göttingens
empfindsamer Zeit. Hg. Von Erich Ebstein. Leipzig 1921.
Bürgers Liebe. Dokumente zu Elise Hahns und G.A. Bürgers unglücklichem
Versuch, eine Ehe zu führen. Hg. Und mit einem Nachwort versehen von
Hermann Kinder. Frankfurt 1981 (Neuausg. Göttingen 1999).
Mein scharmantes Geldmännchen. Gottfried August Bürgers Briefwechsel
mit seinem Verleger Dietrich. Hg. Von Ulrich Joost. Göttingen 1988.
Über Gottfried August Bürger:
Herbert Günther, Vermutungen über ein argloses Leben. Der
Kindsmordsfall Catharina Elisabeth Erdmann. Mit einem Protokoll von
Gottfried August Bürger, 1781. Göttingen 1997.
Günter Häntzschel, Gottfried August Bürger. München 1988.
Helmut Scherer, Gottfried August Bürger. Eine Biographie.
Berlin 1995.
Zur
Auswahl
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