Dirk Dasenbrock

 "Doctor Schein und Doctor Sinn"

Ferdinand Hardekopf

Geboren am 15. Dezember 1876 in Varel, 
gestorben am 26. März 1954 in Zürich

Im Jahr 1976 erschien im Berliner Wagenbach-Verlag ein kleines Taschenbuch: „131 expressionistische Gedichte“, und darin stand ein Gedicht, so hemmungslos kopf-lastig und zugleich sturz-sinnlich, wie es lange nicht zu lesen war – „Doctor Schein und Doctor Sinn“ – und das ging so:


Doctor Schein und Doctor Sinn
Gingen ins Café;
Schein bestellte Doppel-Gin,
Sinn bestellte Tee.

Seitlich von dem Plauderzweck
Nahmen sie dabei:
Schein – verlognes Schaumgebäck:
Sinn – verlornes Ei.

Dialog ward Zaubertext,
Nekromantenspiel;
Zwieseits wurde hingehext,
Was dem Geist gefiel,

Was dem Sinn Erscheinung schien,
Was der Schein ersann.
Schein gab Sinn, und dieser ihn,
Und die Zeit verrann.

Und die Stunde kam herein
Leis’ des Dämmerlichts.
Sein verging zu Lampenschein,
Sinn verging zu nichts.

Welch ein Gedicht! Ein Ritt über den Wörtersee. Und der Verfasser? Ferdinand Hardekopf – kein Künstlername, der Mann hieß wirklich so. Nie gehört. Wer war das?

Geboren wurde dieser Ferdinand Hardekopf genau 100 Jahre vor der Wieder-Erscheinung seines Gedichts, in Varel, am 15. Dezember 1876. Hardekopfs Heimatort war in seiner Kindheit eine 4000-Seelen-Gemeinde, Pierers Konservations-Lexikon weiß über Varel: "an der preuß. Staatsbahn Oldenburg=Wilhelmshaven, 13 m ü. M.; Amtsgericht, Hauptzollamt, evangel. u. kathol. Kirche, Real= u. Landwirtschaftsschule, Eisengießerei, Weberei, chem. Dünger, Maschinen, Tabak, Dampfsägemühle, meist evangel."

Der offenbar begabte Schüler Hardekopf kam mit zehn Jahren auf das Oldenburger „Großherzogliche Gymnasium“. Nach der Schule folgte eine kaufmännische Ausbildung. Davon bleibend war die Beherrschung der Stenographie. Denn Hardekopf ging nach Berlin und wurde Reichstagsstenograph. Künstlerisch ambitioniert, besuchte er in dieser Zeit die Café- und Redaktionsstuben der Literaturzeitschriften öfter als den Reichstag. Er avancierte schnell zu einem gefragten Kritiker, zunächst vor allem als Varieté- und Theaterrezensent in dem Wochenblatt „Die Schaubühne“. Von 1906 bis 1912 veröffentliche Hardekopf rund 50 Beiträge in der Zeitschrift.

Hardekopf erkannte schon sehr früh, nahezu hellseherisch, die kommende Bedeutung der „Kinematographie“, des Films als Kunstform – und forderte sogleich eine dieser Kunstform adäquate Kritik. So schrieb er 1910 in den „Münchner Neuesten Nachrichten“: „In der Tat: wo immer ein Kinema-Theater kunst- und genußvoll genug für den (mit Recht) verwöhnten Leib eines Rezensenten ist und wo es literarische Ansprüche erheben darf: warum sollten seine Premieren nicht Gegenstand kritischer und ästhetischer Betrachtungen sein.“ Eine eigenständige Kino-Kritik, die ihren Namen verdiente, sollte es aber in Deutschland und anderswo erst mehr als zehn Jahre später geben.

Von 1911 bis 1916 gehört Hardekopf zum inneren Zirkel der „Aktion“ – einem Wochenblatt für Politik, Literatur und Kunst, das eines der wichtigsten Plattformen für den deutschen Expressionismus war. Er selbst publizierte kaum – insgesamt nur drei kleine Bücher, die ersten beiden in der exklusiven Reihe der „Aktion“. Aber er war eine markante Figur in der schillernden Kunstszene des deutschen Expessionismus, bekannt und befreundet mit Maximilian Harden, Hans Pfemfert, Kurt Hiller, Ludwig Rubiner und René Schickele, Schlüsselfiguren der Szene.

Schon vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, war Hardekopf gemeinsam mit vielen Gesinnungsgenossen entschiedener Kriegsgegner. Offenbar war er immun gegen jede, ihm gerade im Reichstag begegnende martialische Kriegsrhetorik. Er ging dann 1916, wie viele Künstler aus seinem Umfeld, ins Exil, über kurze Umwege in die Schweiz, nach Zürich, wo er viele Anti-Kriegskampfgefährten wiedertraf. Das Schicksal all dieser Exilanten hatte zumindest eines immer gemein: große materielle Not. Trotzdem verließ Hardekopf erst 1921 seinen Schweizer Freundeskreis und ging wieder zurück nach Berlin, in ein jetzt demokratisch legitimiertes Deutschland. Dort gründete er das Kabarett „Größenwahn“. Aber er fand sich in diesem „neuen“ Berlin nicht mehr zurecht und zog – nun endgültig – in die Schweiz, zu Freunden in den Tessin. Eine Person nahm er mit: Sita Staub, geborene Levien, eine in Deutschlands Metropole gefeierte Schauspielerin. Sie blieb seine Frau bis zu seinem Tod.

Was der Dichter in diesen Jahren an kleinen Prosastücken und Gedichten schreibt, erscheint bei Max Rychner in dessen „Neuer Schweizer Rundschau“. Längere Reisen unternimmt das Ehepaar nach Frankreich. Der Dichter beginnt, die Arbeiten von André Gide und vieler anderer französischer Autoren gültig ins Deutsche zu übertragen. Das Land wird zu Hardekopfs zweiter geistigen Heimat. Dort hält sich das Paar auch beim Beginn des „Dritten Reichs“ auf. Fast sofort werden beide zu „Staatenlosen“ erklärt. Von dort schreibt Hardekopf gegen die Barbarisierung seines Heimatlandes an. Er publiziert unter anderem im „Pariser Tageblatt“, einer Zeitschrift deutscher Emigranten, in diversen Schweizer Zeitungen und in der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung“ in Amsterdam – Polemiken, Essays und auch Übersetzungen großer französischer Autoren. In all diesen Jahren führt das Paar ein immer gefährdetes, materiell um das Allernötigste kreisende Leben.

Bereits 1933 verbietet Hardekopf es den deutschen Verlagen kategorisch, seine Übersetzungen weiter zu drucken. Seine Haltung ist – eigentlich – einfach: Mit diesem Deutschland will er buchstäblich gar nichts zu tun haben. Aber die Schergen des „Dritten Reichs“ mit ihm: Nach der Besetzung Frankreichs werden Hardekopf und seine Frau in einem Konzentrationslager interniert. Dank der Intervention von André Gide entkommt das Paar in den einstweilen noch unbesetzten Süden des Landes. Aber bei diesen Fluchten geht etwas unwiederbringlich verloren: der Koffer mit den Manuskripten zu Ferdinand Hardekopfs Lebenswerk, der umfangreichen Arbeit „Die Dekadenz der deutschen Sprache“.

Bei Kriegsende ist das Paar wieder in der Schweiz. Aber trotz aller Katastrophen, trotz Hunger, Armut und aller Existenzängsten, weigert sich Ferdinand Hardekopf, wider die eigenen materiellen Interessen, seine Staatenlosenpapiere gegen einen neuen deutschen Paß einzutauschen. Deutschland war seine Heimat, aber noch mehr das Land, das die Barbarei über Europa brachte. Er blieb, ein alter, kranker und mittelloser Mann, in der Schweiz. Und starb dort am 24. März 1954 im Zürcher Kantonsspital. Noch im selben Jahr folgte ihm seine Frau in den Tod.

Der Dichter Ferdinand Hardekopf war vor dem Ersten Weltkrieg ein wichtiger Wegbegleiter des Frühexpressionismus. Doch blieb er immer ein Einzelgänger. Er veröffentlichte zu Lebzeiten nur drei kleine Bücher. Sie hießen: „Der Abend“, „Lesestücke“ und „Privatgedichte“. „Privatgedichte“ – wer so einen Titel wählt, darf sich fast nicht wundern, daß er in den lärmenden, eitlen, ruhmgierigen Instanzen des deutschen Literaturbetriebs in baldigste Vergessenheit gerät. Aber noch heute, 50 Jahre nach seinem Tod, wirken seine besten Stücke frisch, sinnträchtig und grobsinnlich.

Nicht zu vergessen der Übersetzer Hardekopf. Er vermochte es, im Namen des Autors dasselbe Buch in deutsch neu zu schreiben. Literatur zu übersetzen, ist ungeheuer schwer und ein bißchen Schwund ist immer. Aber Hardekopf brachte fast alles herüber: den Rhythmus, die Klangfarben, die Ober-, Unter- und Zwischentöne des Originals. Er hat über 30 Hauptwerke französischer Prosa übertragen, von Jean Cocteau bis André Gide. Thomas Mann schrieb über diese bemerkenswerte Leistung: „Unbedingt verdient die Übersetzung Hardekopf ein Wort des Lobes. Sie ist vorzüglich, exakt und anschmiegsam. Hardekopf ist, glaube ich, unser bester Übersetzer aus dem Französischen.“

Den Dichter Hardekopf kann man heute lange suchen. Von ihm ist kein Buch im Handel lieferbar – null, rien. Dabei gehörte mindestens „Doctor Schein und Doctor Sinn“ in jede gute deutsche Lyrik-Anthologie – sehr passend auch in Schulbücher. Immerhin hat Karl Otto Conrady zwei Hardekopf-Gedichte in seinen „Großen Conrady“, die wichtigste deutsche Gedichtsammlung, aufgenommen. Kurt Tucholsky und Hermann Hesse, zwei höchstgerühmte deutsche Schriftsteller, hatten in ihren Urteilen nicht immer recht. Im Fall Hardekopf schon. Tucholsky schrieb 1922 in der „Weltbühne“ über den Band „Privatgedichte“: „Erstaunlich, was Hardekopf alles aus der deutschen Sprache herausgeholt hat, Elemente, die tief verborgen in ihr liegen, und die man ihr sonst nicht glaubt.“ Und 1934 notierte Hermann Hesse: „Ich halte Hardekopf für einen der feinfühligsten und gewissenhaftesten Stilisten in der jetzigen deutschen Literatur, welche an solchen Köpfen ja recht Mangel leidet.“ Dem ist auch heute kaum etwas hinzuzufügen, außer dem Hinweis vielleicht, daß Ferdinand Hardekopf in der Lage war, seinem eigenen Doppel-Doktoren-Gedicht zu antworten – und das sehr liebevoll:

Die Antwort

In allen meinen Scheingestalten
Bin ich nicht Schein: bin ich enthalten!
Ist starr, was strahlt und weht im Lichte?
Wahr ist nur Wandlung der Gesichte.

Es blieb mein Mund bei deinem Munde.
Zutiefst bewahr‘ ich unsre Stunde,
Und bin geschmiegt in euer Tasten,
O schöne Hände, die mich faßten.



Werke (Auswahl)
„Der Abend. Ein Dialog“. Verlag Die Aktion, Berlin 1913.
„Lesestücke“. Verlag Die Aktion, Berlin 1916.
„Privatgedichte“. Kurt Wolff Verlag, München 1921.
Gesammelte Dichtungen. Hrsg. von E. Moor-Wittenbach. Zürich 1963.


Über Ferdinand Hardekopf:
H. Richter: Dada-Profile. Zürich 1961.

Die einzige neue Kurzbiografie wurde von niedersächsischen Schülern erarbeitet und findet sich im Internet unter
http://www.literaturatlas.de/~la20/werk.htm und http://www.literaturatlas.de/~la20/schulbe.htm

Nachlaßnachweis: http://www.dla-marbach.de/kallias/hyperkuss/h-16.html

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