Doctor Schein und Doctor Sinn
Gingen ins Café;
Schein bestellte Doppel-Gin,
Sinn bestellte Tee.
Seitlich von dem Plauderzweck
Nahmen sie dabei:
Schein – verlognes Schaumgebäck:
Sinn – verlornes Ei.
Dialog ward Zaubertext,
Nekromantenspiel;
Zwieseits wurde hingehext,
Was dem Geist gefiel,
Was dem Sinn Erscheinung schien,
Was der Schein ersann.
Schein gab Sinn, und dieser ihn,
Und die Zeit verrann.
Und die Stunde kam herein
Leis’ des Dämmerlichts.
Sein verging zu Lampenschein,
Sinn verging zu nichts.
Welch
ein Gedicht! Ein Ritt über den Wörtersee. Und der Verfasser? Ferdinand
Hardekopf – kein Künstlername, der Mann hieß wirklich so. Nie gehört.
Wer war das?
Geboren wurde dieser Ferdinand Hardekopf genau 100 Jahre vor der
Wieder-Erscheinung seines Gedichts, in Varel, am 15. Dezember 1876.
Hardekopfs Heimatort war in seiner Kindheit eine 4000-Seelen-Gemeinde,
Pierers Konservations-Lexikon weiß über Varel: "an der preuß.
Staatsbahn Oldenburg=Wilhelmshaven, 13 m ü. M.; Amtsgericht,
Hauptzollamt, evangel. u. kathol. Kirche, Real= u.
Landwirtschaftsschule, Eisengießerei, Weberei, chem. Dünger,
Maschinen, Tabak, Dampfsägemühle, meist evangel."
Der offenbar begabte Schüler Hardekopf kam mit zehn Jahren auf das
Oldenburger „Großherzogliche Gymnasium“. Nach der Schule folgte
eine kaufmännische Ausbildung. Davon bleibend war die Beherrschung der
Stenographie. Denn Hardekopf ging nach Berlin und wurde
Reichstagsstenograph. Künstlerisch ambitioniert, besuchte er in dieser
Zeit die Café- und Redaktionsstuben der Literaturzeitschriften öfter
als den Reichstag. Er avancierte schnell zu einem gefragten Kritiker,
zunächst vor allem als Varieté- und Theaterrezensent in dem
Wochenblatt „Die Schaubühne“. Von 1906 bis 1912 veröffentliche
Hardekopf rund 50 Beiträge in der Zeitschrift.
Hardekopf erkannte schon sehr früh, nahezu hellseherisch, die kommende
Bedeutung der „Kinematographie“, des Films als Kunstform – und
forderte sogleich eine dieser Kunstform adäquate Kritik. So schrieb er
1910 in den „Münchner Neuesten Nachrichten“: „In der Tat: wo
immer ein Kinema-Theater kunst- und genußvoll genug für den (mit
Recht) verwöhnten Leib eines Rezensenten ist und wo es literarische
Ansprüche erheben darf: warum sollten seine Premieren nicht Gegenstand
kritischer und ästhetischer Betrachtungen sein.“ Eine eigenständige
Kino-Kritik, die ihren Namen verdiente, sollte es aber in Deutschland
und anderswo erst mehr als zehn Jahre später geben.
Von 1911 bis 1916 gehört Hardekopf zum inneren Zirkel der „Aktion“
– einem Wochenblatt für Politik, Literatur und Kunst, das eines der
wichtigsten Plattformen für den deutschen Expressionismus war. Er
selbst publizierte kaum – insgesamt nur drei kleine Bücher, die
ersten beiden in der exklusiven Reihe der „Aktion“. Aber er war eine
markante Figur in der schillernden Kunstszene des deutschen
Expessionismus, bekannt und befreundet mit Maximilian Harden, Hans
Pfemfert, Kurt Hiller, Ludwig Rubiner und René Schickele, Schlüsselfiguren
der Szene.
Schon vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts, war Hardekopf gemeinsam mit vielen Gesinnungsgenossen
entschiedener Kriegsgegner. Offenbar war er immun gegen jede, ihm gerade
im Reichstag begegnende martialische Kriegsrhetorik. Er ging dann 1916,
wie viele Künstler aus seinem Umfeld, ins Exil, über kurze Umwege in
die Schweiz, nach Zürich, wo er viele Anti-Kriegskampfgefährten
wiedertraf. Das Schicksal all dieser Exilanten hatte zumindest eines
immer gemein: große materielle Not. Trotzdem verließ Hardekopf erst
1921 seinen Schweizer Freundeskreis und ging wieder zurück nach Berlin,
in ein jetzt demokratisch legitimiertes Deutschland. Dort gründete er
das Kabarett „Größenwahn“. Aber er fand sich in diesem „neuen“
Berlin nicht mehr zurecht und zog – nun endgültig – in die Schweiz,
zu Freunden in den Tessin. Eine Person nahm er mit: Sita Staub, geborene
Levien, eine in Deutschlands Metropole gefeierte Schauspielerin. Sie
blieb seine Frau bis zu seinem Tod.
Was der Dichter in diesen Jahren an kleinen Prosastücken und Gedichten
schreibt, erscheint bei Max Rychner in dessen „Neuer Schweizer
Rundschau“. Längere Reisen unternimmt das Ehepaar nach Frankreich.
Der Dichter beginnt, die Arbeiten von André Gide und vieler anderer
französischer Autoren gültig ins Deutsche zu übertragen. Das Land
wird zu Hardekopfs zweiter geistigen Heimat. Dort hält sich das Paar
auch beim Beginn des „Dritten Reichs“ auf. Fast sofort werden beide
zu „Staatenlosen“ erklärt. Von dort schreibt Hardekopf gegen die
Barbarisierung seines Heimatlandes an. Er publiziert unter anderem im
„Pariser Tageblatt“, einer Zeitschrift deutscher Emigranten, in
diversen Schweizer Zeitungen und in der von Klaus Mann herausgegebenen
Zeitschrift „Die Sammlung“ in Amsterdam – Polemiken, Essays und
auch Übersetzungen großer französischer Autoren. In all diesen Jahren
führt das Paar ein immer gefährdetes, materiell um das Allernötigste
kreisende Leben.
Bereits 1933 verbietet Hardekopf es den deutschen Verlagen kategorisch,
seine Übersetzungen weiter zu drucken. Seine Haltung ist – eigentlich
– einfach: Mit diesem Deutschland will er buchstäblich gar nichts zu
tun haben. Aber die Schergen des „Dritten Reichs“ mit ihm: Nach der
Besetzung Frankreichs werden Hardekopf und seine Frau in einem
Konzentrationslager interniert. Dank der Intervention von André Gide
entkommt das Paar in den einstweilen noch unbesetzten Süden des Landes.
Aber bei diesen Fluchten geht etwas unwiederbringlich verloren: der
Koffer mit den Manuskripten zu Ferdinand Hardekopfs Lebenswerk, der
umfangreichen Arbeit „Die Dekadenz der deutschen Sprache“.
Bei Kriegsende ist das Paar wieder in der Schweiz. Aber trotz aller
Katastrophen, trotz Hunger, Armut und aller Existenzängsten, weigert
sich Ferdinand Hardekopf, wider die eigenen materiellen Interessen,
seine Staatenlosenpapiere gegen einen neuen deutschen Paß
einzutauschen. Deutschland war seine Heimat, aber noch mehr das Land,
das die Barbarei über Europa brachte. Er blieb, ein alter, kranker und
mittelloser Mann, in der Schweiz. Und starb dort am 24. März 1954 im Zürcher
Kantonsspital. Noch im selben Jahr folgte ihm seine Frau in den Tod.
Der Dichter Ferdinand Hardekopf war vor dem Ersten Weltkrieg ein
wichtiger Wegbegleiter des Frühexpressionismus. Doch blieb er immer ein
Einzelgänger. Er veröffentlichte zu Lebzeiten nur drei kleine Bücher.
Sie hießen: „Der Abend“, „Lesestücke“ und
„Privatgedichte“. „Privatgedichte“ – wer so einen Titel wählt,
darf sich fast nicht wundern, daß er in den lärmenden, eitlen,
ruhmgierigen Instanzen des deutschen Literaturbetriebs in baldigste
Vergessenheit gerät. Aber noch heute, 50 Jahre nach seinem Tod, wirken
seine besten Stücke frisch, sinnträchtig und grobsinnlich.
Nicht zu vergessen der Übersetzer Hardekopf. Er vermochte es, im Namen
des Autors dasselbe Buch in deutsch neu zu schreiben. Literatur zu übersetzen,
ist ungeheuer schwer und ein bißchen Schwund ist immer. Aber Hardekopf
brachte fast alles herüber: den Rhythmus, die Klangfarben, die Ober-,
Unter- und Zwischentöne des Originals. Er hat über 30 Hauptwerke französischer
Prosa übertragen, von Jean Cocteau bis André Gide. Thomas Mann schrieb
über diese bemerkenswerte Leistung: „Unbedingt verdient die Übersetzung
Hardekopf ein Wort des Lobes. Sie ist vorzüglich, exakt und
anschmiegsam. Hardekopf ist, glaube ich, unser bester Übersetzer aus
dem Französischen.“
Den Dichter Hardekopf kann man heute lange suchen. Von ihm ist kein Buch
im Handel lieferbar – null, rien. Dabei gehörte mindestens „Doctor
Schein und Doctor Sinn“ in jede gute deutsche Lyrik-Anthologie –
sehr passend auch in Schulbücher. Immerhin hat Karl Otto Conrady zwei
Hardekopf-Gedichte in seinen „Großen Conrady“, die wichtigste
deutsche Gedichtsammlung, aufgenommen. Kurt Tucholsky und Hermann Hesse,
zwei höchstgerühmte deutsche Schriftsteller, hatten in ihren Urteilen
nicht immer recht. Im Fall Hardekopf schon. Tucholsky schrieb 1922 in
der „Weltbühne“ über den Band „Privatgedichte“:
„Erstaunlich, was Hardekopf alles aus der deutschen Sprache
herausgeholt hat, Elemente, die tief verborgen in ihr liegen, und die
man ihr sonst nicht glaubt.“ Und 1934 notierte Hermann Hesse: „Ich
halte Hardekopf für einen der feinfühligsten und gewissenhaftesten
Stilisten in der jetzigen deutschen Literatur, welche an solchen Köpfen
ja recht Mangel leidet.“ Dem ist auch heute kaum etwas hinzuzufügen,
außer dem Hinweis vielleicht, daß Ferdinand Hardekopf in der Lage war,
seinem eigenen Doppel-Doktoren-Gedicht zu antworten – und das sehr
liebevoll:
Die Antwort
In allen meinen Scheingestalten
Bin ich nicht Schein: bin ich enthalten!
Ist starr, was strahlt und weht im Lichte?
Wahr ist nur Wandlung der Gesichte.
Es blieb mein Mund bei deinem Munde.
Zutiefst bewahr‘ ich unsre Stunde,
Und bin geschmiegt in euer Tasten,
O schöne Hände, die mich faßten.
Werke (Auswahl)
„Der Abend. Ein Dialog“. Verlag Die Aktion, Berlin 1913.
„Lesestücke“. Verlag Die Aktion, Berlin 1916.
„Privatgedichte“. Kurt Wolff Verlag, München 1921.
Gesammelte Dichtungen. Hrsg. von E. Moor-Wittenbach. Zürich 1963.
Über Ferdinand Hardekopf:
H. Richter: Dada-Profile. Zürich 1961.
Die einzige neue Kurzbiografie wurde von niedersächsischen Schülern
erarbeitet und findet sich im Internet unter
http://www.literaturatlas.de/~la20/werk.htm
und http://www.literaturatlas.de/~la20/schulbe.htm
Nachlaßnachweis: http://www.dla-marbach.de/kallias/hyperkuss/h-16.html
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