Klaus Seehafer

 "Wo kein Sinn mehr mißt / waltet erst der Sinn"

 

Manfred Hausmann

Geboren am 10. September 1898 in in Kassel, 
gestorben am 6. August 1986 in Bremen


Dies eine Mal teilten mein Vater und ich eine literarische Vorliebe: Manfred Hausmann lasen wir beide mit Begeisterung, und die Schnittmenge der Werke, die wir schätzten, umfasste immerhin die Landstreicher-Romane "Lampioon" und "Salut gen Himmel", natürlich "Abel mit der Mundharmonika", auch das Reisebuch "Kleine Liebe zu Amerika" und alle frühen Erzählungen. Als Hausmann 80 Jahre alt war und mein Vater 65, erschien "Bis nördlich von Jan Mayen". 

Ich habe diese Sammlung halbautobiografischer Reiseerzählungen nur gelesen, aber mein Vater fuhr in seinem VW bis zum nördlichen Wendekreis, das Buch im Kopf und Herzen.
Längst besaß ich damals meinen eigenen Hausmann, interessierten mich andere Aspekte an ihm. Als ich meine bibliothekarische Diplom-Arbeit über den Eros in seinem Werk schrieb – ein Unterfangen, dass 1971 sicher nicht typisch für einen Studenten war – habe ich alle Romane, Gedichte, Spiele, jede Predigt, jeden Essay gelesen – und verlor die Freude an diesen Büchern dennoch nicht.
"Schreib ihm", empfahl meine Freundin und nachmalige Frau, "immerhin ist er ein Dichter, der noch lebt." So tat ich, und er schrieb zurück, mit einem aufrichtigen Gruß, auch an Ihre kluge Freundin. Es kamen wunderbare Briefe, detailliert, ab und zu mit ein bisschen liebevoller Ironie, wenn er mir geduldig (wie sicher schon vielen Studenten vor mir) einige Selbstverständlichkeiten aus dem Schreibprozess erläuterte, mit Warmherzigkeit anerkennend, wenn ich es getroffen hatte.

Sie haben ganz richtig erkannt, was für eine wichtige Rolle das "Du" in meinen Versuchen spielt. Daraus ergibt sich, daß alles, was ich schreibe, diesen bekenntnishaften Charakter hat. Schreiben ist für mich zugleich ein Bekennen. Damit das Bekennen der Wahrheit möglichst nahe kommt, habe ich die Form der Dichtung gewählt. In der Dichtung spielt das Ungesagte, eine beherrschende Rolle. Und eben im Ungesagten wohnt die Wahrheit. (Brief vom 28. 4.1971)

Das galt für den frühen Hausmann ganz gewiß. In dem Maße freilich, wie sich später neben dem Ungesagten auch das Ausgesprochene behauptete, zog der Dichter Kritik auf sich, bis es ihm im Spätwerk wieder gelang, das Ausgesprochene weitgehend in den Formen des Essays, der Predigt zu halten, der Dichtung aber das Unausgesprochene vorzubehalten. So entstanden noch in den letzten Lebensjahren einige große Erzählungen und zahlreiche formvollendete Gedichte. Aber außer dem Bekennen gab es noch einen zweiten großen Beweggrund, der sich im Gesamtwerk Hausmanns immer wieder und immer schmerzhafter ausdrückt. Schon in einer Tagebuchnotiz vom 30. Januar 1942 (postum veröffentlicht) versucht er sich das klarzumachen:

Warum schafft der Künstler Werke in der Welt der Sinne? Warum teilt er die Werke anderen mit? Warum immer wieder dies Mitteilen, wenn er auch tausendmal erfahren hat, daß auch der gutwilligste Andere das Eigentliche nicht versteht? […] Es ist wohl eine tiefe Sehnsuht in jede Menschenbrust gelegt, nicht allein zu bleiben. Hält die Vergeblichkeit jeder Liebesumarmung uns ab, die Geliebte wieder und wieder sehnsüchtig, einungssüchtig zu umarmen? Nein. Das Werk des Künstlers wird ja in der größten Einsamkeit und tiefsten Verlassenheit erschaffen. "Ach könnte ich doch mit diesem Werk die Einsamkeit durchbrechen, einmal wirklich mit meiner Seele an eine andere rühren!"

Die Vorsicht des Künstlers hat es Hausmann am Ende wohl verwehrt, eine Autobiografie zu schreiben, wiewohl er in der Bundesrepublik einer der beachtetsten Personen des öffentlichen Lebens war, zu Reden aufgefordert, mit Preisen geehrt, ja sogar – was nun wirklich nur den vielschichtigsten Menschen widerfährt – umstritten. Aber es gibt Nachworte, Einschübe, literarische Impromptus, Stellungnahmen, die das subjektive Ich des Autors nicht verschweigen. Ein kleines Selbstbildnis von 1928 ist noch ganz im verspielten Stil des jungen Hausmann geschrieben, der – kombiniert mit einer Gabe zu impressionistischer Welt- und Wirklichkeitsdarstellung – von so großer Wirkung war. Ein Stil, der auch für Tiefes und Trauriges und Bewegendes taugte und den Dingen nicht ihre Tragik nahm, wohl aber vor Sentimentalität bewahrte.

Er trat am 10. September 1898 in Kassel als Erstgeburt ans Licht. Da er blond, blauäugig und langschädelig war, schmückten seine Eltern ihn mit dem nördlichen und zu ungewöhnlichen Taten verpflichtenden Vornamen Manfred. [-] Ungewöhnlich war indessen fürs erste nur seine Lümmelhaftigkeit. Als seine Eltern nach Göttingen übersiedelten, gab es dort zu seinem aufrichtigen Bedauern ein Gymnasium.

Der Lümmel schaffte das Abitur ohne weiteres und veröffentlichte während seiner Schülerzeit sogar schon Gedichte und Prosaskizzen im "Göttinger Tageblatt". Das prägende Erlebnis der damaligen Jahre aber – und hier trifft sich seine Erlebnis-Biografie mit der meines Vaters – war die Jugendbewegung: das Wandern, Sitzen und Singen am Lagerfeuer, das Vorlesen, die Pflege antibürgerlicher Autoren und Ideen. Jäh freilich wurde Hausmanns Jugend durch den Ersten Weltkrieg beendet. 1916 Notreifeprüfung. 1917 Einzug ins Feld. Hunger, Gas, Trommelfeuer, Regen, Vegetieren im Stollen, Schlaf, Schlaf, Schlaf, unglaubliche Roheit, einzigartige Kameradschaft, Waldlager, Tod, Wahnsinn. Er begriff vom Wesen und Sinn des Krieges so gut wie nichts. Ein lebensgieriger Junge von achtzehn Jahren.

Das schrieb er mit 32 Jahren in dem kleinen Selbstbildnis. Und hatte vom Krieg immerhin so viel begriffen, dass er in der damals entstandenen Ballade "Die Leuchtkugel" glaubhaft von den tiefen Skrupeln des Soldaten im Feld erzählen konnte: Was tust du, dacht' ich, was zerstörst du da! / Er ist ein Mensch wie du, er ist dir nah. Ein Rückfall hinter diese tapfer-humanistische Position unterläuft ihm im Nationalsozialismus, als er 1940 – im Aprilheft des "Deutschen Kulturrats" – den Artikel "Sport und Krieg" veröffentlicht. Darin heisst es u.a.: So gesehen kann der Krieg sich geradezu als die Vollendung dessen darstellen, was das tiefste Geheimnis des Sports ausmacht […] Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Sport und Krieg – beide als menschliche Haltung betrachtet – besteht jedenfalls nicht. Der Krieg ist lediglich eine Steigerung des sportlichen, des kämpferischen Lebens ins Äußerste.
Man kann sich bemühen zu verstehen, was Hausmann im Tiefsten meinte. Ein schaler Geschmack bleibt bei diesem Vergleich gleichwohl, wie er auch bei den Bemühungen Ernst Jüngers geblieben ist, in seinen frühen Schriften den "Kampf als inneres Erlebnis" zu verklären. Und einen fatalen Nachgeschmack verursacht dann auch die 1966 mit großem Beifall aufgenommene Festrede Hausmanns zum 60jährigen Jubiläum des Deutschen Fußballbundes. "Spiegel des Lebens" nennt er seine Gedanken über das Fußballspiel. Spiegelten sich ein Vierteljahrhundert zuvor Sport und Krieg, so hier Sport und Menschlichkeit, Ritterlichkeit. Aber dann kommt er auf den Feldverweis zu sprechen und rutscht dabei in eine seltsam abwegige Metaphorik. Da gebe es keine Begnadigung, heißt es, tot ist tot, und alle Beweismittel, die sich für oder gegen die Todesstrafe beibringen ließen, ließen sich auch gegen diese Regel anführen. Wer versucht, das Spiel zu töten, soll selbst "getötet", d.h. aus dem Lebens- und Ordnungsbereich des Spiels entfernt werden. – Indessen war das Heranziehen solcher Bilder wirklich ein Ausrutscher und nicht typisch für den Christen Hausmann. Doch blieb er manchem Leser unverständlich, der noch immer auf den ersten Menschen ohne Widerspruch in sich wartet; der Strick war fest, den man dem Autor daraus gedreht hat.

Der junge Mann zog sich im Ersten Weltkrieg eine Lungen- und Rippenfellentzündung zu, wurde verwundet. Ein Schuß durch den Fußwurzelknochen, vor allem aber die Verätzung der Bronchien durch Gelbkreuzgas sollten ihm lebenslang zu schaffen machen. Dennoch war ihm sein guter Mut nicht vergangen. Er begann an den nicht gerade prallen Brüsten der Alma Mater Georgia Augusta Gottingensis zu saugen, nicht ohne das Maul ob der Bitternis der philosophischen Milch schief zu ziehen. Dies getan, sprang er, so gut sein Fuß es ihm erlaubte, kopfüber in den Sprudel der Münchener Bohème […] Eines Faschings erwarb er aus lauter Übermut das philosophische Doktorhütchen. In seiner Dissertation untersuchte er "Kunstdichtung und Volksdichtung im deutschen Soldatenlied 1914 – 1918". Von Göttingen ging es nach München, dann nach Heidelberg. Im Dezember 1922 heiratete er die Mathematikstudentin Irmgard Schmidt, die er noch in Göttingen kennengelernt hatte. 1924 kamen die Zwillinge Tjark und Wolf auf die Welt, 1930 Bettina und 1936 Martin. Vor allem der Jüngste hatte später unter dem größten Nachkriegserfolg seines Vaters leiden – den in Worpswede angesiedelten autobiografischen Anekdoten um "Martin" (1949), "Isabel" (1953), "Andreas" (1957) – nahmen doch Hunderttausende begeisterter Leser die dort niedergelegten dichterischen Äußerungen allzu unreflektiert für die reine Wahrheit. Und welcher gesetzte Pfarrer läßt sich schon gern über die Jahre hin mit "Ach, Sie sind also der kleine Martin!" begrüßen?
Familienvater war Hausmann ja nun, aber mit dem Sesshaftwerden sollte es noch eine Weile dauern. Er war Privatdozentenaspirant, Dramaturg, arbeitete im Kontor der väterlichen Mikroskop-Fabrik in Göttingen, dann in einer Bremer Übersee-Expedition, schließlich beim Weserkurier.

Er legte die Arbeit bei der Zeitung nieder und landstreicherte im Überschwang der neuen Freiheit so lange durch Deutschland auf und nieder, bis er das Buch "Lampioon" fertig hatte. Lieh sich Geld für ein Haus auf dem Weyerberg in Worpswede und kaufte dazu eine Segeljolle. Ab 1930 erschienen alle seine Hauptwerke bei S. Fischer. Dies erachtete und erachtet der Autor für gleichbedeutend mit einem ruhigen Lebensabend. Sagt er und setzt ein bißchen frivol hinzu: So lebt er so hin. Er lebt sehr gern. Er weiß nicht viel, aber er lebt. Das ist genug. Es sollte nicht genug sein, und die Erkenntnis kam wie ein Überfall. Aber zunächst einmal wurde Manfred Hausmann sehr schnell recht berühmt. Über die wahre Entstehung der beiden Landstreicherromane "Lampioon küßt Mädchen und kleine Birken" (1928) und "Salut gen Himmel" (1930) schrieb er mir in einem seiner Briefe:

Übrigens sind die beiden Bände nicht nacheinander entstanden. Es war so: Ich habe niedergeschrieben, was sich mir gerade anbot. Als erstes, soweit ich mich erinnere, die Geschichte "Salut gen Himmel" und dann diese und jene. Ohne jeden Zusammenhang. Der Gedanke, ein Buch daraus zu machen, ist mir erst gekommen, als schon allerlei Geschichten vorlagen. Ich habe dann als einziges bewußtes Kompositionselement den Ablauf der Jahreszeiten eingeführt. Da ich das ganze Buch aber für den Termin, der mit dem Schünemann-Verlag vertraglich vereinbart war, nicht fertig bekam, habe ich in meiner Not die Geschichten, die jetzt im "Lampioon"-Band stehen, zusammengerafft und abgeliefert. Aus dem Rest und den später fertiggestellten Geschichten wurde dann "Salut gen Himmel". Eigentlich sollte das Ganze also ein einziges Buch werden. Die Verständnislosigkeit des Schünemann-Verlags, die auch der Grund für meinen Bruch mit ihm war, hat mich gezwungen, das Ganze auseinanderzureißen. Bei der lockeren Komposition war das allerdings kein großes Unglück. (17. 3. 1971)

Eine Geschichte, die gleich Dreierlei lehrt: den Leser, dass Bücher oft genug nach gänzlich außerliterarischen Kriterien konstruiert werden und trotzdem gut sein können; den Verleger, dass er seinem Autor gefälligst Zeit lassen soll (denn diese beiden Bücher wurden dann zu Hausmanns ersten Bestsellern); schließlich den Rezensenten, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, wenn er nicht ganz genau weiß, wie die Entstehungsgeschichte eines Buches wirklich war. (Ich glaube, dass auch ich mich damals während meiner Arbeit zunächst kräftig verrannt habe – weshalb sonst hätte mir der Autor die Genesis der Bücher so detailliert auseinandergesetzt?)
Manfred Hausmann hatte Glück mit allem, was er anpackte. "Kleine Liebe zu Amerika" (1931) war noch einmal in der alten Kompositionstechnik locker miteinander verknüpfter Feuilletons und Geschichten geschrieben und wurde ein großer Erfolg. In "Abel mit der Mundharmonika" (1932) zeigt er sich nun auch in der Lage, einen durchstrukturierten Roman schreiben zu können, mit kunstvollem Handlungs- und Spannungsaufbau, geschickt vorausweisender Motivverknüpfung und einer Dialogführung, welche zugleich die Handlung vorantreibt und die Personen charakterisiert. Jeder der vier Jugendlichen wird durch seine Art zu sprechen nicht nur genauestens porträtiert, es werden auch ihre Hoffnungen und Ängste deutlich. Hausmann ist jetzt auf der Höhe seiner bewundernswerten Fähigkeit, durch Andeuten und Aussparen starke Bilder und eindrückliche Stimmungen zu schaffen.

Die nächsten Jahre zeigen ihn in buntem Wechsel als Dramatiker ("Lilofee", 1936), Lyriker ("Jahre des Lebens", 1938; "Alte Musik", 1941) und Essayisten ("Einer muß wachen", 1942; "Vorspiel", 1947). Wie aber zeigten sie ihn als Bürger des dritten deutschen Reiches? Für Arn Strohmeyer ("Der Mitläufer", 1999) liegt der Fall klar: "Manfred Hausmann, der sich nach dem Krieg selbst zur moralischen Autorität erhoben hat, war nicht couragiert genug, sein eigenes Mitläufertum nach 1945 öffentlich zu bekennen." Indessen steckt schon in diesem kurzen Resümmee seiner länglichen Streitschrift zweierlei Mißverständnis: Weder kann man sich selber zur Autorität erheben – allenfalls wird man erhoben – noch hat Hausmann sein Mitläufertum je geleugnet – es sei denn, Strohmeyer besitzt genaue Vorstellungen davon, wie solche Bekenntnisse gefälligst auszusehen haben: in einem Fernsehinterview etwa oder einer Denkschrift? Oder mögen am Ende doch persönliche Gespräche und Geständnisse über die Jahre hin der richtige Weg sein?
Von der schwarz-rot-goldenen Fahne, die Hausmann 1935 ostentativ statt des Hakenkreuzwimpels an seinem Hause hochgezogen hatte, über die Treue, die er seinem jüdischen Verleger hielt bis zu den Ohrfeigen, die er einem uniformierten NS-Angehörigen auf offener Straße versetzte, lassen sich zudem Beispiele aufzählen und mehren, die einen Hausmann zeigen, der sich nicht verbiegen ließ. Der sogar tapferer war, als man es, selber keinem Unrechtsregime ausgesetzt, von anderen verlangen darf.
Der Schriftsteller fand sich publizistischen Hetzparolen ausgesetzt wie jener des umtriebigen  Kurt Ziesel, der 1935 über "Lampioon" schrieb: "Dieser Roman gehört wohl mit zum schmutzigsten und gemeinsten, was […] an erotisch-pornographischer Literatur erschienen ist und von der gesamten Judenpresse einem armen deutschen Volk als große deutsche Dichtung aufgeschwätzt wurde." Auch wurde Hausmann später wegen Wehrkraftzersetzung angezeigt, kam vor ein Kriegsgericht und wurde verurteilt. (Dass die Strafe milde ausfiel, hatte er einzig seinem Richter zu verdanken: Graf Sponeck, der am 22. Juli 1944 erschossen wurde, weil er entgegen Hitlers Anweisung die ihm untergebenen Soldaten durch den Befehl zum Rückzug gerettet hatte.)
Mehr denn je wandte sich Hausmann in jenen Jahren der Geborgenheit zu, die ihm Heimat und Natur zu geben vermochten. Essays wie "Geliebtes Bremen" (1939) und "Geheimnis einer Landschaft – Worpswede" (1940) legen von ersterem Zeugnis ab, die 1990 von Tjark Hausmann aus dem Nachlass herausgegebenen "Worpsweder Kalenderblätter" von letzterem. Diese zwischen 1934 und 1941 entstandenen Aufzeichnungen bemühen sich, scheinbar alltägliche Phänomene der Natur – das Sich-Verändern von Farbnuancen über den Tag hinweg beispielsweise oder der Wandel der Jahreszeiten von Tag zu Tag – mit Geduld, Kenntnisreichtum und einer Präzision zu beschreiben, für die es nur wenige Vergleiche in der Weltliteratur gibt (Vladimir Nabokov, Francis Ponge, Ernst Jünger). Da das Buch, sieht man von einigen unbekannten Martin-Andreas-Isabel-Geschichten ab, so gut wie keine Handlung bietet, blieb es natürlich im Schatten stofflich attraktiverer Werke des Autors. – Aber auch die Natur konnte für Hausmann letztlich keine Rettung mehr bedeuten, ebenso wenig wie für Lampioon und die Beunruhigten und Gequälten seiner frühen Erzählungen. Schon 1932 bekannte er:

Wenn ich sage, daß ich an nichts glaube, so bringe ich das nicht prahlerisch und selbstsicher vor, sondern eher verzweifelt und sehr leise. Ich bin nicht imstande, an irgend etwas zu glauben. […] Vielleicht glaube ich an meinen Unglauben, obgleich nicht einmal das sicher ist. Wenn ich einen Bleistift in der Hand habe und ein Blatt Papier vor mir, dann merke ich, daß ich doch nicht so recht an diesen meinen Unglauben glaube. Ich glaube an nichts, aber nicht an das Nichts.

Dann aber geschah "Der Überfall", wie Hausmann das Phänomen in der gleichnamigen Dialognovelle von 1952 nannte, seine Konfrontation mit dem, was man gern "die letzten Dinge" nennt. Was da über ihn hereinbrach, schien nur noch im Paradox artikulierbar. Wenn es so ist, läßt er den Ich-Erzähler angesichts des von Gott Überfallenen sagen, kann Ihnen niemand zur Seite stehen, Christian. Und wenn Ihnen jemand zur Seite stehen könnte, wäre es nicht so. Auch im Gedicht verwendet Hausmann diese rhetorische Figur:

Nicht einer kann von den Erschaffnen allen,
nicht einer, Gottes je versichert sein.
Nur wenn sie immer wieder aus ihm fallen,
dann fallen sie in ihn hinein.[1]

 

Wo kein Sinn mehr mißt,
waltet erst der Sinn.
Wo kein Weg mehr ist,
ist des Wegs Beginn.[2]


1921 hatte Hausmann in Göttingen einen Gottesdienst besucht, bei dem statt des Gemeindepfarrers der Schweizer Theologe Karl Barth gepredigt hatte. Es kam, daß ich die Kirche nicht wie sonst als ein ethisch Erbauter und theologisch Beruhigter, sondern als ein Aufgewühlter, als ein um und um Gekehrter verließ. 1933 stieß er dann auf Barths Schrift "Theologische Existenz heute", und sie sollte die endgültige Wende im Denken des Dichters einleiten.

Durch Karl Barth kam ich zu Kierkegaard, zu Dostojewski, zur Bibel und noch einmal und immer wieder zur Bibel. Sie hat nicht ihresgleichen auf Erden, weder als Dichtung – dem größten Teil der Menschheit wird diese atemraubende Dichtung freilich vorenthalten -, weder als Dichtung noch als Kunde vom Wesen des Menschen, noch als Offenbarmachung des dreieinigen Gottes. Und dabei bin ich geblieben, denn hier ist gut sein.

1950 hat sich Manfred Hausmann, wie schon so oft in den Jahrzehnten davor, die Frage gestellt, wer er im tiefsten Inneren wirklich sei. Der Tonfall der autobiografischen Notiz ist längst nicht mehr kess wie 1928. Er muß nichts mehr überspielen. Die Antwort wird zum Bekenntnis:

Ich glaube, daß von mir, wenn ich einmal alles abstreife, was ich ererbt, gelernt, nachempfunden oder mir sonstwie angeeignet habe, alles, was ich nicht mir, sondern den Menschen meiner Umgebung, der Umgebung selbst und dem sogenannten Zeitgeist verdanke, ich glaube, daß dann von mir nichts übrigbleibt als ein hilfloses Wesen, das einsam, schuldbewußt und gnadebedürftig vor den richtenden Augen des Ewigen steht, der es erschaffen hat. [-] Der es erschaffen hat. Das ist wichtig. Wie jedem anderen Menschen, so hat er auch mir seinen Odem eingehaucht. Wenn ich wüßte, wer ich zutiefst und zuwahrst bin, wüßte ich auch, wer Gott ist. Oder andersherum gesagt: Da ich nie imstande bin, Gottes Wesenheit zu fassen, kann ich auch nie wissen, wer ich bin. Bis zum Ende der Tage. Dann freilich wird alles anders.

Neben den Dichter tritt immer mehr der christliche Autor Hausmann. Er schreibt Spiele mit religiöser Aussage ("Der dunkle Reigen", 1951; "Hafenbar", 1954; "Der Fischbecker Wandteppich", 1955; "Aufruhr in der Marktkirche", 1957; "Die Zauberin von Buxtehude", 1959). Er schreibt Essays ("Die Entscheidung", 1955; "Tröstliche Zeichen", 1959; "Widerschein der Ewigkeit", 1966; "Hinter den Dingen", 1967; "Kreise um eine Mitte", 1968). Von 1968 bis 1981 ist Hausmann ordinierter Ältestenprediger der evangelisch-reformierten Gemeinde in Rönnebeck-Farge. In dieser Zeit erscheinen seine Predigten ("Wort vom Wort", 1968; "Gottes Ja", 1969; "Das abgründige Geheimnis", 1972; "Nüchternheit", 1975).
Wenn er dichterisch hervortritt, dann vor allem mit Lyrik ("Irrsal der Liebe", 1960) und beeindruckenden Nachdichtungen aus dem Hebräischen, Griechischen, Japanischen, Chinesischen. Bemerkenswert, dass ihm in diesen Jahren und bei vorgerücktem Alter eine Synthese von Geist und Sinnlichkeit gelingt, wie sie in der Lyrik jener Jahre so gut wie gar nicht vorkommt ("Der golddurchwirkte Schleier", 1969; "Altmodische Liebesgedichte", 1975). Fast scheint es, als ob sich der religiöse Existentialist hier ein Refugium geschaffen habe, um seine ganz unverwechselbare und einzigartige Begabung nicht zu verlieren. Mit den Erzählungen ("Was dir nicht angehört", 1956) und Romanen jener Zeit ("Liebende leben von der Vergebung", 1953; "Kleiner Stern im dunklen Strom", 1963) hatte er weniger Glück. Sie klangen schon bei ihrem ersten Erscheinen merkwürdig überholt. Einmal nur – in der Erzählung "Heute noch" von 1962 – erreicht er die grausige Wucht und Eindrücklichkeit von einst.
Mit dem neuen Hausmann konnte der alte Hausverlag S. Fischer lange Jahre nicht mehr viel anfangen. Obwohl er noch immer einen großen Leserkreis besaß, gab es wenige Nachauflagen. Zum 70. Geburtstag 1968 erschienen immerhin Erzählungen ("Unvernunft zu Dritt") und ein Jahr später die "Gedichte um Aphrodite". Erst drei Jahre vor seinem Tod war eine umfassende Ausgabe konzipiert, deren erste Folge 1983 erscheinen konnte. Aber ein anderer, ein religiös orientierter Verlag sprang in den letzten 20 Lebensjahren in die Bresche, brachte Neues heraus und sammelte Altes. Werner Braselmann vom Neukirchener Verlag wurde damals zum ersten Ansprechpartner Hausmanns.

Das anregende, aufregende und fruchtbare Hin und Her zwischen Verleger und Autor, zwischen Autor und Verleger, das ich seit den Tagen des alten Herrn Fischer, Gottfried Bermann Fischers und Peter Suhrkamps nicht mehr gekannt und auch nicht mehr für möglich gehalten hatte, beglückte und beglückt mich ungemein.

Zu einer anderen unverzichtbaren Einnahmequelle wurden die Lichtbildervorträge. Noch in den letzten Lebensjahren vermochte der kreuz und quer durchs Land reisende Autor große Säle mit vielen hundert Besuchern zu füllen, faszinierten seine Bildmeditationen ("Der Mensch vor Gottes Angesicht. Rembrandt-Bilder", 1976) und Reisebeschreibungen ("Welt aus Licht und Eis", 1979). Einmal, so erzählte er mir vor einem solchen Abend, habe er sein Manuskript im Zug verloren und den ganzen Vortrag frei gehalten – Hauptsache, dass ihm die Bilder nicht abhanden gekommen waren! Noch einmal war Manfred Hausmann übrigens umgezogen:

Als ich mich im Jahre 1950 entschloß, dem Künstlerdorf Worpswede den Rücken zu kehren und im Blumenthaler Ortsteil Rönnebeck für meine Familie und mich auf dem Steilufer der Unterweser ein Haus zu bauen, da fragten die Freunde – soweit sie die Gegend noch nicht kannten – warum ich denn gerade diese Stätte gewählt hätte. […] In Blumenthal spüre ich den Atem der See und die Grenzenlosigkeit der Welt. Aber auch zugleich den Duft der Wiesen und Wälder in der freien Landschaft. Ich spüre die Lust der weiten Horizonte und zugleich die Wohltat einer heimatlichen Geborgenheit. Was will ich mehr?!

Am 10. September 1983 vermerkte ein imponierender, immer noch kraftvoll wirkender Greis bei der Feierstunde im Festsaal des Bremer Rathauses anläßlich seines 85. Geburtstages dankbar: Ich bin alt, bin es noch über das biblische Alter hinaus. Ab da hatte er noch drei Jahre Leben, die bis zuletzt mit der Arbeit eines Schriftstellers angefüllt waren.



Werke:
Gesammelte Werke in Einzelausgaben [Band 1 – 20]. Frankfurt am Main: S. Fischer 1983 – 1985.
Manfred Hausmann neu entdeckt. Hrsg. von Ulf Fiedler. Bremen 1998.
Worpsweder Kalenderblätter. Tage, Stunden, Augenblicke. Hrsg. von Tjark Hausmann. Worpswede: Worpsweder Verlag 1990.
 
Über Manfred Hausmann:
Carl Peter Fröhling: Sprache und Stil in den Romanen Manfred Hausmanns. Diss. Bonn 1965.
Manfred Hausmann. Festschrift zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. von Karlheinz Schauder. Frankfurt am Main 1968.
Klaus Seehafer: Der Eros im Werk Manfred Hausmanns. Dipl.-Arbeit. Stuttgart 1971.
Karlheinz Schauder: Manfred Hausmann. Weg u. Werk. 2., erw. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1979.
Arn Strohmeyer: Der Mitläufer. Manfred Hausmann und der Nationalsozialismus. Bremen 1999.
Hans Sarkowicz / Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg, Wien: Europa Verlag 2000. (Darin: Manfred Hausmann.)
Paula von Sydow: "Ich wollte immer das Geld für die Allgemeinheit verwenden". Oldenburg: Isensee Verlag 2000. (Darin: "Ich habe ihn schon auf der Fahrt von Bremen kennengelernt." Edith Ruß und Manfred Hausmann.)

Biobibliographie im Internet: www.litlinks.it/h/hausmann_m.htm


[1] Aus "Verzweifelt und getrost"

[2] Aus "Weg in die Dämmerung"


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