spricht
von Sträuchern, Blumen, Bäumen, von Turnplatz und Schaukel, von
Kinderspielen und schließt: „Mit unzähligen Würzelchen senkten sich
die Erlebnisse des Gartens in unsere Seele, wuchsen fort und trugen Früchte“.
Das Idyll ist aber keineswegs fleckenlos; da ist der „Abort“ hinter dem Haus, den
sie als „unvertilgbaren Schrecken“ beschreibt: „Ich hätte nicht
mehr Angst vor der Hölle haben können [...] Das Grausige mußte in das
tägliche Leben eingeordnet werden, nichts konnte davon befreien.“
An anderer Stelle bekommt das „Grausige“ eine soziale Dimension: Das
Grundstück fiel auf der Rückseite zur Oker ab, „und wenn es im
oberen Garten dämmerte, war es dort unten schon dunkel. Es ergriff
einen dort wohl plötzlich sinnlose Furcht, weil man sich von der
heiteren Welt abgeschnitten fühlte und in ein schauriges Jenseits
starrte.“
Nicht nur, weil die Oker gelb und trübe floss und voller Unrat war,
sondern weil an das gegenüberliegende Ufer ein armseliges und
verrufenes Viertel stieß, „eine verwilderte, unheimliche, Befremden
und Grauen erregende Welt“.
In dieser Gegenüberstellung des „Schönen“ und des „Grausigen“
findet sich in
nuce das Weltbild der Ricarda Huch.
Das “Grausige“, Elend, Krankheit, Gemeinheit, wird als Kontrast
wahrgenommen, der den einzigen Zweck hat, die Leuchtkraft des Schönen
zu verstärken. Schönheit ist Weg und Ziel zugleich.
Ein solches Weltbild kann nur in einer Umgebung entstehen, wo der Alltag
nicht bewältigt werden muss, sondern gefeiert werden kann und die
Menschen die Muße für Selbstinszenierung haben. „In meiner Familie
liebte man das Schöne, umgab man sich gern mit schönen Dingen.“
Ricarda, jüngstes von drei Geschwistern, wuchs mit Büchern und Musik
auf.. Die märchenhafte Kindheit in der abgeschlossenen Gartenwelt, mit
gelegentlichen Ausflügen in das mittelalterlich intakte Braunschweig
der „ehrwürdigen alten Kirchen, deren Gestein im Abendlicht violett
schimmerte“, der „alten Fachwerkhäuser mit ihren Erkern, Giebeln,
Vorkragungen, ihrem phantastischen Zierat“,
ging bruchlos in eine romantisch-schwärmerische Jugend über. Höhere Mädchenschule
und Klavierunterricht, Hausmusik und literarisches Kränzchen, Theater,
Oper, Konzert – eine Wirklichkeit der großen Worte, harmonischen Klänge,
schönen Bilder. Der „Abort“ hinter dem Haus, das niedrige Körperliche,
wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Selbsterfahrung findet unter dem
Gesichtspunkt von „schön“ und „nicht schön“ statt; Ricarda,
ein hübsches Kind, das alle liebten, erlebte, dass ihre Mutter sie
ablehnte, als sie sich in der Pubertät unvorteilhaft veränderte und
sie erst wieder akzeptierte, als sie sich zu einer attraktiven jungen
Frau ausgewachsen hatte. Wirklichkeit ist eine Frage der Bezeichnung;
was schön, edel, groß genannt werden kann, ist
schön, edel, groß - vor allem die Liebe. Für Ricarda stand sehr
früh fest, dass „die Poesie der Kern des Lebens“
sei und sie Dichterin werden würde. Die richtigen Wörter adeln
scheinbar aber auch eine Familie, die in jeder Hinsicht am Abgrund
tanzte. „Ich stammte aus einer Familie, die leidenschaftlich,
leichtsinnig, verschwenderisch, unbekümmert war und, ob reich oder arm,
sich immer auf der Höhe des Lebens fühlte...“
Die Huchs waren Neureiche der Gründerzeitgeneration, Unternehmer,
Erfinder und Abenteurer, die ihr Vermögen bald wieder verloren. Ricarda
war nicht die einzige, die den Schriftstellerberuf wählte, auch ihr
Bruder Rudolf veröffentlichte Romane, und Friedrich Huch, der dem Kreis
um Stefan George in München angehörte, war ein Cousin.
Geadelt von der „wahren“ Liebe, ist Ehebruch nicht Ehebruch, sondern
tragisches Schicksal, Verrat nicht Verrat, sondern schicksalhaftes Pech
des Verratenen, ein Skandal kein Skandal, denn die Außenwelt wird gar
nicht wahrgenommen. Ricarda Huch verließ Braunschweig im Alter von 22
Jahren, weil ihr der Boden zu heiß wurde. Sie war die Geliebte ihres
Cousins ersten Grades Richard Huch, eines Rechtsanwaltes, mit dem ihre fünf
Jahre ältere Schwester Lilly verheiratet war und zwei Kinder hatte. Ein
drittes kam während dieser Affäre hinzu, Käte (die ihre Mutter
zwanzig Jahre später ebenso skrupellos rächen wird, wie die jüngere
Schwester die ältere betrog); selbst das veranlasste Ricarda nicht,
ihre Ansprüche zurückzustecken. In ihren autobiographischen Schriften,
in denen sie ihre Schuld nicht mehr schön zu schreiben versucht, kommt
die von ihr verratene Schwester nicht vor. Eine psychologische
Interpretation würde hier wahrscheinlich fündig.
Die Familie blieb unter sich, hatte wenig Kontakt nach außen. Die fast
inzestuöse Konstellation – Lilly heiratet einen Cousin, Ricarda
verliebt sich in ihren Schwager – war eine Folge dieser
Abgeschlossenheit. Auch das Dreiecksverhältnis wurde als internes Drama
inszeniert. Das Liebespaar, das trickreich Versteck spielte, wurde von
den Angehörigen verdächtigt und belauert, doch zu einem Eclat
scheint es nicht gekommen zu sein. Die Lebensumstände der Familie waren
keineswegs intakt, die Mutter bettlägrig, der Vater monatelang in Südamerika,
wo er an einem Unternehmen beteiligt war, das genau um diese Zeit
bankrott ging. Plötzlich war für das „leichtsinnige,
verschwenderische, unbekümmerte“ Leben kein Geld mehr da. Da Richard
Huch keine Anstalten machte, seine Frau zu verlassen, sah Ricarda sich
schon aus Gründen der Existenzsicherung gezwungen, einen Beruf zu
erlernen. Sie entschloss sich, mit ihrem Anteil aus dem Verkauf des
Elternhauses ein Universitätsstudium zu finanzieren.
1882 ging sie in die
Schweiz, um Geschichte zu studieren. Zürich war zu jener Zeit die
einzige deutschsprachige Universität, die Frauen zum Studium zuließ.
Ricarda wurde durch die Freundschaft mit anderen deutschen
Akademikerinnen zu einer Vertreterin jener ersten Frauengeneration, die
in die Männer-Reviere Wissenschaft und Politik eindrangen. Ihr
Engagement in der Frauenfrage blieb jedoch unpolitisch. Sie hat zu dem
Thema kaum öffentlich Stellung genommen. Im Dezember 1918, mitten in
den Revolutionswirren, veröffentlichte sie einen kuriosen Aufsatz über
das Frauenstimmrecht, in dem sie „die Eingliederung der Dienstmädchen
in die Häuser der bessergestellten Klassen“ als eine Chance für die
„wohlhabenderen Frauen“ bezeichnet, „in steter Verbindung mit den
Frauen aus dem Volke zu bleiben“.
Statt sich für Parteien aufstellen und in Parlamente wählen zu lassen,
empfiehlt sie einen friedlichen Aufstand des nur scheinbar schwachen
Geschlechts : „Möchten sich alle Frauen zusammenschließen, damit
irgendeine Grundlage einhelliger Gesinnung im Volke wäre.“
- Der Schweiz verdankt Ricarda Huch immerhin, dass sie zur überzeugten
„Republikanerin“ wurde, weil sie hier vor Augen hatte, dass
Demokratie nicht zwangsläufig, wie es sich für das deutsche Bürgertum
darstellte, hemmungslose Sozialrevolutionäre an die Macht bringt,
sondern mit solidem bürgerlichem Traditionalismus vereinbar ist.
Ricarda Huch war über alle Maßen fleißig. Ihre Leistung ist in der
Tat erstaunlich, wenn man bedenkt, wie ungesichert ihr Leben war. In
einem Jahr ununterbrochenen Lernens holte sie die Hochschulreife nach.
1891 erwarb sie als erste Frau in der Schweiz das Diplom für das Höhere
Lehramt mit der Gesamtnote Eins. Zwei Tage später wurde sie mit einer
Arbeit über „Die Neutralität der Schweiz im Spanischen
Erbfolgekrieg“ promoviert. Das Berufsziel Schriftstellerin war nur
aufgeschoben, nicht aufgehoben. Während ihres Studiums hatte sie
Gedichte und Prosa unter einem männlichen Pseudonym veröffentlich.
Aber auch ein anderes Ziel verfolgte sie hartnäckig weiter: Richard
Huch für sich zu gewinnen. Ihr erster Roman mit dem altertümelnden
Titel „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ (1893) ist das,
was man einen Schlüsselroman nennt. Für Eingeweihte sind die Figuren
nur allzu leicht identifizierbar, das Liebespaar Ezard und Galeide, das
nicht zueinander kommen kann, weil Ezard verheiratet ist, steht für
Richard und Ricarda, Lucile, Ezards Frau (allerdings nicht
Galeides Schwester), für Lilly. An der Charakterisierung dieser Figur
nimmt die Familie nach der Lektüre den heftigsten Anstoß: „Da die
Worte Luciles alle von ihr hätten gesagt werden können, wird man in
dieser ein entstelltes Bild Deiner Schwester sehen u. dasselbe
schlechter Absicht, im günstigsten Fall durch Leidenschaft u.
Eifersucht verursachter Verblendung zuschreiben.“
In der für sie charakteristischen Verwechslung von Literatur und Leben
stilisiert sie die Mesalliance zu einer schicksalhaften Leidenschaft und
beruft sich dabei auf das Recht des (der) Stärkeren: „Ezard und
Galeide gehörten zu jenen glücklichen Menschen, denen man recht gibt
und auf deren Seite man sich stellt, aus keinem anderen Grunde, als weil
das Schicksal und die Natur auf ihrer Seite stehen. Denn diese fragen
nicht, wer recht habe nach den moralischen Grundsätzen der Menschen,
sondern sie wissen, wer stark und lebensfähig ist, und den begünstigen
sie.“
Folglich ist es das Schicksal, das Ezard und Galeide, alias Richard und
Ricarda, „für einander geschaffen“ hat
. Lucile, also Lilly, geschieht es gewissermaßen recht, dass sie
betrogen wird, weil sie sich dem Schicksal nicht beugen und Ezard nicht
loslassen will.
Im Roman begeht Galeide Selbstmord, weil Ezard zu lange gezögert und
sie sich in einen anderen verliebt hat; ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Ricarda jedenfalls, die Autorin dieser neuromantischen Soap opera, die sie nach Abschluss ihres
Studiums veröffentlicht und dem Geliebten ins Haus schickt, denkt in
Wirklichkeit keineswegs daran, ihn aufzugeben. Die Beziehung zu Richard
Huch riss nie ganz ab, sie schrieben sich, trafen sich heimlich – doch
begann sie, mit seinen Gefühlen zu spielen, indem sie ihm allzu freimütig
von ihren Züricher Flirts berichtete. Ricarda war jung und attraktiv, Männer
machten ihr den Hof und es kam vor, dass sich an dem einen oder anderen
ihre Phantasie entzündete. Richard musste solche Drohungen ernst
nehmen. Sie setzte ihm jetzt nicht nur brieflich die Pistole auf die
Brust, sie rückte ihm auch räumlich wieder näher, indem sie sich 1896
nach Bremen verpflichtete, wo sie mithelfen sollte, ein Mädchengymnasium
aufzubauen. Lilly Huch schien endlich mürbe zu sein und die Scheidung
nicht länger zu verweigern, allerdings war sie nicht bereit, das Haus
und die Kinder aufzugeben, es war also an Richard, Braunschweig zu
verlassen und sich anderswo eine Existenz aufzubauen. Er schien fest
dazu entschlossen zu sein, doch der Plan scheiterte an Ricardas
Besitzanspruch. Sie wollte nicht akzeptieren, dass Richard mit seiner
Familie in brieflichem Kontakt bliebe. Während des Streites erkannte er
offenbar, dass er sich keinesfalls von seinen Kindern trennen wollte und
kehrte nach Braunschweig zurück.
Die Katastrophe wurde, wie so oft, zur Befreiung. Auf einer Reise nach
Wien lernte Ricarda in der kleinen Pension, in der sie abgestiegen war,
den italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi kennen, verliebte sich in ihn
und heiratete ihn. Er sollte die wirklich große Liebe ihres Lebens
werden – was sie erst erkennen wird, als es zu spät ist. Ein äußerst
produktiver Lebensabschnitt begann. Sie vollendete den ersten der beiden
Bände über die Romantik
und hatte die Genugtuung, dass dieses Thema den Nerv der Zeit traf.
Gegen den Naturalismus, der um die Jahrhundertwende als die eigentliche
Moderne galt und vor allem in Berlin und München, wo Stücke von
Gerhard Hauptmann und Henrik Ibsen gespielt wurden, viel Staub
aufwirbelte, führte das kulturtragende, traditionsorientierte Bürgertum
einen Stellungskrieg, für den Ricarda Huch nun brauchbare Munition
lieferte. Vielen galt sie als Begründerin der „Neuromantik“, eines
epigonalen Rückgriffs auf die Ästhetik, die zu Beginn des Jahrhunderts
eine so große Rolle gespielt hatte. Gegen die Nüchternheit der Aufklärung
führten die „Neuromantiker“ eine vage Ganzheitskultur ins Feld, die
ein idealisiertes Menschen- und Geschichtsbild propagierte und zu diesem
Zweck, wie schon die Romantik, auf ein klischeehaftes, ornamentales
Mittelalter zurückgriff.
Die autobiographische
Dreiecksgeschichte von zwei Schwestern, die um denselben Mann kämpfen,
hätte eine gute Vorlage für einen realistischen Roman oder auch für
ein psychologisches Drama abgegeben. Die Huch macht aus dem Stoff ein
mit gewählten Formulierungen prunkendes Textgewebe, das ihre Neigung
verrät, alltäglichen, sogar abgeschmackten Vorgängen die höheren
Weihen des schönen Stils zu verleihen. Sie stellt ihre Figuren, auch
wenn es sich um Zeitgenossen handelt, in eine erhabene Kulisse, legt
ihnen tiefgründige Sätze in den Mund, lässt sie in edlen Posen
verharren. Selbst ihr Herausgeber Wilhelm Emrich, der das Gesamtwerk der
Ricarda Huch aus Geschichtsbewusstsein und Menschenbild der Autorin,
also von einem unangreifbaren Standpunkt her interpretiert, nennt
vieles, was sie geschrieben hat, Kitsch, also „charakterisiert [...]
durch intensiv bannende, die Reflexion blockierende oder abtötende, die
Distanz aufhebende Gefühlsakkumulationen“.
Noch stärker ausgeprägt ist diese Tendenz in ihrem zweiten Roman, den
sie in Triest schrieb. Dort hatte ihr italienischer Ehemann eine Praxis
übernommen, die nicht allzu gut lief, so dass Ricarda das Buch
aus finanziellen Gründen vorab
als Fortsetzungsroman in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte.
Ceconi, der Elend und Not aus eigener Anschauung kannte, öffnete ihr
die Augen für die „soziale Frage“. Dieser jenseits der Oker
erahnten „verwilderten, unheimlichen, Befremden und Grauen erregenden
Welt“
versucht sie sich in dem Roman „Aus der Triumphgasse“
zu nähern. Obwohl die Ortsbeschreibung und die Wahl der Namen auf eine
südliche Stadt am Meer deuten, liegen ihr nicht etwa Beobachtungen aus
den Armenvierteln Triests zugrunde. Vielmehr wurde sie von den Erzählungen
der Zugehfrau Giovanna angeregt, der sie in der Figur der lebenstüchtigen
Farfalla ein Denkmal setzt.
Dieser Roman ist aus der Sicht eines Mannes geschrieben, der Zutritt zu
all den finsteren Orten hat, die sich die Erzählerin nur ausdenken
kann; was ihr an Erfahrung fehlt, ersetzt sie durch Phantasie.
Authentisch wird das Milieu, das sie schildert, dadurch nicht. „Aus
der Triumphgasse“ ist wiederum eine Partitur des schöngeschriebenen
„Hässlichen“, obwohl die Autorin rührend bemüht ist, dem bürgerlichen
Vorurteil entgegenzutreten, Elend sei selbstverschuldet, eine Vorform
von Kriminalität und jedenfalls kein Gegenstand anspruchsvoller
Literatur. Das Buch wurde ein großer Erfolg, wie zuvor schon „Ludolf
Ursleu“. Ricarda Huch schrieb im Geschmack der Zeit. Flucht vor der
Wirklichkeit und Dekadenz waren Attitüden, die sie mit der
kulturtragenden bürgerlichen Schicht teilte. Wie Rilke, Hofmannsthal,
George „feiert Ricarda Huch immer die geheime Identität von Leben und
Sterben, Liebe und Tod.“
Das schloß ihr Werk aus der Moderne aus. Zeitgenossen der Ricarda Huch
waren ja auch Thomas Mann, Robert Musil, Franz Kafka, Alfred Döblin,
James Joyce, Virginia Woolf. Der Antimodernismus dieser in ihrer Lebensführung
so emanzipierten Frau ist ein unauflösbarer Widerspruch.
1900 zogen die Ceconis mit der in Triest geborenen Tochter Marietta nach
München, wo Ricardas wachsender Ruhm dem Paar sowohl gesellschaftlich
als auch beruflich zugute kam. Eine wichtige, wenn auch nicht allzu enge
Bekanntschaft war die mit Thomas Mann, dessen Familie sich schon bald
von Dr. Ceconi behandeln ließ.. Viel Geld hatten sie nicht, die Wohnung
im Luitpoldblock war klein, Ricarda schrieb auf einem am Fenster
angeschraubten Brett, um jeden Lichtstrahl zu nützen. Das wurde erst
besser, als sie in Grünwald eine Wohnung in einem kleinen Haus mieten
konnte, wo sie bald ganz mit dem Kind lebte und Ceconi nur am Wochenende
sah. Es liegt nahe, dass diese räumliche Entfernung zu ihrer
Entfremdung beigetragen hat. Ricarda arbeitete unaufhörlich. In kurzer
Zeit entstand ein dritter Roman „Michael Unger“,
dann ein vierter, „Von den Königen und der Krone“.
Ihre Ehemänner haben sie vermutlich immer nur am Schreibtisch sitzend
vorgefunden. Bei aller Liebe war Ceconi, alleingelassen in München, ihr
nicht treu.
Sie habe gewusst, dass der sechs Jahre Jüngere „kaum volles Genügen
in unserer Ehe fand,“ dem aber nicht viel
Gewicht beigemessen, da sie „das sichere Gefühl einer unlösbaren
Verbundenheit mit ihm gehabt“
habe. Umgekehrt war das offensichtlich nicht der Fall. Ceconi sei, heißt
es an anderer Stelle, oft eifersüchtig auf ihre Vergangenheit gewesen,
was nur bedeuten konnte: auf Richard. Ganz zu den Akten gelegt kann sie
die Braunschweiger Projektion nicht haben. Bewusst oder unbewusst hat
sie Ceconi vermutlich das Gefühl gegeben, am Maßstab dieser
idealisierten Liebe gemessen zu werden. Vielleicht empfand er sich als
zweite Wahl, als Kompromisslösung. Sonst hätte er sich wohl kaum zu
jenem Racheakt hergegeben, der, wie alle Beteiligten wussten, Ricarda
zutiefst verletzen musste.
Ihre Nichte Käte, die Tochter von Lilly und Richard, war nach München
gekommen; der leicht entflammbare Ceconi zeigte ihr die Stadt und
verliebte sich in sie, das ist die offizielle Lesart. Anfangs habe sie
das nicht schwer genommen, schreibt Ricarda..
Doch dann stellte sie fest, dass Ceconi ihr nicht mehr in dem gleichen
Maß zur Verfügung stand, wie sie es gewohnt war. Ein zahmes Äffchen
hatte die kleine Tochter ins Bein gebissen, die Mutter befürchtete, es
könnte ein „giftiger“ Biss gewesen sein und bat ihn telefonisch,
nach Grünwald zu kommen und sich die Wunde anzusehen. Er hielt die
Verletzung nicht für gefährlich genug, um seine Pläne für den Abend
zu ändern. Ricarda schloß daraus, sie und das Kind seien ihm
„gleichgültig, sogar lästig geworden“
und forderte auf der Stelle die Scheidung. So stellt sie es jedenfalls
in ihren autobiographischen Schriften dar.
Zufällig, so behauptet sie, sei um diese Zeit ein Brief Richards
eingetroffen, der ihr mitteilte, seine Kinder seien inzwischen
erwachsen, seine Frau habe sich von ihm getrennt und er könne sich
endlich scheiden lassen. Es gibt, aus Ricardas Freundeskreis, allerdings
eine Darstellung dieser Vorgänge,
die logischer klingt. Demnach hatte Lilly sich plötzlich entschlossen,
ihren Mann zu verlassen, Richard hatte das Ricarda mitgeteilt, und diese
geriet in einen Konflikt, den Ceconi ausbaden mußte, was offenbar über
seine Kräfte ging, so dass er versuchte, Käte gegen sie auszuspielen.
Das Ergebnis war ein Scherbenhaufen. Richard besuchte Ricarda in Grünwald,
nach neun Jahren sahen sie sich wieder. Sie jubelte: „Auf einmal bin
ich wieder lebendig, wieder jung [...]“
Also doch. Ceconi hatte mit seinen angeblich grundlosen Eifersuchtsanfällen
richtig gelegen. Nachdem er Käte Huch noch einen Heiratsantrag gemacht
und einen Korb erhalten hatte, war die Affäre für ihn vorüber. Er
unternahm einen letzten Versuch, seine Ehe zu retten und bat Ricarda,
bei ihm zu bleiben. Doch die wies ihn ab.
Ceconi war - mit Lucie Cassirer - schneller wieder verheiratet als
Ricarda. Lilly hatte ihrer Schwester, bevor sie Richard endgültig frei
gab, einen letzten Stein in der Weg gelegt: ein Jahr lang durften sie
sich nicht sehen. Im Juli 1907 heirateten sie. Braunschweig hatte sie
wieder. Richard war 57 Jahre alt, Ricarda 43. Sie wohnten in einem Haus
am Bruchtorwall gegenüber dem Bahnhof. „Es war mir ein Genuss, meine
Vaterstadt zu durchstreifen und ihre Schönheit, die ich früher
unbewusst eingeatmet hatte, zu erkennen und zu bemessen.“ Marietta blieb vorläufig
bei ihrem Vater, da Richard seine Frau erst einmal für sich allein
haben wollte. Es war ein stilles Haus, und wenn sie nicht arbeitete,
empfand sie es als „etwas leer“, ihr fehlte das „regellose Kommen
und Gehen von Freunden und Bekannten“.
Offenbar riss man sich in der Braunschweiger Gesellschaft nicht darum,
die beiden einzuladen. Richards Kinder wahrten Distanz, Käte begegnete
ihr mit unverhohlener Feindseligkeit. Die älteste Tochter, Mimi, führte
den Haushalt, es war nicht erwünscht, dass sie sich einmischte. „So
ungehemmt hatte ich mich meiner Arbeit noch nie widmen können“.
In Braunschweig begann sie mit ihren Recherchen über den Dreißigjährigen
Krieg.
Es zeichnete sich bald ab, dass die Ehe mit Richard die beiderseitigen
Erwartungen nicht erfüllte. Sie machten Radausflüge zusammen, das war
fast die einzige Gemeinsamkeit. Unter dem Einfluss von Ceconi hatte sich
Ricardas Empfänglichkeit für soziales Elend entwickelt, aber Richard
konnte ihr da nicht ganz folgen: „Kritik an der staatlichen und
gesellschaftlichen Ordnung, wie sie nun einmal war, tolerierte er, aber
auf Auseinandersetzungen darüber ließ er sich nicht ein.“ Ausschlaggebend war
jedoch eine andere Meinungsverschiedenheit. Richard erlaubte Ricarda
nicht, ihre Tochter Marietta, nach der sie sehr sich sehnte, zu sich zu
nehmen. Er blieb hart, wie seinerzeit Ricarda, die bei seinem ersten
Ausbruchsversuch verlangt hatte, dass er den Verkehr mit seinen Kindern
abbräche. Das Wort Rache scheint im Vokabular der Huchs gefehlt zu
haben, obwohl ein Racheakt dem anderen folgte. Schließlich wurde
vereinbart, dass Marietta ein halbes Jahr beim Vater und ein halbes Jahr
bei der Mutter leben sollte. Die Beziehung von Mutter und Tochter war für
Richards Empfinden zu eng; er fühlte sich zurückgesetzt, übte Druck
auf Ricarda aus, das Kind zu seinem Vater zurückzuschicken, und sie ließ
sich tatsächlich darauf ein.
Er war es, der sich schließlich von Ricarda trennte. Sie brach
zusammen. Sie hatte nicht nur eine Illusion verloren, sondern auch den
Mann, mit dem sie weit glücklicher war als mit Richard - Ermanno Ceconi.
„Gescheitert war ich [...] Ich hatte das Glück in den Händen und
erkannte es nicht, gab es hin für ein Irrlicht, das mich ins Verderben
lockte. Ich sah es alles ein, sah ein, dass ich erntete, was ich gesät
hatte; das machte mich nicht weniger elend.“
- Auch diese Katastrophe erwies sich letztlich als Befreiung. Es folgten
die glücklichen Münchner Jahre, in denen Ricarda Huch im Gartenhaus in
der Kaulbachstraße 35 wohnte, wo sie ihre Tochter regelmäßig sah, ihr
Werk vorantrieb und ihre wachsende Anerkennung genoß. „Der große
Krieg in Deutschland “ war ihr Durchbruch. Sie
selbst hielt diesen glänzend formulierten Bilderbogen teils
dokumentierter, teils fiktiver Szenen aus dem Dreißigjährigen Krieg für
ihre beste Arbeit; und in der Tat lohnt diese Lektüre sich noch heute.
Endlich kann Ricarda Huch zwischen Projektion und Wirklichkeit
unterscheiden. Sie hat die pathetisch-gefühlige Diktion völlig
abgelegt und beschreibt Untat und Heldentat, „Grausiges“ und „Schönes“,
mit der gleichen ironischen Distanz.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging Ceconi in seine italienische
Heimat zurück und Marietta blieb bei Ricarda, die glücklich war, dass
sie die Tochter nun ganz für sich hatte. In Bern, außerhalb des
hungernden, verbissen kämpfenden Deutschland, verbrachten Mutter und
Tochter die beiden letzten Kriegsjahre. – In München holte die
Wirklichkeit Ricarda ein. Sie sah die geschlagenen Truppen durch die
Leopoldstraße ziehen, „es war ein jammervoller Anblick. Wenn ich
vorher nicht tief durch den Krieg berührt worden war, erlebte ich ihn
jetzt als bitterste Qual.“
Die Räterepublik in München veranlasste sie, sich endlich auch mit
politischen Themen zu beschäftigen – auf ihre Weise. 1923 veröffentlichte
sie „Michael Bakunin und die Anarchie“, ein Buch, in dem sie den
Anarchismus als eine Form von Religion interpretiert. Sie wird ihr
konservatives Weltbild niemals zugunsten eines realpolitischen
Engagements aufgeben, da es ihr immer um „die letzten Dinge“ gehen
wird.
Nach Kriegsende fand die Familie wieder zusammen, da Ceconi inzwischen
geschieden war. In Padua, wo er seine Praxis hatte, waren sie oft
monatelang vereint. Umgekehrt besuchte Ceconi (Ex-)Frau und Tochter
zuweilen in München. Bis zu seinem Tod 1927 verband eine innige
Freundschaft das frühere Ehepaar. - 1927 gab Ricarda Huch ihren Münchner
Wohnsitz auf und zog zu Tochter und Schwiegersohn Franz Böhm nach
Berlin. Als Mitglied der 1926 gegründeten „Abteilung für Dichtkunst
an der Preußischen Akademie der Künste“ bestand sie die
Charakterprobe der nationalsozialistischen Machtübernahme besser als
die meisten anderen. Der Vorsitzende Heinrich Mann war im Februar 1933
zum Rücktritt gezwungen worden, weil er einen Aufruf zur gemeinsamen
Aktion von SPD und KPD gegen den Nationalsozialismus unterzeichnet
hatte. Die übrigen Mitglieder erhielten einen Brief, in dem sie mit Ja
oder Nein die Frage beantworten sollten, ob sie bereit seien, sich
„unter Anerkennung der veränderten Lage“ weiter der Preußischen
Akademie zur Verfügung zu stellen, was im Klartext hieß, die
nationalsozialistische Politik mitzutragen. Alfred Döblin und Käthe
Kollwitz traten sofort aus, Ricarda Huch verteidigte in einem später
berühmt gewordenen Briefwechsel mit dem Präsidenten Max von Schillings
das Recht auf Meinungsfreiheit. Als er an ihr „Deutschtum“
appellierte, begründete sie ihren Austritt mit einem anderen Verständnis
nationalen Denkens: „Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung
vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang,
die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das
prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“ [34]
Die neuen Machthaber hätten Ricarda Huch nur zu gern vor ihren Karren
gespannt, da deren Deutschlandlob so vorzüglich in das deutschtümelnde
nationalsozialistische Geschichtsbild zu passen schien; aber das war ein
Missverständnis. 1927/ 1929 waren unter dem Titel „Aus dem alten
Reich“ ihre „Lebensbilder deutscher Städte“ erschienen, deren
Titelbilder (von Hans Meid) ein idealisiertes Mittelalter beschwören.
Der Inhalt ist jedoch viel zu komplex, um sich als Propagandamaterial zu
eignen. In einem facettenreichen Text, in dem Chronik und Sage,
Stadtbild und städtisches Ereignis verwoben werden, vergegenwärtigt
Ricarda Huch virtuos Geschichte. Die „Lebensbilder“ geben nicht ein
Zitat her, das den Nazis ideologisch zuarbeitet. Ihre Geburtsstadt
Braunschweig nimmt selbstverständlich in dieser Porträt-Reihe eine
besondere Stellung ein. Sie lobt die „Duldsamkeit“ im Charakter der
Braunschweiger und führt als Beweis die Rechtssicherheit der Juden an:
„Im Jahr 1349 bestimmte der damalige Herzog, dass ein Jude wegen eines
Verbrechens nur dann zu strafen sei, wenn er durch vier unbescholtene Männer,
und zwar zwei Christen und zwei Juden, überführt oder auf frischer Tat
ertappt sei; jedenfalls aber sollten andere Juden sein Verbrechen nicht
entgelten.“
1944 trat Braunschweig noch einmal mit Ricarda Huch in Verbindung. Eine
Delegation begab sich nach Jena, wohin sie 1936 mit Tochter und
Schwiegersohn Franz Böhm umgezogen war, und überreichte ihr zum 80.
Geburtstag den Wilhelm Raabe-Preis. Hitler schickte ein Glückwunschtelegramm,
dessen Beantwortung Schwierigkeiten machte, sollten doch die
Formulierungen „Mein Führer“ und „Heil Hitler“ um jeden Preis
vermieden werden. - Nach Kriegsende war es das sozialistische Regime,
das versuchte, Ricarda Huch vor seinen Karren zu spannen. Den Vorsitz
des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ lehnte
sie ab, die Ehrenpräsidentschaft des Ersten deutschen
Schriftstellerkongresses 1947 in Berlin aber nahm sie an, weil sich
dadurch die Möglichkeit bot, mit ihrer Tochter in den Westen zu gehen.
Von Frankfurt aus hatte sich Franz Böhm zwei Jahre lang vergeblich um
Familienzusammenführung bemüht. Diese erste deutsche
Schriftstellertagung nach dem Krieg war ein bedeutendes Ereignis, zumal
die sowjetische Militärregierung sich als großzügiger und liberaler
Veranstalter präsentierte. Ricarda Huch wurde gefeiert und wartete
heimlich auf die Gelegenheit, mit einem britischen Militärzug in den
Westen zu gelangen. Die Flucht Ende Oktober 1947 war beschwerlich, mit
stundenlangen Wartezeiten auf kalten Bahnhöfen, dabei holte sie sich
eine Lungenentzündung, an der sie am 17. November 1947 im Gästehaus
der Stadt Frankfurt in Schönberg/Taunus starb. In seinem Nachruf
brachte Alfred Döblin ihr Wesen auf den Punkt: „Mut war ihr
selbstverständlich. Sie war, wie es sich für Naturen ihrer Art gehört,
viel zu stolz, um nicht mutig zu sein.“
Werke
(Auswahl):
Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren. Roman, 1893; Blüthezeit
der Romantik. 1899; Ausbreitung und Verfall der Romantik. 1902; Aus der
Triumphgasse. Lebensskizzen. 1902; Vita somnium breve. Ein Roman. 1903;
Von den Königen und der Krone. 1904; Die Geschichte von Garibaldi in
drei Teilen. 1906/07; Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri. Roman.
1910; Der letzte Sommer. Eine Erzählung in Briefen. 1910; Der große
Krieg in Deutschland. 1912-14; Lebenslauf des heiligen Wonnebald Pück.
Eine Erzählung. 1913; Michael Unger. Roman. 1913; Der Fall Deruga.
Roman. 1917; Michael Bakunin und die Anarchie. 1923; Im alten Reich.
Lebensbilder deutscher Städte. 1927; Gesammelte Gedichte. 1929; Neue Städtebilder.
1929; Der dreißigjährige Krieg. 1929; Alte und neue Götter. Die
Revolution des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland. 1930; Deutsche
Geschichte. Band 1 – 3. 1934 – 1949; Der lautlose Aufstand.
Dokumentarischer Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen
Volkes 1933 – 1945. 1953; Gesammelte Werke. Hrsg. von Wolfgang Emrich.
Band 1 – 11. 1966 – 1974.
Über Ricarda Huch:
Ricarda Huch 1864 – 1947. Ein Bücherverzeichnis. Einführung und
Bibliographie bearb. von Brigitte Weber. Dortmund 1964.
S. von Viereck: So weit wie die Welt geht. Ricarda Huch. Geschichte
eines Lebens. Reinbek b. Hamburg 1990.
Ricarda Huch. Marbach: Deutsches Literaturarchiv 1994 (= Marbacher
Kataloge Nr. 47)
Cordula Koepcke: Richarda Huch. Ihr Leben und ihr Werk. Frankfurt 1996.
Zur
Auswahl
|