Sybil Wagener 

"In meiner Familie liebte man das Schöne"

Ricarda Huch 

Geboren am 18. Juli 1864 in Braunschweig, gestorben am 17. November 1947 in Schönberg (Taunus)

„Um Kinder herum ist Paradies und Märchen, und darum war mir Braunschweig, wo ich geboren und aufgewachsen bin, eine Märchenstadt“. Ricarda Huch beginnt ihre autobiographischen Schriften mit dem Wechsel der Jahreszeiten im großen Garten hinter dem Haus Hohetorpromenade 11, wo sie ihre behütete Kindheit verbracht hat. Sie 

spricht von Sträuchern, Blumen, Bäumen, von Turnplatz und Schaukel, von Kinderspielen und schließt: „Mit unzähligen Würzelchen senkten sich die Erlebnisse des Gartens in unsere Seele, wuchsen fort und trugen Früchte“. [1] Das Idyll ist aber keineswegs fleckenlos; da ist der „Abort“ hinter dem Haus, den sie als „unvertilgbaren Schrecken“ beschreibt: „Ich hätte nicht mehr Angst vor der Hölle haben können [...] Das Grausige mußte in das tägliche Leben eingeordnet werden, nichts konnte davon befreien.“[1] An anderer Stelle bekommt das „Grausige“ eine soziale Dimension: Das Grundstück fiel auf der Rückseite zur Oker ab, „und wenn es im oberen Garten dämmerte, war es dort unten schon dunkel. Es ergriff einen dort wohl plötzlich sinnlose Furcht, weil man sich von der heiteren Welt abgeschnitten fühlte und in ein schauriges Jenseits starrte.“ [2] Nicht nur, weil die Oker gelb und trübe floss und voller Unrat war, sondern weil an das gegenüberliegende Ufer ein armseliges und verrufenes Viertel stieß, „eine verwilderte, unheimliche, Befremden und Grauen erregende Welt“. [3] In dieser Gegenüberstellung des „Schönen“ und des „Grausigen“ findet sich in nuce das Weltbild der Ricarda Huch. Das “Grausige“, Elend, Krankheit, Gemeinheit, wird als Kontrast wahrgenommen, der den einzigen Zweck hat, die Leuchtkraft des Schönen zu verstärken. Schönheit ist Weg und Ziel zugleich.

Ein solches Weltbild kann nur in einer Umgebung entstehen, wo der Alltag nicht bewältigt werden muss, sondern gefeiert werden kann und die Menschen die Muße für Selbstinszenierung haben. „In meiner Familie liebte man das Schöne, umgab man sich gern mit schönen Dingen.“ [4] Ricarda, jüngstes von drei Geschwistern, wuchs mit Büchern und Musik auf.. Die märchenhafte Kindheit in der abgeschlossenen Gartenwelt, mit gelegentlichen Ausflügen in das mittelalterlich intakte Braunschweig der „ehrwürdigen alten Kirchen, deren Gestein im Abendlicht violett schimmerte“, der „alten Fachwerkhäuser mit ihren Erkern, Giebeln, Vorkragungen, ihrem phantastischen Zierat“[5], ging bruchlos in eine romantisch-schwärmerische Jugend über. Höhere Mädchenschule und Klavierunterricht, Hausmusik und literarisches Kränzchen, Theater, Oper, Konzert – eine Wirklichkeit der großen Worte, harmonischen Klänge, schönen Bilder. Der „Abort“ hinter dem Haus, das niedrige Körperliche, wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Selbsterfahrung findet unter dem Gesichtspunkt von „schön“ und „nicht schön“ statt; Ricarda, ein hübsches Kind, das alle liebten, erlebte, dass ihre Mutter sie ablehnte, als sie sich in der Pubertät unvorteilhaft veränderte und sie erst wieder akzeptierte, als sie sich zu einer attraktiven jungen Frau ausgewachsen hatte. Wirklichkeit ist eine Frage der Bezeichnung; was schön, edel, groß genannt werden kann, ist schön, edel, groß - vor allem die Liebe. Für Ricarda stand sehr früh fest, dass „die Poesie der Kern des Lebens[6]“ sei und sie Dichterin werden würde. Die richtigen Wörter adeln scheinbar aber auch eine Familie, die in jeder Hinsicht am Abgrund tanzte. „Ich stammte aus einer Familie, die leidenschaftlich, leichtsinnig, verschwenderisch, unbekümmert war und, ob reich oder arm, sich immer auf der Höhe des Lebens fühlte...“[7] Die Huchs waren Neureiche der Gründerzeitgeneration, Unternehmer, Erfinder und Abenteurer, die ihr Vermögen bald wieder verloren. Ricarda war nicht die einzige, die den Schriftstellerberuf wählte, auch ihr Bruder Rudolf veröffentlichte Romane, und Friedrich Huch, der dem Kreis um Stefan George in München angehörte, war ein Cousin.

Geadelt von der „wahren“ Liebe, ist Ehebruch nicht Ehebruch, sondern tragisches Schicksal, Verrat nicht Verrat, sondern schicksalhaftes Pech des Verratenen, ein Skandal kein Skandal, denn die Außenwelt wird gar nicht wahrgenommen. Ricarda Huch verließ Braunschweig im Alter von 22 Jahren, weil ihr der Boden zu heiß wurde. Sie war die Geliebte ihres Cousins ersten Grades Richard Huch, eines Rechtsanwaltes, mit dem ihre fünf Jahre ältere Schwester Lilly verheiratet war und zwei Kinder hatte. Ein drittes kam während dieser Affäre hinzu, Käte (die ihre Mutter zwanzig Jahre später ebenso skrupellos rächen wird, wie die jüngere Schwester die ältere betrog); selbst das veranlasste Ricarda nicht, ihre Ansprüche zurückzustecken. In ihren autobiographischen Schriften, in denen sie ihre Schuld nicht mehr schön zu schreiben versucht, kommt die von ihr verratene Schwester nicht vor. Eine psychologische Interpretation würde hier wahrscheinlich fündig.

Die Familie blieb unter sich, hatte wenig Kontakt nach außen. Die fast inzestuöse Konstellation – Lilly heiratet einen Cousin, Ricarda verliebt sich in ihren Schwager – war eine Folge dieser Abgeschlossenheit. Auch das Dreiecksverhältnis wurde als internes Drama inszeniert. Das Liebespaar, das trickreich Versteck spielte, wurde von den Angehörigen verdächtigt und belauert, doch zu einem
Eclat scheint es nicht gekommen zu sein. Die Lebensumstände der Familie waren keineswegs intakt, die Mutter bettlägrig, der Vater monatelang in Südamerika, wo er an einem Unternehmen beteiligt war, das genau um diese Zeit bankrott ging. Plötzlich war für das „leichtsinnige, verschwenderische, unbekümmerte“ Leben kein Geld mehr da. Da Richard Huch keine Anstalten machte, seine Frau zu verlassen, sah Ricarda sich schon aus Gründen der Existenzsicherung gezwungen, einen Beruf zu erlernen. Sie entschloss sich, mit ihrem Anteil aus dem Verkauf des Elternhauses ein Universitätsstudium zu finanzieren.

 1882 ging sie in die Schweiz, um Geschichte zu studieren. Zürich war zu jener Zeit die einzige deutschsprachige Universität, die Frauen zum Studium zuließ. Ricarda wurde durch die Freundschaft mit anderen deutschen Akademikerinnen zu einer Vertreterin jener ersten Frauengeneration, die in die Männer-Reviere Wissenschaft und Politik eindrangen. Ihr Engagement in der Frauenfrage blieb jedoch unpolitisch. Sie hat zu dem Thema kaum öffentlich Stellung genommen. Im Dezember 1918, mitten in den Revolutionswirren, veröffentlichte sie einen kuriosen Aufsatz über das Frauenstimmrecht, in dem sie „die Eingliederung der Dienstmädchen in die Häuser der bessergestellten Klassen“ als eine Chance für die „wohlhabenderen Frauen“ bezeichnet, „in steter Verbindung mit den Frauen aus dem Volke zu bleiben“.[8] Statt sich für Parteien aufstellen und in Parlamente wählen zu lassen, empfiehlt sie einen friedlichen Aufstand des nur scheinbar schwachen Geschlechts : „Möchten sich alle Frauen zusammenschließen, damit irgendeine Grundlage einhelliger Gesinnung im Volke wäre.“ [9] - Der Schweiz verdankt Ricarda Huch immerhin, dass sie zur überzeugten „Republikanerin“ wurde, weil sie hier vor Augen hatte, dass Demokratie nicht zwangsläufig, wie es sich für das deutsche Bürgertum darstellte, hemmungslose Sozialrevolutionäre an die Macht bringt, sondern mit solidem bürgerlichem Traditionalismus vereinbar ist.

Ricarda Huch war über alle Maßen fleißig. Ihre Leistung ist in der Tat erstaunlich, wenn man bedenkt, wie ungesichert ihr Leben war. In einem Jahr ununterbrochenen Lernens holte sie die Hochschulreife nach. 1891 erwarb sie als erste Frau in der Schweiz das Diplom für das Höhere Lehramt mit der Gesamtnote Eins. Zwei Tage später wurde sie mit einer Arbeit über „Die Neutralität der Schweiz im Spanischen Erbfolgekrieg“ promoviert. Das Berufsziel Schriftstellerin war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Während ihres Studiums hatte sie Gedichte und Prosa unter einem männlichen Pseudonym veröffentlich. Aber auch ein anderes Ziel verfolgte sie hartnäckig weiter: Richard Huch für sich zu gewinnen. Ihr erster Roman mit dem altertümelnden Titel „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ (1893) ist das, was man einen Schlüsselroman nennt. Für Eingeweihte sind die Figuren nur allzu leicht identifizierbar, das Liebespaar Ezard und Galeide, das nicht zueinander kommen kann, weil Ezard verheiratet ist, steht für Richard und Ricarda, Lucile, Ezards Frau (allerdings nicht Galeides Schwester), für Lilly. An der Charakterisierung dieser Figur nimmt die Familie nach der Lektüre den heftigsten Anstoß: „Da die Worte Luciles alle von ihr hätten gesagt werden können, wird man in dieser ein entstelltes Bild Deiner Schwester sehen u. dasselbe schlechter Absicht, im günstigsten Fall durch Leidenschaft u. Eifersucht verursachter Verblendung zuschreiben.“ [10]

In der für sie charakteristischen Verwechslung von Literatur und Leben stilisiert sie die Mesalliance zu einer schicksalhaften Leidenschaft und beruft sich dabei auf das Recht des (der) Stärkeren: „Ezard und Galeide gehörten zu jenen glücklichen Menschen, denen man recht gibt und auf deren Seite man sich stellt, aus keinem anderen Grunde, als weil das Schicksal und die Natur auf ihrer Seite stehen. Denn diese fragen nicht, wer recht habe nach den moralischen Grundsätzen der Menschen, sondern sie wissen, wer stark und lebensfähig ist, und den begünstigen sie.“[11] Folglich ist es das Schicksal, das Ezard und Galeide, alias Richard und Ricarda, „für einander geschaffen“ hat[12] . Lucile, also Lilly, geschieht es gewissermaßen recht, dass sie betrogen wird, weil sie sich dem Schicksal nicht beugen und Ezard nicht loslassen will.

Im Roman begeht Galeide Selbstmord, weil Ezard zu lange gezögert und sie sich in einen anderen verliebt hat; ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ricarda jedenfalls, die Autorin dieser neuromantischen
Soap opera, die sie nach Abschluss ihres Studiums veröffentlicht und dem Geliebten ins Haus schickt, denkt in Wirklichkeit keineswegs daran, ihn aufzugeben. Die Beziehung zu Richard Huch riss nie ganz ab, sie schrieben sich, trafen sich heimlich – doch begann sie, mit seinen Gefühlen zu spielen, indem sie ihm allzu freimütig von ihren Züricher Flirts berichtete. Ricarda war jung und attraktiv, Männer machten ihr den Hof und es kam vor, dass sich an dem einen oder anderen ihre Phantasie entzündete. Richard musste solche Drohungen ernst nehmen. Sie setzte ihm jetzt nicht nur brieflich die Pistole auf die Brust, sie rückte ihm auch räumlich wieder näher, indem sie sich 1896 nach Bremen verpflichtete, wo sie mithelfen sollte, ein Mädchengymnasium aufzubauen. Lilly Huch schien endlich mürbe zu sein und die Scheidung nicht länger zu verweigern, allerdings war sie nicht bereit, das Haus und die Kinder aufzugeben, es war also an Richard, Braunschweig zu verlassen und sich anderswo eine Existenz aufzubauen. Er schien fest dazu entschlossen zu sein, doch der Plan scheiterte an Ricardas Besitzanspruch. Sie wollte nicht akzeptieren, dass Richard mit seiner Familie in brieflichem Kontakt bliebe. Während des Streites erkannte er offenbar, dass er sich keinesfalls von seinen Kindern trennen wollte und kehrte nach Braunschweig zurück.

Die Katastrophe wurde, wie so oft, zur Befreiung. Auf einer Reise nach Wien lernte Ricarda in der kleinen Pension, in der sie abgestiegen war, den italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi kennen, verliebte sich in ihn und heiratete ihn. Er sollte die wirklich große Liebe ihres Lebens werden – was sie erst erkennen wird, als es zu spät ist. Ein äußerst produktiver Lebensabschnitt begann. Sie vollendete den ersten der beiden Bände über die Romantik[13] und hatte die Genugtuung, dass dieses Thema den Nerv der Zeit traf. Gegen den Naturalismus, der um die Jahrhundertwende als die eigentliche Moderne galt und vor allem in Berlin und München, wo Stücke von Gerhard Hauptmann und Henrik Ibsen gespielt wurden, viel Staub aufwirbelte, führte das kulturtragende, traditionsorientierte Bürgertum einen Stellungskrieg, für den Ricarda Huch nun brauchbare Munition lieferte. Vielen galt sie als Begründerin der „Neuromantik“, eines epigonalen Rückgriffs auf die Ästhetik, die zu Beginn des Jahrhunderts eine so große Rolle gespielt hatte. Gegen die Nüchternheit der Aufklärung führten die „Neuromantiker“ eine vage Ganzheitskultur ins Feld, die ein idealisiertes Menschen- und Geschichtsbild propagierte und zu diesem Zweck, wie schon die Romantik, auf ein klischeehaftes, ornamentales Mittelalter zurückgriff.

 Die autobiographische Dreiecksgeschichte von zwei Schwestern, die um denselben Mann kämpfen, hätte eine gute Vorlage für einen realistischen Roman oder auch für ein psychologisches Drama abgegeben. Die Huch macht aus dem Stoff ein mit gewählten Formulierungen prunkendes Textgewebe, das ihre Neigung verrät, alltäglichen, sogar abgeschmackten Vorgängen die höheren Weihen des schönen Stils zu verleihen. Sie stellt ihre Figuren, auch wenn es sich um Zeitgenossen handelt, in eine erhabene Kulisse, legt ihnen tiefgründige Sätze in den Mund, lässt sie in edlen Posen verharren. Selbst ihr Herausgeber Wilhelm Emrich, der das Gesamtwerk der Ricarda Huch aus Geschichtsbewusstsein und Menschenbild der Autorin, also von einem unangreifbaren Standpunkt her interpretiert, nennt vieles, was sie geschrieben hat, Kitsch, also „charakterisiert [...] durch intensiv bannende, die Reflexion blockierende oder abtötende, die Distanz aufhebende Gefühlsakkumulationen“[14].

Noch stärker ausgeprägt ist diese Tendenz in ihrem zweiten Roman, den sie in Triest schrieb. Dort hatte ihr italienischer Ehemann eine Praxis übernommen, die nicht allzu gut lief, so dass Ricarda das Buch
aus finanziellen Gründen vorab als Fortsetzungsroman in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte. Ceconi, der Elend und Not aus eigener Anschauung kannte, öffnete ihr die Augen für die „soziale Frage“. Dieser jenseits der Oker erahnten „verwilderten, unheimlichen, Befremden und Grauen erregenden Welt“ [15] versucht sie sich in dem Roman „Aus der Triumphgasse“ [16] zu nähern. Obwohl die Ortsbeschreibung und die Wahl der Namen auf eine südliche Stadt am Meer deuten, liegen ihr nicht etwa Beobachtungen aus den Armenvierteln Triests zugrunde. Vielmehr wurde sie von den Erzählungen der Zugehfrau Giovanna angeregt, der sie in der Figur der lebenstüchtigen Farfalla ein Denkmal setzt.

Dieser Roman ist aus der Sicht eines Mannes geschrieben, der Zutritt zu all den finsteren Orten hat, die sich die Erzählerin nur ausdenken kann; was ihr an Erfahrung fehlt, ersetzt sie durch Phantasie. Authentisch wird das Milieu, das sie schildert, dadurch nicht. „Aus der Triumphgasse“ ist wiederum eine Partitur des schöngeschriebenen „Hässlichen“, obwohl die Autorin rührend bemüht ist, dem bürgerlichen Vorurteil entgegenzutreten, Elend sei selbstverschuldet, eine Vorform von Kriminalität und jedenfalls kein Gegenstand anspruchsvoller Literatur. Das Buch wurde ein großer Erfolg, wie zuvor schon „Ludolf Ursleu“. Ricarda Huch schrieb im Geschmack der Zeit. Flucht vor der Wirklichkeit und Dekadenz waren Attitüden, die sie mit der kulturtragenden bürgerlichen Schicht teilte. Wie Rilke, Hofmannsthal, George „feiert Ricarda Huch immer die geheime Identität von Leben und Sterben, Liebe und Tod.“[17] Das schloß ihr Werk aus der Moderne aus. Zeitgenossen der Ricarda Huch waren ja auch Thomas Mann, Robert Musil, Franz Kafka, Alfred Döblin, James Joyce, Virginia Woolf. Der Antimodernismus dieser in ihrer Lebensführung so emanzipierten Frau ist ein unauflösbarer Widerspruch.

1900 zogen die Ceconis mit der in Triest geborenen Tochter Marietta nach München, wo Ricardas wachsender Ruhm dem Paar sowohl gesellschaftlich als auch beruflich zugute kam. Eine wichtige, wenn auch nicht allzu enge Bekanntschaft war die mit Thomas Mann, dessen Familie sich schon bald von Dr. Ceconi behandeln ließ.. Viel Geld hatten sie nicht, die Wohnung im Luitpoldblock war klein, Ricarda schrieb auf einem am Fenster angeschraubten Brett, um jeden Lichtstrahl zu nützen. Das wurde erst besser, als sie in Grünwald eine Wohnung in einem kleinen Haus mieten konnte, wo sie bald ganz mit dem Kind lebte und Ceconi nur am Wochenende sah. Es liegt nahe, dass diese räumliche Entfernung zu ihrer Entfremdung beigetragen hat. Ricarda arbeitete unaufhörlich. In kurzer Zeit entstand ein dritter Roman „Michael Unger“[18], dann ein vierter, „Von den Königen und der Krone“[19]. Ihre Ehemänner haben sie vermutlich immer nur am Schreibtisch sitzend vorgefunden. Bei aller Liebe war Ceconi, alleingelassen in München, ihr nicht treu.

Sie habe gewusst, dass der sechs Jahre Jüngere „kaum volles Genügen in unserer Ehe fand,“[20] dem aber nicht viel Gewicht beigemessen, da sie „das sichere Gefühl einer unlösbaren Verbundenheit mit ihm gehabt“[21] habe. Umgekehrt war das offensichtlich nicht der Fall. Ceconi sei, heißt es an anderer Stelle, oft eifersüchtig auf ihre Vergangenheit gewesen, was nur bedeuten konnte: auf Richard. Ganz zu den Akten gelegt kann sie die Braunschweiger Projektion nicht haben. Bewusst oder unbewusst hat sie Ceconi vermutlich das Gefühl gegeben, am Maßstab dieser idealisierten Liebe gemessen zu werden. Vielleicht empfand er sich als zweite Wahl, als Kompromisslösung. Sonst hätte er sich wohl kaum zu jenem Racheakt hergegeben, der, wie alle Beteiligten wussten, Ricarda zutiefst verletzen musste.

Ihre Nichte Käte, die Tochter von Lilly und Richard, war nach München gekommen; der leicht entflammbare Ceconi zeigte ihr die Stadt und verliebte sich in sie, das ist die offizielle Lesart. Anfangs habe sie das nicht schwer genommen, schreibt Ricarda.[22]. Doch dann stellte sie fest, dass Ceconi ihr nicht mehr in dem gleichen Maß zur Verfügung stand, wie sie es gewohnt war. Ein zahmes Äffchen hatte die kleine Tochter ins Bein gebissen, die Mutter befürchtete, es könnte ein „giftiger“ Biss gewesen sein und bat ihn telefonisch, nach Grünwald zu kommen und sich die Wunde anzusehen. Er hielt die Verletzung nicht für gefährlich genug, um seine Pläne für den Abend zu ändern. Ricarda schloß daraus, sie und das Kind seien ihm „gleichgültig, sogar lästig geworden“[23] und forderte auf der Stelle die Scheidung. So stellt sie es jedenfalls in ihren autobiographischen Schriften dar.

Zufällig, so behauptet sie, sei um diese Zeit ein Brief Richards eingetroffen, der ihr mitteilte, seine Kinder seien inzwischen erwachsen, seine Frau habe sich von ihm getrennt und er könne sich endlich scheiden lassen. Es gibt, aus Ricardas Freundeskreis, allerdings eine Darstellung dieser Vorgänge[24], die logischer klingt. Demnach hatte Lilly sich plötzlich entschlossen, ihren Mann zu verlassen, Richard hatte das Ricarda mitgeteilt, und diese geriet in einen Konflikt, den Ceconi ausbaden mußte, was offenbar über seine Kräfte ging, so dass er versuchte, Käte gegen sie auszuspielen. Das Ergebnis war ein Scherbenhaufen. Richard besuchte Ricarda in Grünwald, nach neun Jahren sahen sie sich wieder. Sie jubelte: „Auf einmal bin ich wieder lebendig, wieder jung [...]“[25] Also doch. Ceconi hatte mit seinen angeblich grundlosen Eifersuchtsanfällen richtig gelegen. Nachdem er Käte Huch noch einen Heiratsantrag gemacht und einen Korb erhalten hatte, war die Affäre für ihn vorüber. Er unternahm einen letzten Versuch, seine Ehe zu retten und bat Ricarda, bei ihm zu bleiben. Doch die wies ihn ab.

Ceconi war - mit Lucie Cassirer - schneller wieder verheiratet als Ricarda. Lilly hatte ihrer Schwester, bevor sie Richard endgültig frei gab, einen letzten Stein in der Weg gelegt: ein Jahr lang durften sie sich nicht sehen. Im Juli 1907 heirateten sie. Braunschweig hatte sie wieder. Richard war 57 Jahre alt, Ricarda 43. Sie wohnten in einem Haus am Bruchtorwall gegenüber dem Bahnhof. „Es war mir ein Genuss, meine Vaterstadt zu durchstreifen und ihre Schönheit, die ich früher unbewusst eingeatmet hatte, zu erkennen und zu bemessen.“[26] Marietta blieb vorläufig bei ihrem Vater, da Richard seine Frau erst einmal für sich allein haben wollte. Es war ein stilles Haus, und wenn sie nicht arbeitete, empfand sie es als „etwas leer“, ihr fehlte das „regellose Kommen und Gehen von Freunden und Bekannten“[27]. Offenbar riss man sich in der Braunschweiger Gesellschaft nicht darum, die beiden einzuladen. Richards Kinder wahrten Distanz, Käte begegnete ihr mit unverhohlener Feindseligkeit. Die älteste Tochter, Mimi, führte den Haushalt, es war nicht erwünscht, dass sie sich einmischte. „So ungehemmt hatte ich mich meiner Arbeit noch nie widmen können“[28].

In Braunschweig begann sie mit ihren Recherchen über den Dreißigjährigen Krieg[29]. Es zeichnete sich bald ab, dass die Ehe mit Richard die beiderseitigen Erwartungen nicht erfüllte. Sie machten Radausflüge zusammen, das war fast die einzige Gemeinsamkeit. Unter dem Einfluss von Ceconi hatte sich Ricardas Empfänglichkeit für soziales Elend entwickelt, aber Richard konnte ihr da nicht ganz folgen: „Kritik an der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, wie sie nun einmal war, tolerierte er, aber auf Auseinandersetzungen darüber ließ er sich nicht ein.“[30] Ausschlaggebend war jedoch eine andere Meinungsverschiedenheit. Richard erlaubte Ricarda nicht, ihre Tochter Marietta, nach der sie sehr sich sehnte, zu sich zu nehmen. Er blieb hart, wie seinerzeit Ricarda, die bei seinem ersten Ausbruchsversuch verlangt hatte, dass er den Verkehr mit seinen Kindern abbräche. Das Wort Rache scheint im Vokabular der Huchs gefehlt zu haben, obwohl ein Racheakt dem anderen folgte. Schließlich wurde vereinbart, dass Marietta ein halbes Jahr beim Vater und ein halbes Jahr bei der Mutter leben sollte. Die Beziehung von Mutter und Tochter war für Richards Empfinden zu eng; er fühlte sich zurückgesetzt, übte Druck auf Ricarda aus, das Kind zu seinem Vater zurückzuschicken, und sie ließ sich tatsächlich darauf ein.

Er war es, der sich schließlich von Ricarda trennte. Sie brach zusammen. Sie hatte nicht nur eine Illusion verloren, sondern auch den Mann, mit dem sie weit glücklicher war als mit Richard - Ermanno Ceconi. „Gescheitert war ich [...] Ich hatte das Glück in den Händen und erkannte es nicht, gab es hin für ein Irrlicht, das mich ins Verderben lockte. Ich sah es alles ein, sah ein, dass ich erntete, was ich gesät hatte; das machte mich nicht weniger elend.“ [31] - Auch diese Katastrophe erwies sich letztlich als Befreiung. Es folgten die glücklichen Münchner Jahre, in denen Ricarda Huch im Gartenhaus in der Kaulbachstraße 35 wohnte, wo sie ihre Tochter regelmäßig sah, ihr Werk vorantrieb und ihre wachsende Anerkennung genoß. „Der große Krieg in Deutschland “[32] war ihr Durchbruch. Sie selbst hielt diesen glänzend formulierten Bilderbogen teils dokumentierter, teils fiktiver Szenen aus dem Dreißigjährigen Krieg für ihre beste Arbeit; und in der Tat lohnt diese Lektüre sich noch heute. Endlich kann Ricarda Huch zwischen Projektion und Wirklichkeit unterscheiden. Sie hat die pathetisch-gefühlige Diktion völlig abgelegt und beschreibt Untat und Heldentat, „Grausiges“ und „Schönes“, mit der gleichen ironischen Distanz.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging Ceconi in seine italienische Heimat zurück und Marietta blieb bei Ricarda, die glücklich war, dass sie die Tochter nun ganz für sich hatte. In Bern, außerhalb des hungernden, verbissen kämpfenden Deutschland, verbrachten Mutter und Tochter die beiden letzten Kriegsjahre. – In München holte die Wirklichkeit Ricarda ein. Sie sah die geschlagenen Truppen durch die Leopoldstraße ziehen, „es war ein jammervoller Anblick. Wenn ich vorher nicht tief durch den Krieg berührt worden war, erlebte ich ihn jetzt als bitterste Qual.“ [33] Die Räterepublik in München veranlasste sie, sich endlich auch mit politischen Themen zu beschäftigen – auf ihre Weise. 1923 veröffentlichte sie „Michael Bakunin und die Anarchie“, ein Buch, in dem sie den Anarchismus als eine Form von Religion interpretiert. Sie wird ihr konservatives Weltbild niemals zugunsten eines realpolitischen Engagements aufgeben, da es ihr immer um „die letzten Dinge“ gehen wird.

Nach Kriegsende fand die Familie wieder zusammen, da Ceconi inzwischen geschieden war. In Padua, wo er seine Praxis hatte, waren sie oft monatelang vereint. Umgekehrt besuchte Ceconi (Ex-)Frau und Tochter zuweilen in München. Bis zu seinem Tod 1927 verband eine innige Freundschaft das frühere Ehepaar. - 1927 gab Ricarda Huch ihren Münchner Wohnsitz auf und zog zu Tochter und Schwiegersohn Franz Böhm nach Berlin. Als Mitglied der 1926 gegründeten „Abteilung für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste“ bestand sie die Charakterprobe der nationalsozialistischen Machtübernahme besser als die meisten anderen. Der Vorsitzende Heinrich Mann war im Februar 1933 zum Rücktritt gezwungen worden, weil er einen Aufruf zur gemeinsamen Aktion von SPD und KPD gegen den Nationalsozialismus unterzeichnet hatte. Die übrigen Mitglieder erhielten einen Brief, in dem sie mit Ja oder Nein die Frage beantworten sollten, ob sie bereit seien, sich „unter Anerkennung der veränderten Lage“ weiter der Preußischen Akademie zur Verfügung zu stellen, was im Klartext hieß, die nationalsozialistische Politik mitzutragen. Alfred Döblin und Käthe Kollwitz traten sofort aus, Ricarda Huch verteidigte in einem später berühmt gewordenen Briefwechsel mit dem Präsidenten Max von Schillings das Recht auf Meinungsfreiheit. Als er an ihr „Deutschtum“ appellierte, begründete sie ihren Austritt mit einem anderen Verständnis nationalen Denkens: „Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“
[34]

Die neuen Machthaber hätten Ricarda Huch nur zu gern vor ihren Karren gespannt, da deren Deutschlandlob so vorzüglich in das deutschtümelnde nationalsozialistische Geschichtsbild zu passen schien; aber das war ein Missverständnis. 1927/ 1929 waren unter dem Titel „Aus dem alten Reich“ ihre „Lebensbilder deutscher Städte“ erschienen, deren Titelbilder (von Hans Meid) ein idealisiertes Mittelalter beschwören. Der Inhalt ist jedoch viel zu komplex, um sich als Propagandamaterial zu eignen. In einem facettenreichen Text, in dem Chronik und Sage, Stadtbild und städtisches Ereignis verwoben werden, vergegenwärtigt Ricarda Huch virtuos Geschichte. Die „Lebensbilder“ geben nicht ein Zitat her, das den Nazis ideologisch zuarbeitet. Ihre Geburtsstadt Braunschweig nimmt selbstverständlich in dieser Porträt-Reihe eine besondere Stellung ein. Sie lobt die „Duldsamkeit“ im Charakter der Braunschweiger und führt als Beweis die Rechtssicherheit der Juden an: „Im Jahr 1349 bestimmte der damalige Herzog, dass ein Jude wegen eines Verbrechens nur dann zu strafen sei, wenn er durch vier unbescholtene Männer, und zwar zwei Christen und zwei Juden, überführt oder auf frischer Tat ertappt sei; jedenfalls aber sollten andere Juden sein Verbrechen nicht entgelten.“[35]

1944 trat Braunschweig noch einmal mit Ricarda Huch in Verbindung. Eine Delegation begab sich nach Jena, wohin sie 1936 mit Tochter und Schwiegersohn Franz Böhm umgezogen war, und überreichte ihr zum 80. Geburtstag den Wilhelm Raabe-Preis. Hitler schickte ein Glückwunschtelegramm, dessen Beantwortung Schwierigkeiten machte, sollten doch die Formulierungen „Mein Führer“ und „Heil Hitler“ um jeden Preis vermieden werden. - Nach Kriegsende war es das sozialistische Regime, das versuchte, Ricarda Huch vor seinen Karren zu spannen. Den Vorsitz des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ lehnte sie ab, die Ehrenpräsidentschaft des Ersten deutschen Schriftstellerkongresses 1947 in Berlin aber nahm sie an, weil sich dadurch die Möglichkeit bot, mit ihrer Tochter in den Westen zu gehen. Von Frankfurt aus hatte sich Franz Böhm zwei Jahre lang vergeblich um Familienzusammenführung bemüht. Diese erste deutsche Schriftstellertagung nach dem Krieg war ein bedeutendes Ereignis, zumal die sowjetische Militärregierung sich als großzügiger und liberaler Veranstalter präsentierte. Ricarda Huch wurde gefeiert und wartete heimlich auf die Gelegenheit, mit einem britischen Militärzug in den Westen zu gelangen. Die Flucht Ende Oktober 1947 war beschwerlich, mit stundenlangen Wartezeiten auf kalten Bahnhöfen, dabei holte sie sich eine Lungenentzündung, an der sie am 17. November 1947 im Gästehaus der Stadt Frankfurt in Schönberg/Taunus starb. In seinem Nachruf brachte Alfred Döblin ihr Wesen auf den Punkt: „Mut war ihr selbstverständlich. Sie war, wie es sich für Naturen ihrer Art gehört, viel zu stolz, um nicht mutig zu sein.“[36]

 


Werke (Auswahl):
Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren. Roman, 1893; Blüthezeit der Romantik. 1899; Ausbreitung und Verfall der Romantik. 1902; Aus der Triumphgasse. Lebensskizzen. 1902; Vita somnium breve. Ein Roman. 1903; Von den Königen und der Krone. 1904; Die Geschichte von Garibaldi in drei Teilen. 1906/07; Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri. Roman. 1910; Der letzte Sommer. Eine Erzählung in Briefen. 1910; Der große Krieg in Deutschland. 1912-14; Lebenslauf des heiligen Wonnebald Pück. Eine Erzählung. 1913; Michael Unger. Roman. 1913; Der Fall Deruga. Roman. 1917; Michael Bakunin und die Anarchie. 1923; Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte. 1927; Gesammelte Gedichte. 1929; Neue Städtebilder. 1929; Der dreißigjährige Krieg. 1929; Alte und neue Götter. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland. 1930; Deutsche Geschichte. Band 1 – 3. 1934 – 1949; Der lautlose Aufstand. Dokumentarischer Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933 – 1945. 1953; Gesammelte Werke. Hrsg. von Wolfgang Emrich. Band 1 – 11. 1966 – 1974.


Über Ricarda Huch:
Ricarda Huch 1864 – 1947. Ein Bücherverzeichnis. Einführung und Bibliographie bearb. von Brigitte Weber. Dortmund 1964.
S. von Viereck: So weit wie die Welt geht. Ricarda Huch. Geschichte eines Lebens. Reinbek b. Hamburg 1990.
Ricarda Huch. Marbach: Deutsches Literaturarchiv 1994 (= Marbacher Kataloge Nr. 47)
Cordula Koepcke: Richarda Huch. Ihr Leben und ihr Werk. Frankfurt 1996.



[1] GW XI, S. 21

[2] GW XIII

[3] GW XI, S. 23

[4] GW II, S. 256

[5] GW XI, S. 120 f

[6] Cordula Koepcke, Ricarda Huch, Ihr Leben und ihr Werk, Frankfurt 1996, S. 21

[7] GW II, S. 255 f

[8] Katalog der Ausstellung “Ricarda Huch” – 1864-1947” des Deutschen Literaturarchivs. Marbacher Kataloge 47.  291

[9]a.a.O. 293

[10] Brief des Vetters Hans Hähn vom 28.8.1893, Katalog S.110

[11] CW I, S. 194

[12] GW I, S. 195

[13]Blütezeit der Romantik; Ausbreitung und Verfall der Romantik, in: GW VI

[14] GW I, Vorwort, S. 55

[15] GW XI, S. 23

[16] GW I

[17] GW I, Vorwort, S. 55

[18] GW I

[19] GW II

[20] GWXI, S. 378

[21] a.a.O.

[22] GW II, S. 377

[23] a.a.O.

[24] GW I, Vorwort, 113

[25] Cordula Koepcke, Ricarda Huch, Ihr Leben und ihr Werk, Frankfurt 1996, S. 162

[26] a.a.O.

[27] GW II, S. 381

[28] a.a.O.

[29] Der große Krieg in Deutschland. GW III

[30] a.a.O. S. 382

[31]a.a.O. 387

[32] GW III

[33] Katalog S. 249

[34] Brief vom 9.4.33, in: Koepcke, a.a.O., S. 248 f

[35] GW VIII, S. 56

[36] Koepcke, S. 285



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