Und
doch ist es nicht zu hoch gegriffen, Jünger einen modernen Klassiker zu
nennen. Das belegen nicht nur die „kleinere“ zehnbändige
Werkausgabe aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre und die größere
inzwischen einundzwanzigbändige Gesamtausgabe der siebziger,
achtziger und neunziger Jahre sowie der Zustrom und Andrang
literarischer und politischer Größen wie Borges, Moravia, Heuss,
Herzog, Kohl und Mitterand, vor allem wiegen Themen und Qualität seiner
zahlreichen Bücher schwer. In der nicht immer dem Zeitgeist und der
hohlen Wohlanständigkeit gehorchenden sensiblen Bestimmung und
Vermessung auch verborgenerer ideologischer Strömungen und
zeitgeschichtlicher Vorgänge lagen Ernst Jüngers Stärke und
Verdienst. Zudem war er ein großer Freund der Sprache, der Wörter und
Formulierungen, ein Liebhaber des Stils.
Begonnen hatte Jüngers Leben unter anderen Auspizien, seine Geburt war
begleitet von familiären Turbulenzen. Als er 1895 in der Altstadt von
Heidelberg auf die Welt kam, im Haus einer Hebamme, waren sein Vater,
wissenschaftlicher Assistent am chemischen Institut der Universität,
und seine Mutter, eine Münchner Bürgerstochter, wahrscheinlich noch
nicht verheiratet, möglicherweise war die schwangere junge Frau von
zuhause „durchgebrannt“.
Das Paar hatte im ersten Abschnitt der Ehe, in den Jahren um die
Jahrhundertwende, insgesamt sieben Kinder, von denen zwei früh starben.
Ernst wuchs mit vier nachgeborenen Geschwistern auf, der drei Jahre jüngere
Friedrich Georg stand ihm stets besonders nahe. Als Chemiker und
Pharmazeut betrieb der Vater erst erfolglos ein Lebensmittellabor im
heimatlichen Hannover, dann besaß er eine deutlich bessergehende
Apotheke in Schwarzenberg im sächsischen Erzgebirge, immer folgte die
Familie, schließlich landete man 1907 im kleinen Ort Rehburg in der Nähe
des Steinhuder Meeres, wo der Vater, nun gutsituierter Bergwerksbesitzer
mit Villa, Gewächshäusern und Gärtnerwohnung, sich und die Seinen
etablierte.
Ernst Jünger war kein guter Schüler. Nacheinander besuchte er nicht
weniger als neun verschiedene Schulen, so in Hannover, Wunstorf,
Braunschweig und zuletzt in Hameln, nicht selten als Internats- oder
Pensionszögling. Die Ferien verbrachte er regelmäßig zuhause in
Rehburg. Über das freie ungebundene Treiben der Jungen in den Wäldern
südwestlich von Rehburg und in den Wiesen und Mooren am Steinhuder Meer
hat der Bruder Friedrich Georg, der nach einer Juristenausbildung
ebenfalls Schriftsteller wurde, in seinem Erinnerungsbuch „Grüne
Zweige“ sehr anschaulich berichtet.
1913, Jünger war siebzehn Jahre alt, machte er am Ende der Schulferien
auf der Fahrt nach Hameln in Hannover Station. Er verpraßte, um sich
den Rückweg abzuschneiden, das Schulgeld im Nachtjackenviertel hinter
der Leine und kaufte sich von der Restsumme eine Fahrkarte nach
Frankreich. Jenseits der Grenze angekommen, trat er in die Fremdenlegion
ein. Er wurde zur Ausbildung nach Nordafrika übergesetzt. Aber Vater Jünger,
von Hause aus ein energischer selbstbewußter Mann, erreichte nach
Intervention bei der Reichsregierung in Berlin, daß sein ältester
Sohn, weil er das Verpflichtungsalter noch nicht erreicht hatte,
nachhause entlassen wurde. Dreiundzwanzig Jahre später war der
Ausbruchsversuch Gegenstand von Ernst Jüngers langer Erzählung
„Afrikanische Spiele“.
Insgesamt eine dornige Schullaufbahn. Dennoch kann Jünger Abitur
machen. Am 1. August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Begeistert wie
viele, wie die meisten seiner Altersgenossen auf den Schulen, wie nicht
wenige Künstler auch, meldet sich Jünger als Kriegsfreiwilliger und
darf deshalb das sogenannte Notabitur ablegen. Nach einigen Monaten
Grundausbildung kommt er im November 1914 an die Front. Über die erste
Annäherung an die Zonen des Stellungskriegs und der Grabenkämpfe
schreibt er: „Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen
Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren
Gewohnheit werden sollte“. Jünger ist damals neunzehn. Er bleibt fast
vier Jahre an der Front, er führt Stoßtrupps, wird etliche Male
verwundet, avanciert zum Leutnant und erhält gegen Ende des Krieges vom
Kaiser für seine Tapferkeit den höchsten deutschen Orden verliehen,
den Pour le mérite, gerade kuriert er im Elternhaus in Rehburg die
siebente Verwundung aus.
Zwei Jahre später, der Krieg ist verloren, das Land versinkt in Elend
und Chaos, veröffentlicht er im Selbstverlag sein erstes Buch, das
seinen Ruhm begründet: „In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“.
Es ist die Veröffentlichung eines kaum Fünfundzwanzigjährigen.
Dann folgen der Nachkriegsdienst in Reichswehrstellen in Hannover und
Berlin und Studienjahre mit dem Fach Zoologie in Leipzig. Jünger hat
schon als Junge in Rehburg und auch an der Front Insekten gesammelt und
bestimmt, sein entomologisches Interesse wird Zeit seines Lebens
anhalten und erfährt in den Leipziger Jahren eine wissenschaftliche
Fundierung.
Einen Studienabschluß erlangt Jünger nicht, vielmehr zieht er nach
Eheschließung und Geburt des ersten Sohnes als Zweiunddreißigjähriger
nach Berlin und läßt sich dort als freier Schriftsteller nieder. Nach
„In Stahlgewittern“ hat er weitere kleinere Schriften über den
Krieg veröffentlicht, nun sitzt er an einem Band mit zeitkritischen und
sprachphilosophischen Prosastücken, der 1929 unter dem Titel „Das
abenteuerliche Herz“ erscheint. Man wohnt in einem Proletarierviertel
zwischen Osthafen und Schlesischem Bahnhof und zieht später in
westliche Quartiere der Reichshauptstadt. Es sind die Jahre der zu Ende
gehenden Weimarer Republik, Bankenkrach, Weltwirtschaftskrise,
Arbeitslosenheere, Notverordnungen, jeden Montag zählen die Zeitungen
die am Wochenende „angefallenen“ Toten des schwachverhüllten Bürgerkriegs
zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten auf. Berlin ist ein
Hexenkessel, in den Salons, Cafes, Kneipen und Versammlungssälen
wirbeln die Bekenntnisse, die Weltanschauungen durch- und gegeneinander:
Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Nationalbolschewisten,
Nationalsozialisten und Monarchisten. Das ist gewiß reizvoll und
vielleicht auch fruchtbar für Beobachter, Flaneure und Schriftsteller,
aber das politische System wird zerrieben und zerstampft.
Jünger geht in Berlin mit Leuten wie den Schriftstellern Ernst Toller,
Bertold Brecht und Ernst v. Salomon, mit den bildenden Künstlern Alfred
Kubin und Rudolf Schlichter, mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt, dem
Nationalbolschewisten Ernst Niekisch und dem Rätekommunisten Erich Mühsam
sowie mit Josef Goebbels um. Bunter konnte der Strauß, der sich um
hunderte von Namen erweitern ließe, schwerlich sein. Die Antennen, die
Jünger ausfährt, der Umgang mit den Vordenkern, Visionären und
„Umsetzern“ machen ihm das Entstehen neuer Schwerkraftfelder
deutlich: Aufwertung und Formierung der Massen, Faszination durch
Ideologien, Suggestion Führerprinzip. Vor diesem Hintergrund entsteht
sein 1932 erschienenes Buch „Der Arbeiter - Herrschaft und Gestalt“,
ein Riesenessay über die soziale und politische Gegenwart und vor allem
Zukunft, der in kürzester Zeit vier Auflagen erlebt und der von rechts und
links kritisiert wird.
Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 bereitet nicht nur der
Republik von Weimar ein Ende, sie radiert auch ihre kulturelle
Farbigkeit aus. Jünger, von den jetzt Übermächtigen schon auf dem Weg
zur Herrschaft mit Mandatsangeboten und Akademieofferten umworben, ein
Besuch Hitlers kommt nur durch Zufall nicht zustande, bricht seine Zelte
in Berlin ab und geht zurück ins Hannoversche, in den Landstrich der
Kindheit und des Heranwachsens. Er wählt das stille aber geschichtsträchtige
Goslar am Nordrand des Harzes zum Wohnsitz. Etagenwohnung über der
Stadt. Tägliche Gänge über die Wälle und auf den Steinberg. Zum
zweiten Mal wird er Vater.
Eigenartige Prosaminiaturen von beträchtlicher poetischer Kraft
entstehen, die auf Goslarer Szene angesiedelt sind oder Goslar zum
Gegenstand haben: „An der Abzucht“, „In den Kaufläden“, „Die
Phosphorfliege“, „Rot und Grün“. Man findet sie in der Neufassung
von „Das Abenteuerliche Herz“, die 1938 herauskommt und die Jüngers
innere Welt, seine literarischen Spektive und Mikroskope und die damit
gewonnenen Bilder genauer als die Erstfassung wiedergibt.
Drei Jahre hält es Jünger in Goslar aus, immer wieder vom Bruder
Friedrich Georg besucht, der sich bis dahin weder „gebunden“ noch
angesiedelt hat. Im Dezember 1936 ziehen Jüngers an den Bodensee. Bis
April 1939 bewohnen sie dort das sogenannte Weinberghaus auf einem
felsigen Rebenhang vor den Toren der kleinen Stadt Überlingen. Ruhe.
Abgeschiedenheit. Südliche Aura. „In Goslar wohnte ich auf dem
Nordhange“, schreibt Jünger, die Umsiedlung begründend, an Ernst
Niekisch. Und er fährt fort: „Arbeit habe ich für so lange Zeit im
Kopf, daß ich jede Belagerung und Aushungerung in geistigen Dingen zu
überstehen vermag." Richtig bringt er die halbfertigen Skripte zur
zweiten Fassung von „Das abenteuerliche Herz“ mit, dem wichtigen
Buch. Und er entwirft und beginnt eine ausgedehnte Erzählung, eine
romanähnliche Prosa, „Auf den Marmorklippen“, die Jüngers
Begegnung mit den Bodenseegegenden, mit ihrer Üppigkeit und
Fruchtbarkeit, mit dem uralten Kulturland verarbeitet und die
entsprechenden Eindrücke mit der Schilderung des zunehmend inhumaneren
zwanzigsten Jahrhunderts verbindet.
Die von der Natur und durch die Lebensart der Bewohner gesegneten
Gefilde der Marina erfahren im Buch Übermut, Indolenz und ideologischen
Zwist, aus den dunklen Waldländern im Norden drängt der sagenhafte
Oberförster mit seinen Mordbrennern und Bluthunden heran, er erobert
erst die vorgelagerten riesigen Weidebezirke mit ihren wehrhaften Gutshöfen,
dann bringt er der Marina Mord, Brand und Untergang. In die alles andere
als spannungsarme Handlung ist die Geschichte des Ich-Erzählers und
seines Bruders Otho verwoben. Die beiden haben sich nach ausgedehnten
militärischen und politischen Abenteuern an die Marina zurückgezogen,
um hier ungestört und kontemplativ ihren Neigungen, ihren
Naturforschungen und Spracherkundungen nachgehen zu können.
Doch die Gesprächskumpane und Trinkgenossen von gestern, die sie hinter
sich zurückgelassen zu haben glauben, sind zu Betreibern von Lagern,
Folterstätten und Todeszonen geworden, während eines Spähgangs nach
Norden entdecken die Brüder tief im Wald die Schinderhütte, auf einer
Lichtung, mit Blutgeruch, ausgespannten Häuten, Verwesungsdunst: „Ich
hörte, wie Bruder Otho, halb träumend, flüsterte: ‚Ja, das ist Köppelsbleek’“.
Unter „Köppelsbleek“, in realiter übrigens ein Goslarer Flurstück,
versteht Jünger „Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle
Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde
und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt“.
Bei aller geschilderten Grausamkeit aber, bei aller Trostlosigkeit von
Thema und Handlung ist „Auf den Marmorklippen“ Ernst Jüngers schönstes,
sein poetischstes Buch. Die Sprache, aus einem Guß, läuft in hinreißendem
Rhythmus, die Bilder sind von zauberischem Glanz, gleich der erste Satz
gibt sich wie ein Versprechen: „Ihr alle kennt die wilde Schwermut,
die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glücks ergreift“.
Leser aus der Generation meiner Eltern, zwischen 1900 und 1920 geboren,
mögen „Auf den Marmorklippen“ als Widerstandsbuch gelesen haben,
man kann in der entsprechenden Literatur immer wieder auf diese
Einordnung stoßen, sie ist auch nicht völlig falsch, meiner Meinung
nach allerdings deckt Jünger mit seiner Erzählung vom Untergang des blühenden
Landstrichs der Marina die ganze Kette der Gewaltumbrüche des
vergangenen Jahrhunderts ab, beginnend mit Oktoberrevolution und Bürgerkrieg
in Rußland, gipfelnd in der Judenvernichtung Hitlers und. auslaufend,
nicht endend mit Niedergang und Ruin ganzer Staaten und Machtgebilde:
allenthalben zerfallen Familien, Clans und Zweckbündnisse, brechen
Bruderkämpfe aus, werden die Verbündeten und Helfer von gestern und
vor allem die die große Menge der Wehrlosen zu Opfern, müssen die
Hellsichtigen, die Nachdenklichen in die Fremde fliehen, immer wieder,
überall.
„Auf den Marmorklippen“ erscheint im Herbst 1939. Monate vorher
schon hat Jünger erneut den Wohnort gewechselt und ist im April in das
kleine niedersächsische Straßendorf Kirchhorst zwischen Hannover und
Celle gezogen. Man mietet das aus Backstein aufgeführte leerstehende
Pfarrhaus. Jünger hat noch Zeit, seine Schreib- und Bücherklause unter
dem Dach einzurichten, den Garten anzulegen, den Schlußpunkt unter die
„Marmorklippen“ zu setzen und die Korrekturfahnen des neuen Buches
zu lesen, da bricht mit Hitlers Losschlagen gegen Polen am 1. September
der Zweite Weltkrieg aus. Jünger, jugendlicher Held des einundzwanzig
Jahre zurückliegenden ersten großen Krieges und inzwischen
vierundvierzig Jahre alt, wird als Hauptmann einberufen und zum
Kompanieführer gemacht.
Von November neununddreißig an liegt er mit seinen Männern am
Oberrhein in einer Bunkerkette. Tag für Tag trägt er Beobachtungen und
Reflexionen in sein Tagebuch ein. Wie auch auf dem anderen Ufer des
Rheins, auf der anderen Seite der „schlafenden“ Front ein Wetterwart
der französischen Armee namens Jean-Paul Sartre täglich Notizen in
sein Diarium schreibt.
Jünger veröffentlicht die Notate, die am Rhein und ab Mai 1940 während
des Vormarsches in Nordostfrankreich ab Mai 1940 entstehen, unter dem
Titel „Gärten und Straßen“ schon im Jahr darauf und 1942 in französischer
Übersetzung, während Sartres Pendant, „Les carnets de la drôle de
guerre“, erst 1983 erscheinen. Spiegelbildliche Berichterstattung, die
uns heute zugänglich ist, zur Abgleichung und Verdeutlichung.
Auch in den folgenden drei, vier Jahren sind der deutsche und der französische
Schriftsteller einander räumlich nahe, sie halten sich in der gleichen
Stadt auf, im von der Wehrmacht und dem Sicherheitsdienst besetzten
Paris. Der Unterschied zwischen den beiden Lebenslagen könnte nicht größer
sein: Sartre bildet sich zum Philosophen, Erzähler und Dramatiker der
Okkupierten aus, der Unterworfenen, und Jünger ist Stabsoffizier beim
deutschen Militärbefehlshaber in Frankreich, General Stülpnagel. Er
hat seine Dienststelle im exklusiven Hotel Majestic in der Avenue Klèber,
einem Prachtbau, und wohnt im benachbarten Hotel Raphael. Befaßt ist er
mit „Zensurangelegenheiten“, er geht mit Stülpnagel und Oberst
Speidel um, einmal muß er die kriegsrechtliche Erschießung eines
deutschen Soldaten beaufsichtigen.
Dergleichen sind „widrige Dinge“, schreibt er ins Tagebuch, er hat
anfangs die Absicht, sich krankzumelden, aber das sei „zu billig“,
der Tag mündet, wen wundert's, „in einen Anflug von Depression“.
Ansonsten läßt der Dienst genug Zeit für Gespräche und Kontakte und
wohl auch für erotische Begegnungen, er ist Stammkunde bei den Pariser
Bouquinisten und Antiquaren, er besucht Braque und Picasso in ihren
Ateliers und geht mit den französischen Schriftstellerkollegen Cocteau,
Jouhandeau, Giraudoux, Leautaud, Céline und Henry de Montherlant um.
Dieser fast tägliche freundschaftliche Verkehr ist ebenso wie Krieg,
Politik, die Künste und die kulturelle Überlieferung Gegenstand der Jüngerschen
Tagebücher, die der Autor erstmals vier Jahre nach Kriegsende, 1949,
unter dem Titel „Strahlungen“ veröffentlicht. Es handelt sich um
ein Hauptwerk. Der dicke Band enthält vier Teile mit den Einzeltiteln
„Das Erste Pariser Tagebuch“, „Kaukasische Aufzeichnungen“,
„Das Zweite Pariser Tagebuch“ und „Kirchhorster Blätter“, denen
in späteren Ausgaben der bereits erschienene Teil „Gärten und Straßen“
vorangestellt und der jüngst entstandene Teil „Jahre der
Okkupation“ zugesellt werden. Die Aufzeichnungen der „Strahlungen“
insgesamt beginnen am 3. April 1939 und enden am 2. Dezember 1948. In
eindrucksvoller zeitlicher Kontinuität und inhaltlicher Reichhaltigkeit
beschäftigt sich Jünger, Vorspiel und Nachwehen eingeschlossen, mit
dem Zweiten Weltkrieg, dem zentralen Ereignis seines Jahrhunderts, und
liefert ein literarisch und zeitgeschichtlich einmaliges Dokument, das
seinesgleichen zumindest für die in Rede stehenden Jahre allenfalls in
Victor Klemperers allzu spät herausgegebenen Tagebüchern hat.
Nach Stauffenbergs Attentatsversuch und dem Todesurteil für Stülpnagel
durch den Volksgerichtshof aus der Wehrmacht entlassen, verbringt Ernst
Jünger die letzten Kriegsmonate und die ersten drei Nachkriegsjahre in
Kirchhorst. Bei jedem Besuch in Hannover sieht er erschüttert die
Ruinen der ausradierten Innenstadt. Sein Tagebuch führt er weiter, aber
in der englischen Besatzungszone ist gegen ihn ein Veröffentlichungsverbot
erlassen worden. So zieht er 1948 mit seiner Frau und mit dem Sohn
Alexander nach dem französisch besetzten Sidwestdeutschland, nach
Ravensburg in die Nähe des Bodensees, wo er schon einmal gelebt hat.
Der ältere Sohn Ernst ist übrigens im vorletzten Kriegsjahr mit dem späteren
Verleger Wolf Jobst Siedler wegen Bildung eines Widerstandskreises zur
Frontbewährung verurteilt worden und im Alter von achtzehn Jahren bei
Carrara in Mittelitalien gefallen.
Anderthalb Jahre nach der Ankunft in Ravensburg verläßt man die Stadt
wieder und siedelt nach Wilflingen über, einem Dorf in Oberschwaben.
Zuerst wohnen die drei Jüngers im Schloß der befreundeten Familie
Schenk von Stauffenberg, dann in der zugehörigen barocken Oberförsterei,
die selbst wie ein Herrenhaus wirkt. Für Jünger, inzwischen fünfundfünfzig,
stellt Wilflingen eine Art endgültigen Hafen dar, in dem er, früherer
Umzugsfreudigkeit ungeachtet, die nächsten achtundvierzig Jahre
ausharren wird, bis zu seinem Tod. Dabei begleitet er als Chronist und
Erzähler das Land, das spätestens 1945 in einen bis dahin
unvorstellbaren Abgrund gestürzt ist und das, von den Siegern verstümmelt
und geteilt und durch die eigenen Untaten traumatisiert, Jahr um Jahr
und Jahrzehnt um Jahrzehnt versucht, wieder zu sich zu kommen, wissen zu
wollen, wer man war und wer man ist.
Die Nachkriegsproduktion Jüngers setzt mit kleineren essayistischen
Schriften wie „Sprache und Körperbau“ ein, dann folgen etwa „Das
Sanduhrbuch“ und längere Erzählungen wie „Besuch auf Godenholm“
und „Gläserne Bienen“, nicht zuletzt entstehen Romane,
„Heliopolis“ zuerst, 1949, dann „Die Zwille“ und „Eumeswil“.
Wichtig auch „Subtile Jagden“, 1967 erschienen, das Erinnerungs- und
Bekenntnisbuch des Entomologen Jünger, zu dem sich drei Jahre später
als ansatzweises Parallelunternehmen „Annäherungen - Drogen und
Rausch“ gesellt, das die jahrzehntelangen Versuche des Autors mit
Rauschmitteln schildert und versucht, angestrebte und tatsächlich
erlebte Bewußtseinserweiterungen zu beschreiben: „Ein Blick durch die
Pforte genügt.“ Das Buch, das sich wie etwa Baudelaires „Künstliche
Paradiese“ aus prä- oder postliterarischen Gründen einer dauernden
Aufmerksamkeit erfreut, kann Freunde des Kokains schon einmal zur Lektüre
des auszugsweisen Nachdrucks mit bibliophiler Qualität bringen: „Weiße
Nächte“ heißt die teure Rarität.
Wichtig aber vor allem das neue Tagebuch, das Jünger am 30. März 1965
beginnt und bis kurz vor sein Lebensende fortführt. Es erscheint unter
dem Titel „Siebzig verweht“ zwischen 1980 und 1997 sukzessive in fünf
Bänden. Die erste Eintragung, einen Tag nach dem siebzigsten
Geburtstag, beginnt: „Das biblische Alter ist erreicht - merkwürdig
genug für einen, der in der Jugend niemals das dreißigste Jahr zu
erleben gehofft hatte [...] In der Jugend ist eine trübe Grundstimmung
häufig, als ob der Herbst seine Schatten vorauswürfe. Die Welt ist
neblig, dunkle Blöcke ragen hervor. Allmählich wird die Sicht klarer;
auch Leben muß gelernt werden“.
Unser Autor tritt nun zunehmend als Zivilisationskritiker,
Weltreisender, Insektenkundler, Kulturwissenschaftler, Kommentator und,
dem fortschreitenden Alter entsprechend, als jemand auf, der Rückschau
hält und den zunehmenden Verlust von Weggefährten und Freunden zu
verzeichnen hat. Aber der Tod greift auch näher zu, Jüngers Frau
stirbt, die geborene Hannoveranerin Gretha v. Jeinsen, die 1949 und 1955
mit zwei eigenen Büchern hervorgetreten ist. Außerdem muß er 1993 den
Freitod seines jüngeren Sohnes Alexander miterleben, er ist
achtundneunzig.
Schreibend, reflektierend, als Empfänger von Preisen und Ehrungen und
als Ziel von Angriffen eine öffentliche Rolle spielend, wird Ernst Jünger
während der achtziger und neunziger Jahre immer mehr zum Zeugen und
literarischen Gestalter „seiner“ hundert Jahre. Auf die erste
Gesamtausgabe folgt ab 1978 die umfangreichere zweite, die auf achtzehn
Bände anwächst und die sich posthum um weitere drei Bände vermehrt.
Als diese drei Bände in die Buchläden kommen, hat Jüngers Leben den
Schlußpunkt gefunden, er ist am 17. Februar 1998 gestorben, knapp sechs
Wochen vor seinem einhundertdritten Geburtstag. Unter großer öffentlicher
Anteilnahme, "Tagesschau", "Heute" und fast alle
Tageszeitungen berichten, wird einer der produktivsten deutschen
Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts zu Grabe getragen, der
umstrittenste wohl auch, ganz sicher einer der bedeutendsten.
Diese Würdigung hätte ich in zurückliegenden Zeiten nicht immer und
ohne weiteres unterschrieben.
Ich erinnere mich: zwischen unserer Flucht aus meiner sächsischen
Geburtsstadt Frohburg im Herbst 1957 und der Ansiedlung in Reiskirchen
bei Gießen zwei Jahre später schenkten uns die Mannheimer Freunde
meiner Eltern quasi als Begrüßungsgabe ein Prosabändchen, „Das
Sanduhrbuch“, Verfasser Ernst Jünger. Damals übrigens kaum älter
als ich heute. Die Lektüre des „Sanduhrbuchs“ langweilte mich nicht
gerade, ich war aber auch nicht sonderlich gefesselt. Was Jünger
abhandelte, wovon er in diesem Buch sprach, Ablauf der Zeit, ihr
Verstreichen, ihre Messung, war nicht mein Problem und nicht meine
Sache. Es gab Spannenderes zu entdecken: Gegenwartsenträtselung,
Stellungnahme, Provokation.
Das alles fand ich bei Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Martin Walser,
Günter Grass, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger. So kam es, daß
ich den eher besinnlich wirkenden Jüngerschen Band beiseitelegte und
vergaß, obwohl es sich höchstwahrscheinlich um eine Erstausgabe
handelte, Jüngers Auflagen waren damals nicht hoch. Möglicherweise
landete mein „Sanduhrbuch“, das eigentlich den Eltern gehörte,
zusammen mit vielen anderen Büchern eines Tages im Antiquariat. Ich
habe ja ab Anfang der siebziger Jahre viele Teile, beinahe ganze
Sektoren meiner Büchersammlung ausgetauscht, nicht nur aus Platzgründen.
Eine Verschiebung des Interesses hin zu den Großen der Literatur, groß
an Bedeutung, an Phantasie und auch an Umfang des Werks, spielte eine
Rolle: Stendhal, Balzac, Turgenjew, Tolstoi, Zola, Aragon. Nach einem förmlichen
„Realienjahrzehnt“, das aus der Beschäftigung mit Geschichte und
Zeitgeschichte bestand, beispielsweise den Kriegen, Bürgerkriegen und
Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, fing ich wieder an,
literarische, belletristische Arbeiten zu lesen, sie schoben sich für
mich auf den ersten Platz, ich entdeckte immer Neues, was von der auf
Meier Helmbrecht“, „Faust“ und „Bahnwärter Thiel“ fixierten
Schule totgeschwiegen und versteckt worden war.
Vorher, noch während der Friedberger Internatszeit, also 1960 oder
1961, schaffte ich mir von meinem knappen Taschengeld, das ich durch
kleine Ungenauigkeiten bei der wöchentlichen Abrechnung mit den Eltern
geringfügig aufbesserte, Jüngers „Stahlgewitter“ an. Der Bericht
über Stellungskrieg und Materialschlachten interessierte mich schon
eher. Dennoch habe ich auch dieses Buch nicht behalten. Vielleicht
sprach mich der Tenor von Barbusses Antikriegsromanen mehr an.
Allerdings besitze ich das anklagende „Le feu“ ebenfalls nicht mehr.
Möglicherweise war der Wiederverkauf der „Stahlgewitter“ speziell
auf meine Ausgabe zurückzuführen, die aus den späten zwanziger Jahren
stammte und von Ausstattung und Druckbild her so etwas wie einen
deutschnationalen Anstrich hatte, der auf den Inhalt, wie ich ihn
wahrnahm, ausstrahlte. So sehr ich auch immer die Schriftart Fraktur, in
der mir ganz früh Karl Mav, Hans Dominik und Vaters Lesebücher aus dem
Bornaer Realgymnasium unter die Augen kamen, geschätzt habe, so
deutlich sehe ich ihre nicht durchweg erfreuliche Eigenart einer
gewissen Unübersichtlichkeit. Bei „janusköpfigen“ Texten, die ein
modernes und antimodernes
Doppelgesicht zu haben scheinen und dadurch einem selbst, in der Rolle
als Leser, Einschätzung und Zuordnung schwermachen, ist die luzide
Antiqua besser, ein gutes Scheidemittel.
Erst 1980 änderte sich mein Blick auf Ernst Jünger und seine Bücher.
Das war, als Heinz Ludwig Arnold, der Herausgeber von text + kritik, mir
die zweibändige Neuausgabe der „Strahlungen“ schenkte. Der Schnitt
durch den Vernichtungskrieg, durch die bis heute offene Wunde. Von
dieser Leseerfahrung an, im Gefühl, einer meiner Jahrhundertfiguren
oder, weniger preziös, einem meiner Leitfossilien begegnet zu sein,
neben Harry Graf Kessler, Harro Schulze-Boysen, Elias Canetti, Johannes
R. Becher, Otto Rühle und Conrad Felixmüller (welche Lebenswege das
alles!), entwickelte sich in mir ein deutliches, auch im Emotionalen
angesiedeltes Interesse an Jünger.
Zumal ich auf kleine „Nachbarschaften“ stieß. Beispielsweise
entdeckte ich, daß der Vater Jüngers seit der Inflation durch
Jahrzehnte die Löwenapotheke am Markt in Leisnig innehatte und Sohn
Ernst sich ebenso wie Bruder Friedrich Georg öfter besuchsweise in der
sächsischen Kerngegend des Muldenlandes aufhielt, die im Westen
unmittelbar an unseren Frohburger Zipfel der Leipziger Tieflandsbucht
angrenzt.
In der Folgezeit, nach dem ersten Blättern in „Strahlungen“,
ergaben sich für mich immer wieder „postalische“ Kontakte mit Jünger,
er schickte mir Briefe und Karten und schrieb Widmungen in seine Bücher,
1986 z.B. dedizierte er mir seine Neuerscheinung „Autor und
Autorschaft“, einundneunzig Jahre war er zu dieser Zeit.
Arnold, um das noch nachzutragen, war Anfang der sechziger Jahre, bevor
er zum Studium nach Göttingen ging, Feriensekretär von Ernst Jünger
gewesen, ähnlich wie kurze Zeit später der Dichter Albert v.
Schirnding. Kurzzeitig also Jüngers rechte Hand, antwortete Arnold mir
seinerzeit auf einen Brief, den ich von Friedberg aus an Jünger
geschrieben hatte. Viele Jahre später, vielleicht Ende einundachtzig,
als ich in Zusammenhang mit dem Umzug vom Holtenser Berg in die
Herzberger Landstraße in Göttingen meine Papiere verpackte und sie
dabei flüchtig durchsah, fand ich diesen Antwortbrief wieder und übergab
ihn Arnold während der Feier seines fünfundvierzigsten Geburtstages,
an der Grass, Dürrenmatt, Albrecht Schöne und Günter Patzig
teilnahmen. Das anfangs einigermaßen verkrampfte Fest ging in ein maßloses
Besäufnis über, mit einer nicht ganz harmlosen Anpflaumerei zwischen Dürrenmatt
und Grass.
Vielleicht fing Arnold damals an, Jünger in neuem Licht zu sehen.
Jedenfalls erschien in text + kritik ein kleiner Aufsatz von Helmut Heißenbüttel,
Überschrift „General i.R. als Goethe“, der Jünger zum Gegenstand
hatte und der mich beim Lesen erschreckte, ja richtiggehend beklommen
machte, wegen des feindseligen, vernichtungsbereiten Tons.
1987 bin ich mit H. und Wolfram auf einer der Fahrten zu Axel Kahrs ins
Hannoversche Wendland in Kirchhorst kurz vor Celle gewesen, ich habe im
dortigen Pfarrhaus neben der Feldsteinkirche und dem kleinen Friedhof
vorgesprochen und das mehr als bescheidene niedrige Arbeitszimmer Jüngers
unter dem Dach fotografiert, seine Klause, aus der inzwischen eine
Abstellkammer geworden war. Vier Jahrzehnte lag es zurück dass Jünger
sich und seine Familie in dem verlotterten Anwesen eingemietet hatte,
neun Jahre lang. Die Pfarrersfrau erzählte auf meine Nachfrage von
einem weißhaarigen alten Mann, der an einem Winterabend mit Begleitung
auf der anderen Straßenseite gestanden und herübergeguckt habe. Im
Jahr darauf erkannte sie Jünger im Fernsehen wieder.
Ich schickte die Kirchhorster Fotos nach Wilflingen. Da ich in der
fremden Wohnung gehemmt und irritiert die Belichtung nicht angepaßt
hatte, war der Raum viel zu dunkel geraten. Dafür konnte man die
Innenseite der Giebelwand mit dem Fenster und den Wasserspuren auf der
Tapete um so besser erkennen. Als Dank für die Fotos kamen das
Nachkriegstagebuch „Jahre der Okkupation“ mit mancherlei
Kirchhorster Notaten und die gerade erschienene Kriminalgeschichte
„Eine gefährliche Begegnung“ nach Göttingen.
Einen Besuch in der Wilflinger Oberförsterei habe ich nicht zu machen
gewagt. Schon 1983, als ich dergleichen überlegte, schien mir Jünger für
ein Lindringen zu alt zu sein. Dabei hätte ich mir brennend gerne ein
unmittelbares Bild von ihm gemacht. Eine Viertelstunde würde genügen.
Meine Bedenken aber bewirkten, daß ich mich mit den Büchern, Widmungen
und handschriftlichen Zeilen zufriedengab, mit den Devotionalien aus
Papier, die mir schon während der Friedberger Heimschülerzeit so viel
bedeuteten, als ich mit Lukacs, Bloch, Hans Mayer, Arno Schmidt, Arnold
Zweig, Armin T. Wegner und Peter Huchel korrespondierte. Warum auch
sehen, tröstete ich mich, man kann auch enttäuscht werden, wie manche
Besucher Goethes. Andere Autoren waren weniger zurückhaltend und fanden
in Jüngers spätester Lebensphase noch Zutritt: Herhaus, Heiner Müller,
Ulrich Schacht.
Als Steigerung gab es für mich nur die literarische Annäherung. 1994,
während unseres dritten Sommers in Saas Fee, Jünger stand inzwischen
im hundertsten Lebensjahr, entwarf ich an den Abenden nach unseren täglichen
Wanderungen auf Höhen von zweieinhalb bis dreitausend Meter einen
Katastrophentext aus dem alpinen Bereich, aus der Welt der Bergsteiger
und Leichtsinnstouristen. Dieser Text, in der ersten Fassung acht Seiten
lang, stand Anfang des folgenden Jahres in Anspielung auf die Anthologie
„Der gefährliche Augenblick“ von 1931, Jünger hatte eine
Einleitung „Über die Gefahr“ beigesteuert, unter dem Titel
„Fortdauer des Augenblicks“ in der Festschrift zum Zentenarium Jüngers
und erschien zur gleichen Zeit in wesentlich erweiterter Fassung separat
bei Ulrich Keicher in Warmbronn, mit einer gedruckten Widmung für den
Jubilar und einer Doré-Montage von Klaus Büscher, die das Whympersche
Desaster am Matterhorn zeigte.
Vom Festschrifthonorar, sieben Hundertmarkscheinen, um die ich mit dem
Verlag hartnäckig feilschen mußte, kaufte ich die zweite Gesamtausgabe
Jüngers. Die zehn Bände der ersten Werkausgabe besaß ich längst. Jünger,
inzwischen über hundert, signierte mir den „neuen“ ersten Band,
„Tagebücher Erster Weltkrieg“, gerade so, wie er es auch mit dem älteren
gemacht hatte. Dazugesetzt hatte er nun eine handschriftliche
Reminiszenz an seine acht Jahrzehnte zurückliegenden Anfänge, nämlich
die ersten drei Sätze seiner ersten Buchveröffentlichung, mit denen
auch beide Gesamtausgaben beginnen: „Der Zug hielt in Bazancourt,
einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubigem
Staunen lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front“.
Gerade eben, da ich das schreibe, merke ich, daß das Wort „Staunen“
im Zitat eine Abwandlung durch den hochbetagten Jünger darstellt,
offenbar aus dem Augenblick heraus, denn im Buch ist von „Ehrfurcht“
die Rede; mit „ungläubiger Ehrfurcht“ hören die jungen Männer zur
Front hinüber.
Zusätzlich zu der Eintragung in den ersten Band der großen Ausgabe
schrieb mir Jünger im August sechsundneunzig eine Widmung auf ein Foto,
das ihn am Wilflinger Fenstertisch zeigt, in die Durchsicht von Papieren
vertieft. Stefan Moses hatte mir das Bild ein paar Wochen vorher über
Friedrich Denk aus Weilheim zukommen lassen.
Im Herbst des folgenden Jahres erschien als letzte Veröffentlichung
Ernst Jüngers zu Lebzeiten der fünfte Teile der Tagebuchsequenz
„Siebzig verweht“. Das Buch lag neben der gerade herausgekommenen
Monografie über die Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen
und dem letzten Band der großen Hanserschen Fontane- Ausgabe auf meinem
Weihnachtstisch. Vom Umfang her war „Siebzig verweht V“ deutlich
schmaler als die Vorgänger eins bis vier. Auch die Dichte mancher
Notate schien leicht vermindert. Und doch war ich gleich beim ersten Blättern
und Lesen gefesselt wie eh und je. Zudem hatte ich niemals vorher, das
Alter des Autors kennend, Texte eines Hundertjährigen gelesen.
Sieben, acht Wochen danach Jüngers Tod, am gleichen 17. Februar 1998,
an dem ein paar Stunden später auch H.s Mutter starb, völlig überraschend,
und wir nachts durch das nordhessische Bergland und am Vogelsberg vorbei
nach Steinheim rasten, mit den ersten Meldungen über Jünger im
Autoradio. Als wir in der Untergasse ausstiegen, war der Leichenwagen
schon weggefahren, und die Nachbarinnen hatten das Bett abgezogen und
die Wäsche in die Maschine gesteckt. Jetzt gab es Kaffee. Unsere
Fassungslosigkeit, überlagert vom dörflichen Ablauf. Dann kamen die
Verwandten von außerhalb. Beim Eintreten Blicke zum leeren Sessel am
Fenster. Wortkarges Zusammensitzen. Über uns im Oberstock die ganze
Zeit H.s Vater, auf der Suche nach einem Zwanzigmarkschein. Rumorte in
allen Schränken. Erst Tage später dachte ich wieder an Jünger.
Werke (Auswahl):
In Stahlgewittern (1920); Der Kampf als inneres Erlebnis (1922); Das
abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht (1929); Der
Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932); Afrikanische Spiele (1936); Auf
den Marmorklippen (1939); Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von
1939 und 1940 (1942); Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an
die Jugend der Welt (1946); Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt
(1949); Strahlungen (1949); Der Waldgang (1951); Das Sanduhrbuch (1954),
Rivarol (1956); Gläserne Bienen (1957); Strahlungen. Band 1 – 2
(1963); Subtile Jagden (1967); Annäherungen. Drogen und Rausch (1970);
Die Zwille (1973); Ausgewählte Erzählungen (1975); Eumeswill (1977); Sämtliche
Werke in 18 Bänden. Ausgabe letzter Hand (1978ff.); Siebzig verweht.
Band 1 – 5 (1980 – 1997); Autor und Autorenschaft (1984); Eine gefährliche
Begegnung (1985); Zwei Mal Halley (1987); Die Schere (1990); Auswahl aus
dem Werk in fünf Bänden (1994).
Über Ernst Jünger:
Martin Meyer: Ernst Jünger. München 1990.
Norbert Dietka: Ernst Jünger – Vom Weltkrieg zum Weltfrieden.
Biographie und Werkübersicht 1895 – 1945. Bad Honnef 1994.
Paul Noack: Ernst. Jünger. Eine Biographie. Berlin 1998.
Ernst Jünger im Internet:
http://www.juenger.org/about.php
- "Ernst Jünger in Cyberspace". Ausführliche Biographie
und sehr reichhaltige Bibliographie, Essays und weiteres Material, u.a.
Fotos aus verschiedenen Lebensaltern Jüngers. Von J. King.
http://www.geocities.com/Athens/Delphi/2094/juenger.htm
- Tabellarischer Überblick über Leben und Werke und einige Links. Von
W. Krauß.
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