Burckhard Garbe 

 "Jeder Mensch muß sich 
in der Welt selbst gelten machen"

Adolph Freiherr Knigge

Geboren am 16. Oktober 1752 auf Schloß Bredenbeck bei Hannover, gestorben am 6. Mai 1796 in Bremen

Gefällt dem Fürsten ein Schmeichler, ein müßiggehender Hofschranze vorzüglich wohl, so gibt er ihm den Rang eines Feldherrn und überschüttet ihn mit Reichtümern, die hundert arbeitsame Fami­lien aus dem Elende retten würden. So sind denn die unnützesten Bürger die vornehmsten und reichsten und die, welche mit ihrer Hände Arbeit den Staat aufrechterhalten, 

verachtet und dürftig.  
Der dies 1792 publiziert, ist ein vierzigjähriger Baron, ein Freiherr, den al­ler­dings seine bitte­ren Erlebnisse bei Hofe zum adligen Aussteiger ge­macht haben, so dass er das Adelsprädikat von aus sei­nem Namen streicht. Ab sofort will er nicht mehr der Freiherr von Knigge sein, sondern der freie Herr Knigge. Mit vielen, ähnlich geäußerten Positionsbestimmungen seines Denkens polarisiert Knigge wie kein zweiter Schriftsteller im ausge­henden achtzehnten Jahrhundert die Nation.

Seinen Standesgenossen gilt er natürlich als Klassenverräter; man kritisiert seine verkehrte Denkungsart, nennt ihn einen der schamlosesten Volksaufwiegler in Deutschland und klassifiziert seine Schriften als schlecht maskierte Empfehlung der Revolution.

Den aber ebenfalls aus aufklärerischem Geist nach Gleichheit und Freiheit strebenden, für bürgerliche und republikanische Tugen­den eintretenden Demokraten und (im damaligen Sinne) liberal Ge­sinnten ist er ein wichti­ger politischer Autor und Weggefährte.

Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge wird ge­boren am 16. 10. 1752 in Bredenbeck bei Hannover als Sohn von Philipp Carl Freiherr von Knigge und dessen Frau Louise Wilhelmine, geb. Knigge. Den Eltern gehören die Güter Bredenbeck und Pattensen, der Vater ist promovierter Jurist und Hofgerichtsrat in Hannover.

Im elften Lebensjahr stirbt ihm die Mutter, im 14. der Vater, im 15. die einzige, ältere Schwester. Bisher wurde Adolph von Knigge in Bredenbeck von Privatlehrern unterrichtet, nun schicken ihn seine Vormünder nach Hannover zu einer privaten Unterrichtsanstalt. Die Vermögenslage ist katastrophal: die mit über 100.000 Reichstalern verschuldeten Güter werden aufge­teilt, er erhält eine Rente.

1769 tritt Knigge in seinen ersten Orden, den studentischen Concordienorden; zum Wintersemester immatrikuliert er sich an der juristischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen und wohnt bei dem Verleger Dieterich, wie später Bürger und Lichten­berg. Im nächsten Jahr wird er Meister der Gustavs-Loge des Concor­dienordens. Im Frühjahr 1771 besucht er seine Tante in Kassel, die mit dem dortigen Minister von Althaus verheiratet ist, und wird zum Assessor bei der Kriegs- und Domainenkammer ernannt, kurz darauf zum Hofjunker. Zur Beendigung seines Studiums gewährt ihm der Landgraf Urlaub. Ein Jahr später zieht Knigge nach Kassel und tritt seine Ämter an.

Dort nimmt ihn 1773 die Freimaurerloge Zum gekrönten Lö­wen als Mitglied auf, eine Loge der Strengen Observanz. SchonKnigges Vater war aktiver Freimaurer gewesen; und so faszinieren Lo­gen auch den Sohn, bieten sie doch im Zeitalter der Aufklärung vor der Französischen Revolution der bürgerlichen Aufklärungsbewegung intellektuellen Freiraum. Die Mitglieder, die aus allen Ständen kom­men, erhalten geistige Anleitung in Form von Lehre und dauernder Beurteilung von Charakter und Gesinnung; so können sie aufsteigen von Stufe zu Stufe, drei Grade, ganz wie im Maurerhandwerk vom Lehrling über den Gesellen zum Meister. Die Strenge Observanz führt sogar neun Grade ein. Hier entfaltet Knigge intensive Tätigkeit durch Korrespondenz mit auswärtigen Mitgliedern und Besuch von Kon­venten und beweist großes Organisations- und, bei Zerstrittenheit, Schlichtungstalent.

Im August heiraten Adolph von Knigge und Henriette von Baumbach, im Jahr darauf wird die Tochter Philippine Auguste Ama­lie geboren.

Noch 1773 wird er zum Ko-Direktor der hessischen Tabakfa­brik ernannt, aber Intrigen bei Hof werden für ihn so unerträglich, dass er im März 1775 seine hessische Hofkarriere gescheitert sieht, mit seiner Fami­lie Kassel in südöstlicher Richtung verlässt und zur Schwieger­mutter auf das Baumbachsche Gut in Nentershausen zwischen Bebra und Sontra zieht. Nun muss ein neuer Beruf her. Knigge versucht sein Ta­lent in mehreren Künsten: zunächst musiziert er, am liebsten auf Querflöte und Fagott, und komponiert eine beträchtliche Anzahl mu­sikalischer Werke, von denen überliefert sind: ein Konzert für Fagott und Orchester in F-Dur, sechs Klaviersonaten fürs Cembalo und zwei Lieder. Die nicht erfolgreichen Sonaten wird er später im Aufrichtigen Geständniß meiner Poligraphie selbstkritisch einstufen als sehr brauchbar, um Schuhe und Stiefel darinn einzupacken, denn sie sind auf sehr starkem Papiere gedruckt. Außerdem schreibt er ein erstes Theaterstück, Warder, ein Drama in fünf Aufzügen, das zunächst aber nicht aufgeführt wird. Doch bittet ihn der ablehnende Hamburger Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schröder, französische Lustspiele zu übersetzen. Es kommt zur Zusammenarbeit.

Inzwischen bewirbt sich Adolph von Knigge um ein Hof­amt in Berlin, in Darmstadt und in Gotha, allerdings ohne Erfolg. Im Sommer 1776 verschafft ihm Goethe die Ernennung zum Kammer­herrn Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar: ein Trostpreis. 1777 zieht die Familie erneut um, diesmal geht es nach Hanau, wo Knigge bei Hofe den Maître de plaisir gibt, allerdings ehrenamtlich. Aber hier gründet er ein Liebhabertheater, für das er auch Stücke schreibt und komponiert; im Hanauischen Magazin erscheint 1778 als sein erster Beitrag Etwas über Theater. Die neugegründete Hanauer Loge Wilhelmine Caroline nimmt ihn auf.

1779 publiziert Knigge seine erste Monographie und gibt ihr den monströsen Titel Allgemeines System für das Volk Zur Grundlage aller Erkenntnisse für Menschen aus allen Nationen Stän­den und Religionen heraus gegeben. Im selben Jahr veröffentlicht er zwei Bände Theaterstücke und beginnt, Rezen­sionen zu schreiben für die von Friedrich Nicolai herausgegebene All­gemeine deutsche Bi­bliothek, für die er bis zu seinem Tode mehr als 1200 Beiträge liefert, allerdings mit gelegentlichem Murren.

Schon wieder zieht die Familie Knigge um, 1780, diesmal nach Frankfurt am Main. Hier lernt er durch den Marquis Constanzo den vom Würzburger Ex-Jesuiten Adam Weishaupt 1776 gegründe­ten, radikal-aufklärerischen Illuminatenor­den kennen, zuerst Perfekti­bilisten benannt, über den Theodor Fontane rund achtzig Jahre später im Kapitel Potsdam und Umgebung seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg schreibt: Der Hang nach Macht, der im absoluten Staat (außer im Dienste desselben) keine Befriedigung fand, schuf, so sagten wir, die Geheimbündelei über­haupt; der Hang nach Freiheit, der im absoluten Staate begreifli­cherweise nicht besser fuhr, als jener, schuf eine besondere Abzwei­gung, eine ideale Blüte der Geheimbün­delei: den Illuminatenorden. Dieser Orden, auf seinen gedanklichen Kern angesehen, war kaum etwas anderes als ein modifizierter, viel­leicht ein potenzierter Frei­maurerorden. Weishaupt selbst erläuterte die Ziele des Ordens der Erleuchteten mit folgenden Worten: Der Endzweck des Ordens ist, daß es Licht werde und wir sind die Streiter gegen die Finsterniß. [...] der Endzweck des Ordens ist frei zu sein.

Knigge tritt bei den Illuminaten ein, weil er hier die Verwirkli­chung eines Traums erhofft: die Freimaurerei gründlich zu reformie­ren; und tatsächlich hat er unter dem Ordensnamen Philo, Liebhaber, durch rastloses Wirken und großes Geschick viele neue Mitglieder geworben, vornehme, gelehrte und rechtschaffene Männer, besonders in Norddeutschland, darunter Goethe, Herder, Musäus, Hufeland, Ni­colai, und sich bald zum zweiten Mann nach Weishaupt emporgear­beitet. Fontane berichtet dann weiter: Aber diese Blüte, so rasch sie gezeitigt war, so rasch ging sie vorüber. Knigge und Weishaupt, von verschiedenen Ansichten geleitet, entzweiten sich; der erstere trat zu­rück, mit ihm eine Anzahl Mitglieder, und so in sich geschädigt und zerfallen, erlag der Orden dem Sturme, der jetzt von außen her ihn traf. Alles Illuminatentum wurde in Bayern, das den Hauptsitz bildete, verboten und Weishaupt 1785 seines Amtes entsetzt. Er fand bei dem Herzoge Ernst von Gotha Aufnahme; aber der Orden selbst erlag der staatlichen Obergewalt, die ihn, mit Prozessen und Strafverfügungen energisch vorgehend, wie einen Brand austrat. - Wie sehr Knigges Verdienste um deutsche Logen noch heute im Bewusstsein sind, zeigt die Gründung einer Freimaurerloge zur Bauhütte Adolph Freiherr Knigge im Juni 2002 in Bremen, in der Frauen und Männer – was vordem undenkbar war – gleichberechtigte Mitglieder sind.

Adolph von Knigge hatte in den Zwischenjahren erstaunli­cherweise seine schriftstellerische Arbeit noch intensivieren können, hatte 1781 Der Roman meines Lebens vierbändig herausgegeben so­wie die Schrift Über Jesuiten, Freimaurer und Rosenkreuzer. 1783 ist mal wieder ein Umzug fällig, länger als vier Jahre bleibt er nir­gends, diesmal zieht es ihn nach Heidelberg. Er schreibt fleißig, viel, vielleicht zu viel, selbstironisch gesteht er ja auch später seine Poli­graphie ein, seine Vielschreiberei; nicht ohne Grund umfasst die von Paul Raabe 1978-93 veranstaltete Sämtliche-Werke-Ausgabe 24 Bände. Aber er ist damit einer der ersten professionellen Schriftstel­ler Deutschlands: Ich habe nicht aus elender Autor-Sucht, sondern mit Unlust, ums Brod, geschrieben. So muss er - um auf den schönen Buchtitel Gumppenbergs anzuspielen - das teutsche Dichterroß in al­len Gangarten vorreiten und breitgefächert fast alle Textsorten ver­fassen: Romane, Satiren und Polemiken, Rezensionen, Reisebeschrei­bungen und Predigten, Übersetzungen, Theaterstücke, Essays und politische Schriften. Schnell hintereinander entstehen eine dreibän­dige Satire Geschichte Peter Clausens (1783-85), drei Bände Predigten (1783-88), Ge­sammlete poetische und pro­saische klei­nere Schriften in zwei Bänden (1784-85), Journal aus Urfstädt (1785-86), Beytrag zur neuesten Ge­schichte des Freymaurer­ordens in neun Gesprächen (1786), irgendwie muss er ja das Erlebte verarbeiten. Er übersetzt die vier Bände Confes­sions von Jean Jaques Rousseau (1786-90) und 1787 erscheint Die Verir­rungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg.

Was bedeutet Literatur für ihn? Und was die Literaten? Das hat er - ich greife vor - 1793 in seinem Buch Über Schriftsteller und Schriftstellerey dargelegt. Knigge hat längst begriffen, dass es für Li­te­ratur einen Markt gibt, den Angebot und Nachfrage bestimmen. Er sieht den täglich in allen Ständen wachsenden Hang zur Lectüre und erkennt: Der Buchhändler [...] hängt wie jeder andre Handelsmann auch von der Mode und den Launen des Publicums [...] ab. Der gute Schriftsteller solle daraus seine Lehre ziehen und sich zwar nach der Stimmung des Publicums richten, ohne aber seine Grundsätze oder sein Gefühl für das wahrhaftig Gute, Nützliche und Schöne zu ver­leugnen. So bringt der Aufklärer Knigge die Schriftsteller in ein drei­stufiges Ranking: Ich würde daher die Schriftsteller so classificieren, daß ich denen, welche practisch belehren und bessern, den ersten Platz anwiese, den darauf folgenden solchen Männern einräumte, welche in speculativen Wissenschaften neue, kühne Aussichten eröff­nen, und dann einen andern Grad von Verdienst Denen zugestünde, die bloß für die angenehme Unterhaltung arbeiten.

Vier Jahre sind herum, eine für Knigges Bio­graphie lange Sess­haftigkeit hat ein Ende, es geht 1787 in heimische Ge­filde, nach Han­nover. Und nun erscheint Ueber den Umgang mit Menschen. In zwey Theilen. Hannover 1788, das Buch, das ihn "unsterblich", jedenfalls sprichwörtlich machen sollte.

Kleiner liturgischer Knigge - Auslands-Knigge - Der Zicken-Knigge - Knigge for Business - Karriere-Knigge - Der neue Knigge - Der neue Erotik-Knigge - Ess-Knigge - Der Knigge für Hund und Halter - Kinder-Knigge - Knigge für Katzen - Lesben-Knigge - Der Öko-Knigge - Der Anti-Knigge ... ...

Im Verzeichnis lieferbarer Bücher sind zur Zeit weit über einhundert solcher Buchtitel mit dem Stichwort Knigge auf­geführt. Mit allen diesen hat Adolph von Knigge fast nichts zu tun.

Nie hat er über den „richtigen“ Platz von Messer, Gabel und Löffel auf dem Esstische philosophiert, nie befohlen, daß Fisch nicht mit dem Messer zu schneiden sei (weshalb auch Peter Bamms Hai­fisch-Anekdote in aller Form zurückzuweisen ist [„Aber, Herr von Knigge, Fisch mit dem Messer?“]). Auch wann und wo Frack und wo und wann Smoking angemessen sei, hat er nirgends erörtert oder gar festlegen wollen. All das ist Ondit und zeugt von Unkenntnis des ori­ginalen Buchs.

Was aber will Knigge mit seinem Buch Ueber den Umgang mit Menschen? In seiner Vorrede bekennt er stolz: Der Gegenstand dieses Buchs kommt mir groß und wichtig vor, und irre ich nicht, so ist der Gedanke, in einem eignen Werke Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen zu geben, noch neu. [...] Vielleicht wird man mir Weitschweifigkeit vorwerfen und mich beschuldigen, ich hätte Räsonements [!] eingemischt, die nicht eigentlich zu den Regeln über den Umgang mit Menschen gehören; allein es ist hier schwer, die wahre Grenzlinie zu finden. Wenn ich zum Beispiel lehren will, wie vertraute Freunde im Umgange miteinander sich betragen sollen, so scheint es mir sehr passend, erst etwas über die Wahl eines Freun­des und über die Grenzen freundschaftlicher Vertraulichkeit zu sagen, und wenn ich über das Betragen im geselligen Leben in manchen Klassen von Menschen rede und zeige, wie man ihrer Schwächen schonen soll, so stehen philosophische Bemerkungen über diese Schwächen selbst und über deren Quellen nicht am unrechten Ort.

Hier legt er in zwei Beispielen seine Herangehensweise an die Thematik und die Intentionen seiner umfassenden Planung dar, und die ist wirklich neu.

Knigge gliedert sein Buch in drei Teile: der erste behandelt zunächst Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen und widmet sich dann dem Umgang mit sich selbst sowie dem Umgang mit Leuten von ver­schiedenen [...] Temperamenten [...]. Der zweite Teil erörtert zu­nächst allgemein den Umgang unter Personen von verschiedenem Alter und dann speziell unter Eltern, Kindern und Blutsverwandten, danach unter Eheleuten und mit und unter Verliebten; es folgt der Umgang mit Frauenzimmern, dann unter Freunden, danach zwischen Herrn und Diener, wonach als nächste Gruppen Hauswirte und Nach­barn und dann Wirt und Gast folgen, danach Wohltäter und Wohl­tatempfänger, Lehrer und Schüler, Schuldner und Gläubiger, schließ­lich einzelne Gruppen wie Feinde, Kranke, Arme usw. und dann die Erörterung spezieller Situationen wie: In [...] Gefahren. Auf Reisen. Bei feierlichen Gelegenheiten. Beim Tanze. Der dritte Teil macht den Schritt vom Privaten zum Öffentlichen und gibt Ratschläge Über den Umgang mit den Großen der Erde, mit Fürsten, Vornehmen und Rei­chen, danach mit Geringern, dann mit Hofleuten und ihresgleichen; als nächste Gruppen folgen Geistliche, Gelehrte und Künstler, Ärzte, Juristen, Soldaten und Offiziers, Kaufleute, Buchhändler und Nach­drucker, Sprachmeister und Musikmeister, Juden, Bauern und Land­leute, Aventuriers, Spieler, mystische Betrüger. Es folgt ein Kapitel Über geheime Verbindungen, ein weiteres Über die Art, mit Tieren umzugehn - Heine wird ihn einen tiefen Kenner der Menschen und der Bestien nennen -, eins Über das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser und schließlich Schluß.  

Schon die Überschriften seiner Bemerkungen und Vorschriften sind aufschlußreich. Ich nenne aus dem ersten Kapitel des ersten Teils die ersten zwölf (von dreiundsechzig): 1) Jeder Mensch muß sich in der Welt selbst gelten machen. Anwendung dieses Satzes. 2) Strebe nach Vollkom­menheit; aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit! 3) Sei nicht zu sehr ein Sklave der Meinung andrer! 4) Enthülle nicht die Schwächen Deiner Nebenmenschen! 5) Eigne Dir nicht das Verdienst andrer zu! 6) Verbirg Deinen Kummer! 7) Rühme nicht zu laut Dein Glück! 8) Verliere nicht die Zuversicht! 9) Suche Gegenwart des Gei­stes zu haben! 10) Nimm, so wenig als möglich, von andern Wohltaten an! 11) Halte streng Wort und sei wahrhaft! 12) Sei pünktlich, or­dentlich, fleißig!

Das sind appellative Sätze, imperativische, Anweisungen, Ge- und Verbote mit Verben im Imperativ, und häufig steht als Satz­schlusszeichen das Ausrufezeichen. Als zweite Satzform tauchen auf, deutlich seltener: konstatierende Sätze zur jeweiligen Thematik, Er­fahrungen, Einsichten, Weisheiten: Man kann in jeder Gesellschaft etwas lernen. - Es ist nicht mehr Mode, ältern Leuten Achtung zu be­weisen. - Nicht alle Großen der Erde haben die Fehler ihres Standes. Es gibt edle, gute Menschen unter ihnen. Sehr selten Fragesätze: Soll man viel oder wenig in Gesellschaften gehn? - Mit wem soll man um­gehn? - Ist es besser, daß der Mann klüger sei als das Weib, oder um­gekehrt?

Der Umgang des Menschen mit dem Menschen gestaltet sich durch sprachliche bzw. verbale und durch nichtsprachliche bzw. non­verbale Kommunikation, letztere realisiert durch Mimik, Gestik, Kör­persprache usw., oft die erstere ergänzend. Die verbale Kommunika­tion bzw. Konversation wird von der modernen Sprachwissenschaft in der pragmatischen Forschungsdisziplin der Gesprächsanalyse unter­sucht. Hier spielen sog. Konversationsmaximen eine wichtige Rolle, die 1968 der Linguist Herbert Paul Grice für eine gelingende, effek­tive Kommunikation postuliert hat.

Knigge fordert: Sei wahrhaft! Sage jedem etwas Lehrreiches oder Angenehmes! Rede nicht zu viel und nicht langweilig! Noch von Dingen, die nur Dich interessieren! Widersprich Dir nicht im Reden! Wiederhole Dich nicht! Vermeide Zweideutigkeiten! Unnütze Fragen! Über Verschwiegenheit. Hier sind also Grice‘ Qualitäts- (wahr!), Quantitäts- (informativ!), Relevanz- (relevant!) und Modalitäts­ma­xime (klar!, nicht mehrdeutig!, kurz!) alle bereits vorformu­liert zu finden.

 Wie begründet Knigge seine Absicht, dieses Buch zu schrei­ben, woher kommt sein Sendungsbewusstsein? Gab es nicht schon genügend Benimm- und Anstandsbücher, Tischzuchten und Manier­bücher, Bildungs- und Erziehungsbücher seit Jahrhunderten?

Einige Beispiele: schon Karl der Große ließ höfische Um­gangsformen aufschreiben, Thomasin von Zerclaere verfasste 1216 seine Moral- und Tugendlehre in zehn Büchern Der wälsche Gast, Baldesar Castiglione schrieb 1528 Das Buch vom Hofmann, zwei Jahre später folgte Erasmus von Rotterdam mit seinem Bändchen Über Knabenerziehung, Michel Eyquem de Montaigne publizierte 1595 Essays, Balthazar Gracián im Jahre 1647 Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, François Duc de La Rochefoucauld 1665 Ma­ximen und Reflexionen, Jean de La Bruyère 1688 Charakterbe­schrei­bungen von Theophrast, aus dem Griechischen übersetzt, mit den Charakter- und Sittenbeschreibungen dieses Jahrhunderts und Lord Philip Dormer Stanhope Chesterfield 1774 Briefe an seinen Sohn.

Natürlich hat er das jeweilige Buch einiger dieser ungefähren Vorläufer gekannt. Und dennoch hat er Recht: diesen Focus auf hu­manes (heute würde man sagen: faires, demokratisches, möglichst friedliches) Zusammenleben mit allen Volksangehörigen hatte keiner von ihnen herausgearbeitet, dies ist wirklich noch neu.

Seine Absicht beschreibt er so: Übrigens werden vielleicht wenig Menschen in einem so kurzen Zeitraume in so manche sonder­bare Verhältnisse und Verbindungen mit andern Menschen aller Art geraten, als ich seit ungefähr zwanzig Jahren; und da hat man denn schon Gelegenheit, wenn man nicht ganz von der Natur und Erzie­hung verwahrlost ist, Bemerkungen zu machen, und vor Gefahren zu warnen, die man selbst nicht hat vermeiden können. Und an anderer Stelle sagt er: Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben - desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin ge­steckt hat?

Wie kam es zu der Verfälschung seines Buches zum engstir­nig-besserwisserischen Benimmbuch aus dem Geiste kleinsten Karos, zu diesem Rufmord am Schriftsteller Adolph Freiherr Knigge, zum Etikettenschwindel als Etikette-Papst? Wie ging man mit Knigge um? Das Buch hatte schon zu seinen Lebzeiten großen Erfolg, im Todes­jahr 1796 war es bereits in der fünften Auflage. In jeder gebildeten Familie war das Buch anzutref­fen. In Schulen wurde es als bildendes Lesebuch benutzt, berichtet der Germanist Karl Goedeke, der 1844 eine Knigge-Biographie schrieb und ab der 12. Ausgabe den Umgang mit Menschen heraus­gab. Zuvor war das Buch durch F. P. Wilmsen durchgesehen und vermehrt worden, was im Klartext heißt: textlich redigiert und um eine eigene Schrift und einen zusätzlichen Etikette­ratgeber erweitert und damit, wie die Philologen sagen, verschlimm­bessert. Goedeke als Literaturwissenschaftler machte zwar Wilmsens Erweiterungen rückgängig, hat aber dann doch den Text (vielleicht guten Glaubens) bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Alle späteren Bear­beitungen setzten dann sukzessive diese unheilvolle Tendenz fort. So berufen sich heu­tige Ratgeberliteratur und Benimmseminare, beide boomend, in schamloser Unkenntnis noch immer auf Knigge.

Wir schreiben das Jahr 1789. Im vorigen Jahr hat Adolph Frei­herr Knigge erfolgreich Figaros Heyrath von Mozart / da Ponte über­setzt und damit die mindere des Weimarer Christian August Vulpius verdrängt. Nun erscheint 1789/90 die dreibändige Geschichte des ar­men Herrn von Mildenburg.

Die Ideale der Französischen Revolution begeistern Knigge: Was sind diese unglücklichen Opfer gegen die Unzahl jener, die das alte Re­gime geopfert hat! Zum ersten Jahrestag der Revolution reist Knigge 1790 nach Hamburg, wo er mit Gleichgesinnten, darunter Klopstock, das Freiheitsfest feierlich und literarisch begeht. Natürlich trägt das nicht zu seiner Beliebtheit beim deutschen Adelsstande bei, wie ja auch schon im Umgang mit Menschen Formulierungen wie die folgende ihm den höfischen Hass zuzogen: Wer nicht [...] schlechter­dings dazu verdammt ist, an Höfen [...] zu leben, der bleibe fern von diesem Schauplatze des glänzenden Elends, bleibe fern vom Getüm­mel, das Geist und Herz betäubt, verstimmt und zugrunde richtet.

So kann der freie Herr Knigge von Glück sagen, dass er im sel­ben Jahr dann doch noch eine gute Anstellung erhält: der hannover­sche Hof schickt ihn als Oberhauptmann nach Bremen, um die dorti­gen Besitztümer zu verwalten. Zum letzten Male zieht die Familie Knigge um. In den Bremer Jahren bis zu seinem Tode 1796 schreibt und publiziert er fleißig weiter, z. B. die Romane Benjamin Nold­mann‘s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (1791), Das Zauberschloß oder Geschichte des Grafen Tunger (1791), Josephs von Wurmbrand […] politi­sches Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die französische Revolu­tion und deren Folgen (1792) - das bringt ihm einen scharfen Verweis der Regierung in Hanno­ver ein -, Die Reise nach Braunschweig (1792), die Satire Des seligen Herrn Etatsraths Samuel Con­rad von Schaafskopf hinterlassene Papiere (1792) sowie die Geschichte des Amtsraths Gutmann (1794). Neuen, sogar überregio­nalen Ärger handelt er sich ein, als er 1795 ein Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung anonym mit dem Druckort Wien (tatsächlich Braunschweig) veröffentlicht; denn er gehört sofort zu den als Verfasser Verdächtigten. Im Todesjahr er­scheint dann noch postum Ueber Eigennutz und Undank; Ein Gegen­stück zu dem Buche: Ueber den Umgang mit Menschen, in dem er manches Negative, das er von Menschen erlebt und erfahren hat, ver­arbeitet. Am 6. 5. 1796 stirbt Knigge und wird am 12. 5. im Bremer Dom beigesetzt.

Taucht Knigge in den Werken späterer Kollegen auf? Beziehen sie sich auf ihn? Eichendorff in seiner Geschichte der poetischen Lite­ratur Deutschlands behandelt die Verstandespoesie und deren Mittel der Charakterschilderung, d. i. ein nach gewissen äußeren Kennzei­chen systematisch geordnetes Herbarium der menschlichen Natur, und sagt von Knigge, er habe in seinem berühmten „Umgang mit Menschen“ die höflichen Bücklinge und diplomatischen Kunstgriffe des geselligen Egoismus ganz wacker porträtiert. E. T. A. Hoffmann erzählt in den Serapionsbrüdern von einer Frau und von Stunden, die sie der Erziehung gewidmet, ohne den Chesterfield oder den Knigge zu lesen. Börne schreibt 1824 einen Aufsatz Über den Umgang mit Menschen, in dem es heißt: Ich ging zur Audienz. Aus dem, was mich Knigge und Chesterfield gelehrt, wählte ich das Schönste und Beste. [...] In seinen Aphorismen und Miszellen bewertet er diese beiden und spricht vom albernen Knigge und vom eitlen Chesterfield. Noch ein­mal E. T. A. Hoffmann. In Lebensansichten des Katers Murr lässt er diesen von seinem Meister dabei überraschen, wie er in einem Buch zu lesen scheint. Es war, erzählt Murr, wie ich später erfuhr, Knigge, „über den Umgang mit Menschen“, und ich habe aus diesem herrli­chen Buch viel Lebensweisheit geschöpft. Es ist so recht aus meiner Seele geschrieben und paßt überhaupt für Kater, die in der menschli­chen Gesellschaft etwas gelten wollen, ganz ungemein. Diese Tendenz des Buchs ist, soviel ich weiß, bisher übersehen und daher zuweilen das falsche Urteil gefällt worden, daß der Mensch, der sich ganz ge­nau an die im Buch aufgestellten Regeln halten wollte, notwendig überall als ein steifer herzloser Pedant auftreten müsse.

Die mehrsten Schriftsteller, sagt Knigge, verzeihn es uns leichter, wenn wir ihren sittlichen Charakter, als wenn wir ihren Ruf in der gelehrten Welt antasten. Man sei daher vorsichtig in Beurtei­lung ihrer Produkte. [...] Alle riechen den Weihrauch gern, der ihnen gestreut wird, aber nicht jeden darf man auf gleich grobe Art einräu­chern. [...] Ein sechster endlich - es sei mir erlaubt, neben diesem mein Plätzchen zu nehmen! - begnügt sich, wenn die wenigen Edeln ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu glauben, daß es ihm we­nigstens um Wahrheit und Tugend zu tun sei, daß er nichts geschrie­ben habe, dessen sein Herz sich zu schämen brauchte, und daß, wenn seine Werke keine Meisterstücke sind, sie sich doch auch nicht aus­schließlich zu Rosinentüten qualifizieren. Ich denke, diese Gerechtigkeit kann man dem Schriftsteller Adolph Freiherr Knigge durchaus widerfahren lassen!

 

Werke:  
Adolph Freiherr von Knigge: Sämtliche Werke. Hrsg. von Paul Raabe. Neuausgabe in 24 Bänden. Nendeln [zuletzt: München u.a.] 1992-93.

Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hrsg. von Gert Ueding. Insel-Verlag, Frankfurt/M 2001. 

Über Adolf von Knigge:  
Karl Heinz Göttert: Knigge oder: von den Illusionen des anständigen Lebens. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1995.

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