Klaus Nührig 

 "Ich bin dieser Niemand"

Gotthold Ephraim Lessing

Geboren am 22. Januar 1729 in Kamenz, 
gestorben am 15. Februar 1781 in Braunschweig
 

Eine Parabel für das Leben
In Lessing "Nathan der Weise" wird das Märchen von den drei Ringen erzählt.
Unter Geschwistern muss man keinem erklären, was es heißt, wenn der Vater den einen Sohn mehr liebt als den anderen. Schlimmer noch, in diesem Märchen gibt es für die drei Brüder nur einen Zauberring, der die Kraft hat, beliebt zu machen. Was soll ein Vater, der sein Erbe nicht aufteilen
will, mit diesem Ring tun? Bei Lessing  lässt

er von dem einem Ring zwei Kopien anfertigen, die sich so gleichen, dass der Vater den echten Ring selbst nicht mehr unterscheiden kann. Jeder weiß, mit einer solchen List lässt sich kein Erbfolgestreit lösen, und deshalb kommt es zum Zerwürfnis der drei Brüder. Lessing hat die Ringparabel von Boccaccio übernommen. Dagegen spricht nichts, Literatur ist ein Weiterschreiben und Fortdichten. Und die existenziellen Probleme bleiben die gleichen. Manchmal müssen wir Geschichten erfinden, um unsere Haut zu retten. Boccaccios Melchisedek und Lessings Nathan müssen zu Weisheiten greifen, damit ihr Kopf nicht in eine Schlinge gerät. Der Jude hat nicht die gleichen Rechte wie ein Christ, und an sein Geld kommt der Herrscher deshalb schneller heran.

Diese Bedrohung für Melchisedek und Nathan, die hinter dem Erzählen der Ringparabel steht, bleibt in ihr unerwähnt. Und auch das Ende, das Lessing hinzugedichtet hat, der Auftritt des weisen Richters, der von der Wunderkraft des Rings spricht, vor Gott und Menschen beliebt zu machen, führt uns nicht in die Welt, die hinter der Frage des Sultans steht: die Welt des Pogroms, der grausamen Verfolgung des Ungläubigen.
Für mich hat Lessings Nathan seine tiefsten Bedeutung in Nathans Beichte, dem Gespräch zwischen Nathan und dem Klosterbruder, die Aufschluss darüber gibt, welche Erfahrung hinter Nathans Weisheit steht. Lessings berühmtestes Stück hat ein Thema, das mir heute aktueller erscheint als zur Zeit seiner Entstehung. Es geht um Fanatismus, um den Hass auf alle, die nicht so sein wollen wie man selber ist. Seine Themen sind religiöser Fundamentalismus, Intoleranz, Fanatismus und Terrorismus. Der Tempelherr ist der religiöse Fanatiker unserer Zeit, ein Verblendeter, ein Verführter. Dabei ist er durchaus fähig zum Guten, zur Aufopferung und zur Erfüllung seiner Ideale. Aber er schwankt, und so kennt er alle Elemente des Menschlichen: den Neid, den Hass, das aus einer Enttäuschung geborene Ressentiment.
Ich halte das Gespräch, in dem Nathan dem Klosterbruder erzählt, unter welchen Umständen er ein Kind zu seinem eigenen gemacht hat, für einen der bewegendsten Momente der Weltliteratur. In keiner anderen Szenen gelingt es Lessing, die Nähe zum Pogrom so spürbar werden zu lassen. Dieser Nathan wird immer in Angst leben müssen, solange religiöse Fanatiker Macht und Einfluss haben, und dieser Nathan ist nicht nur der weise, sanfte und rücksichtsvolle Mensch, er ist auch jemand, der die tiefste Verzweiflung durchleiden musste.
Das Gespräch mit dem Klosterbruder findet statt, nachdem Nathan mit Saladin Freundschaft geschlossen und ihm die Ringparabel erzählt hat. Doch erst jetzt zeigt sich die wirkliche Bedrohung. Der Tempelherr hat eine verhängnisvolle Spur gelegt, als er dem Patriarchen die Frage vorlegte, was mit einem Juden geschehen müsse, der ein Christenkind im jüdischen Glauben oder sogar gar keinem Glauben erzogen habe. Diesen Übeltäter will der Patriarch finden lassen. Doch der Klosterbruder, den er damit beauftragt, weiß, um wen es sich handelt. Er kommt zu Nathan, nicht um ihn zu verraten, sondern um ihm zu sagen, dass der Scheiterhaufen droht, und Nathan erzählt ihm von seinem großen Geheimnis.

NATHAN: Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wisst wohl aber nicht, dass wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wisst
Wohl nicht, dass unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen.
KLOSTERBRUDER: Allgerechter!
NATHAN:                 Als
Ihr kamt, hatt' ich drei Tag' und Nächt' in Asch'
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. -
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß zugeschworen -
KLOSTERBRUDER: Ach! Ich glaub's Euch wohl!
NATHAN: Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm': "und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast;
Was sicherlich zu üben schwerer ist, wenn du nur willst.
Steh' auf!" - Ich stand! Und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, dass ich will! - Indem stiegst Ihr
vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
In Euern Mantel eingehüllt. - Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab' ich
Vergessen. Soviel weiß ich nur; ich nahm
Das Kind, trug's auf mein Lager, küsst' es, warf
Mich auf die Knie' und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!
KLOSTERBRUDER:       Nathan! Nathan!
Ihr seid ein Christ! - Bei Gott, Ihr seid ein Christ!
Ein bessrer Christ war nie!
NATHAN:         Wohl uns! Denn was
Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir
Zum Juden! [...]

"Nathan der Weise" ist kein Stück, dessen Autor ein Atheist ist. Der humane Gehalt der großen Weltreligionen ist Nathan bewusst, doch an diesem Wissen fehlt es seinen intoleranten Gegnern. Der Jude muss kein Christ werden, der Christ kein Jude, um in dem anderen einen Freund sehen zu können, den er lieben kann. Die Ringparabel führt alle drei großen Religionen auf den einen Schöpfergott zurück, der darüber richten wird, welche sich als die bessere erwiesen hat. Für diesen weisen Richter gibt es Kriterien, um darüber zu entscheiden. Die Religionen werden an ihrer Fähigkeit gemessen, inwieweit sie die Humanität fördern können.

Für einen Regisseur, der ein Theater machen will, dass die Situation des Menschen in unserer Gegenwart berührt, hat "Nathan der Weise" seinen Platz auf dem Spielplan, obwohl sein Held ein so guter Mensch ist. Ich halte Nathans Fähigkeit zum Guten trotz seiner katastrophalen Erfahrungen mit den Christen für psychologisch glaubwürdig. Wer ein fremdes Kind als sein eigenes annehmen will, um es zu retten, fragt nicht, woher es kommt. Nathan liebt dieses Kind, und in diesem Kind liebt er die ganze Menschheit.

"Wenn ich nur lebe"
Lessing, 1729 in Kamenz (Sachsen) geboren, zwanzig Jahre älter als Goethe, dreißig Jahre älter als Schiller, ist Sohn eines Pastors. Er studiert Theologie und Philologie in Leipzig. Er schlägt den Königsberger Lehrstuhl für Rhetorik aus, weil der Professor verpflichtet ist, alljährlich eine Lobrede auf den König zu halten.
Als Autor wird Lessing schlecht bezahlt, und als Verleger scheitert er auch deshalb, weil es zu viele Raubdrucke gibt. Er beginnt früh zu publizieren. Schon als 20-Jähriger schreibt er ein bemerkenswertes Stück über die Toleranz, "Die Juden". Moses Mendelssohn, der große jüdische Aufklärer, wird sein Freund. Lessing ist bereits früh das, was er bleiben wird, ein Kritiker, jemand, der die geistige Auseinandersetzung sucht.
"Was tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe", schreibt der Student. Aber ohne Kompromisse geht es nicht immer. Später dann, als Lessing Bibliothekar in Wolfenbüttel geworden ist, muss er einem Fürsten dienen, der seine Finanzen dadurch aufbessert, dass er Soldaten an den englischen König verkauft, der sie auf den Schlachtfeldern Amerikas sterben lässt. Wer im Krieg zum Invaliden wird, muss in Amerika bleiben. So entstehen der Braunschweiger Staatskasse keine Kosten. Diesen leichtsinnigen und selbstsüchtigen Fürsten muss Lessing ertragen, aber er muss ihn wenigstens nicht loben.


Handeln statt schwärmen

Als Bibliothekar in Wolfenbüttel widmet er sich weiter seiner Leidenschaft, dem Streitgespräch auf hohem Niveau. Zu seiner berühmten Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze kommt es, als Lessing bereits einige der "Fragmente eines Ungenannten" herausgegeben hat, in denen auf Widersprüche in der Bibel hingewiesen wird. Als in den publizierten Fragmenten auch die Auferstehung Jesu bestritten und der Verdacht geäußert wird, die Jünger Jesu hätten selbst den Leichnam entfernt, um dadurch zu Ansehen zu gelangen, empört sich der Pastor Goeze und nennt Lessing, der fälschlich als Verfasser vermutet wird, einen Gegner der Religion. Als ein solcher kann Reimarus, der wahre Verfasser dieser Fragmente, auch auf den Unparteiischen wirken, denn er nennt die Jünger Jesu Lügner und Betrüger, die niemals dem auferstandenen Christus begegnet seien.

Dass Lessing dieses Fragment überhaupt veröffentlichen konnte, und es einen Pastor gab, der sich darüber mit ihm öffentlich streiten wollte, zeigt, wie liberal der Protestantismus damals war. Es ist bekannt, dass Lessing, als der Streit sich immer weiter zuspitzte, durch seinen braunschweigischen Landesfürsten per Kabinettsordre verboten wurde, weitere Fragmente zu veröffentlichen und sich zu diesem Streit zu äußern. Aber wir müssen uns bewusst machen: Die Bibel galt damals als Heilige Schrift, als Wort Gottes. Für Reimarus ist sie in ihrem wesentlichen Gehalt ein Werk von Betrügern. Zweihundert Jahre später hätte man keinem Intellektuellen erlaubt, öffentlich in Lessings Geburtsort über die Fehlbarkeit der ideologischen Grundlagen des in der DDR herrschenden Gesellschaftssystems zu debattieren. Lessings Zeit ist die der Aufklärung, und sein Gegner Goeze war anders als der blutgierige Patriarch von Jerusalem in Lessings "Nathan der Weise"; was freilich nicht bedeutete, dass der tolerante Lessing den Diskussionspartner nicht auch verletzen und zuzeiten das Florett mit dem Säbel austauschen konnte.
Während des Streits mit Goeze entstehen einige von Lessings bedeutendsten theologischen Texten, und sie alle zeigen: Er ist kein Ungläubiger, er ist nur kritischer als die lutherische Orthodoxie, denn er möchte auf dem Recht bestehen, die Bibel mit Verstand lesen zu dürfen. In der "Duplik" zeigt er, wie dem Verfasser der Fragmente rational widersprochen werden kann.
"Mein Ungenannter behauptet: ‚Die Auferstehung Christ ist auch darum nicht zu glauben, weil die Nachrichten der Evangelisten sich widersprechen.'
Ich erwidere: ‚Die Auferstehung Christ kann ihre gute Richtigkeit haben, ob sich schon die Nachrichten der Evangelisten widersprechen.'" – Und dann entwickelt Lessing, worauf es ihm ankommt:

 

"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht die durch den Besitz der Wahrheit, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. - Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ‚Wähle!' ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!'"

Warum sollte nicht auch der Glaube eine Sache der Anstrengung sein, ist er nicht etwas ganz Anderes als das Herunterleiern von Bekenntnissen, die Andere formuliert haben? Lessings Kritik an der Vermittlung von Religion durch Pastoren wie Goeze ist keine Religionskritik in dem Sinne, dass sie die Religion in ihrem Kern verneint. Sie ist eher wegweisend für die Erneuerer eines religiösen Zugangswegs, wie er später von Schleiermacher und Kierkegaard begangen wird. Es gibt für Lessing kein religiöses Empfinden ohne existenzielle Betroffenheit, ohne den Drang, das Gebot der Nächstenliebe im täglichen Leben zu erweisen.
Zu den unbekannteren Schriften Lessings gehört der 1777 anonym publizierte Dialog "Das Testament Johannis". Lessing greift dabei auf eine bei Hieronymus überlieferte Legende zurück und beschreibt, wie der altgewordenen Jünger Johannes immer wieder seine Kollekte mit dem Satz "Kinderchen, liebt euch!" schließt. Der eine Dialogpartner behauptet: "Brüder und Jünger konnten es kaum ohne Ekel mehr anhören und erdreisteten sich endlich, den guten Mann zu fragen: ‚Aber, Meister, warum sagst du denn immer das nämliche?' "
Er lässt Johannes antworten: "Darum, weil es der Herr befohlen. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist."

Die großen theologischen Schriften entstehen, kurz bevor sich Lessing wieder seiner "alten Kanzel", dem Theater, zuwendet. Auch im "Nathan" taucht diese Kritik an einer nicht wirkungsvoll gelebten Religiosität auf, wenn Nathan Recha vorwirft, dem Tempelherrn, ihren Lebensretter, nicht wirklich effektiv geholfen zu haben. Ihn stört es, dass sie sich einbildet von einem wirklichen Engel gerettet worden zu sein. Er wirft ihr vor:


"Stolz! Und nichts als Stolz! Der Topf
Von Eisen will mit einer silbern Zange
Gern aus der Glut gehoben sein, um selbst
Ein Topf von Silber sich zu dünken. Pah!"


Und er lehrt sie:

"[...]         – Begreifst du aber,
Wie viel andächtig schwärmen leichter, als
Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch
Andächtig schwärmt, um nur, - ist er zuzeiten
Sich schon der Absicht deutlich nicht bewusst -
Um nur gut handeln nicht zu dürfen?"

Lessings Anliegen, einem Reformator würdig, wird in seiner Zeit nicht richtig verstanden. Der Mund wird ihm verboten, und vielleicht erklären sich daraus die Schwächen in seiner kurz vor seinem Tode entstandenen Schrift: "Die Erziehung des Menschengeschlechts". In ihr wird Lessing zu einem schlechten Nachahmer Gottscheds. Das Alte Testament degradiert er zu einer Schrift, mit der man Menschen auf der Stufe von Kindern erziehen könne. Kennt Lessing das Alte Testament nicht mehr? Hiob, die Sprüche Salomos, die Psalmen? Das Neue Testament, behauptet er, erziehe die Menschheit im Stadium der Jugend. Was aber kommen werde, sei das goldenen Zeitalter der Vernunft, "die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, [...]".

Dieses goldene Zeitalter ist aber nicht gekommen, und kaum ein Glaube wirkt heute schaler, als der, dass man die Menschen zu vernünftigen Wesen erziehen könne.
Aber es sei daran erinnert, dass diese Schrift 1780 entstanden ist, Monate vor seinem Tod. Lessing hatte 1777 seinen Sohn verloren, der schon Stunden nach der Geburt starb. Damals schrieb er an einen Freund: "Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! - Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. - War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? Daß er so bald Unrat merkte? - War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? - Freilich zerrt mir der Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! - Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. - Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen! Aber es ist mir schlecht bekommen."
Auch seine Frau stirbt bald nach der Geburt des Kindes. Lessing versucht sich über diese Todeserfahrungen mit dem Glauben an eine Wiedergeburt zu trösten. Vielleicht liegt darin der Kern der Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts", wenn Lessing sich fragt: "Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? [...] Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet? [...] Und was ich auf itzt vergessen m u ß , habe ich denn das auf ewig vergessen? [...] Oder, weil so zuviel Zeit für mich verloren gehen würde? - Verloren? - Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?"

Lieber ein Bär als ein Mensch
Ich kehre zu dem zurück, was mich an Lessing fasziniert. In den "Briefen, die neueste Literatur betreffend" heißt es unter dem 16. Februar 1759: "Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu verdanken habe.' [-] Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu."
So redet jemand, der ein anderes Theater will und der nicht davor zurückschreckt, sich auch Feinde zu machen. Man muss einiges wissen über das Theater in der Mitte des 18. Jahrhunderts, um Lessings Zorn verstehen zu können. Es sei ein Theater, behauptet Lessing, dessen Lustspiele aus "Verkleidungen und Zaubereien" bestünden und dessen witzigste Einfälle "Prügel" seien. Später, in der Hamburgischen Dramaturgie, wird es heißen: "wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen."
Das Wort "Mensch" ist zu einem Hochwertwort geworden, und aus der Zugehörigkeit zur Menschheit wird der Anspruch auf alle Grundrechte abgeleitet.

Wir kennen Lessings Ringen um das, was die Aristotelische Dramaturgie wirklich ausmacht, seine Forderung, dass das Theater uns berühren müsse, und auch jeder Autor der Gegenwart wird sich darüber Gedanken zu machen haben, ob die Handlung seines Dramas übersichtlich genug ist, ob sie um Menschen kreist, deren Leben wirklich für den Zuschauer von Interesse ist. Lessing hat solche Dramen geschrieben, Dramen, die uns in ihrem Kern bis heute verständlich geblieben sind.

Vieles von dem, was ich gelesen und im Theater gesehen habe, wird mir unvergesslich bleiben; vor allem der "Nathan", aber auch die verzehrende Liebe des Prinzen in "Emilia Galotti", die so zügellos ist, dass sie selbst vor Gewalt nicht zurückschreckt. Doch wenn ich eine Hoffnung mit Lessing teile, dann die Hoffnung darauf, dass auch derjenige, der bisher nirgendwo einen Menschen gefunden hat, der ihn liebt, irgendwann Menschen finden wird, die sich an ihn ketten wollen; denn wenn es anders wäre, sagt Lessing, würden wir lieber ein Bär heißen wollen als ein Mensch.

 

Werke:

Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Arno Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker-Verlag 2001.

Gotthold Ephraim Lessing: Werke in drei Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke. Einführung, Anmerkungen u. Zeittafel von Peter-André Alt. Textrevision von Jost Perfahl. Düsseldorf: Winkler-Verlag 2001.

 

Über Gotthold Ephraim Lessing:

Monika Fick: Lessing-Handbuch.Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2000.

 

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Klaus Nührig

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