Geburtstag,
dem 1. Juli 1742, gewiss erfleht haben. Doch die Wirklichkeit sah dann für
ihn anders aus. Sein mehr als gesunder Geist musste in einem corpus insanum wohnen, einem elenden
Körper, wie er selber schreiben wird.
Der zeitgenössische Autor Johann Gottwerth Müller, Müller von Itzehoe, ein Mediziner, beschreibt in einem seiner
Romane Lichtenbergs Körper wohl realistisch: Der erste Gelehrte in der Stadt [...], vier Fuß hoch, dessen Brust mit
einem Vorgebürge, so wie der Rücken mit einem hohen Gewölbe belastet
war. [...] beym Anblick eines Menschenkopfes auf einer wandelnden Masse,
die in der That von der äußersten Spitze der Brust bis zur äußersten
Exkrescenz zwischen den Schulterblättern eine um drey Fünftheil längere
Linie gab, als wenn man sie von Einer Extremität der Schultern bis zur
anderen maß, und deren Arme bis zu den Knien hinabhingen, [...] die nur
auf allen vieren hätte gehen dürfen, um einer Schildkröte ähnlicher
zu sehen, als einem Menschen. Ähnlich beschreibt sich Lichtenberg
später gnadenlos selbst, misst sich aber 4 ½ Fuß bei, allerdings mit
hochtoupierter Perücke. Seine Körpergröße wird sehr unterschiedlich
eingeschätzt zwischen 1,43 bis etwa 1,65 bzw. sogar 1,70 m.
Von Medizinern erfahren wir, dass Georg Christoph Lichtenberg
Kyphoskoliose hatte, eine starke Seitausbiegung der Wirbelsäule, die
eine gegensinnige Seitausbiegung der benachbarten Wirbelsäulenabschnitte
bedingt. Diese s-förmige Verkrümmung führt zu Kleinwuchs und damit zu
einer relativen Überlänge der Gliedmaßen. Ein derartig deformierter
Brustkorb lässt der Lunge nur wenig Raum. Wenige der Kranken werden älter
als sechzig Jahre; der Tod tritt oft im Verlauf einer Lungenentzündung
ein.
So wie gewisse Schriftsteller
nachdem sie ihrer Materie erst einen derben Hieb versetzt haben hernach
sagen sie zerfalle von selbst in zwei Teile [D 272]. - Die Bauernmädchen
gehen barfuß, und die Vornehmen barbrust [D 303]. - Der Mann hatte so
viel Verstand, daß er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war
[D 451].
Dieses alles trifft auf Lichtenberg zu. Schon mit achtundzwanzig
berichtet er von jährlichem Katarrhal
Fieber. Immer wieder leidet er unter Krankheitsschüben mit Husten,
auch Bluthusten, Fieber, Abmagerung und hat mehrfach Lungen- und
Brustfellentzündung. Sein Arzt Richter beschreibt Lichtenbergs Anfälle
sehr anschaulich: Der erste Anfall kommt gemeiniglich zur Nachtzeit. Beim plötzlichen
Erwachen wird eine bedeutende Beklemmung in der Brust, das Gefühl von
Zusammenschnüren empfunden. Der Kranke keicht [!], schnappt ängstlich
nach Luft, empfindet große Angst, kann nicht in der horizontalen Lage
bleiben, sucht sehnsüchtig Erleichterung durch das Einathmen einer kühlen,
frischen Luft, und nimmt um sich zu helfen starke Muskelbewegungen vor.
[...] Die Dauer des Anfalls [...] von wenigen Minuten bis zu mehreren
Stunden selbst Tagen.
Ab 1782 berichten seine Besucher über sein asthmatisches engbrüstiges Keuchen, er selbst klagt in seinen Tagebüchern über kurzen
Odem. Im Oktober 1789 verschlimmert sich das zu einer großen
Krankheit, seitdem ist er häufig bettlägerig. Aber er versucht,
durch Krankheitsverleugnung dagegen anzukämpfen und spricht mit
bitterem Galgenhumor von meiner
Hypochondrie. Oder er formuliert: Bei
mir liegt das Herz dem Kopf wenigstens um einen ganzen Schuh näher als
bei den übrigen Menschen, daher meine große Billigkeit. Die Entschlüsse
können noch ganz warm ratifiziert werden [C 20]. Schließlich führt
eine Brust-Entzündung,
seine alte Kranckheit mit Seitten Stechen, husten und Bluth auß werffen
am 24. Februar 1799 zum Tode. Bei der Beurteilung von Lichtenbergs
Lebenslauf und Werk muss man immer bedenken, gegen welche schlimmen
Krankheitszustände er sich dies alles abgerungen hat.
Geboren wird Georg Christoph Lichtenberg 1742 in Ober-Ramstadt bei
Darmstadt als siebzehntes und letztes Kind seiner Eltern, nur fünf von
ihnen werden leben bleiben. Sein Vater Johann Conrad ist Pfarrer, seine
Mutter Catharina Henrietta, geb. Eckhard, Pfarrerstochter. Dieser Vater
ist nicht nur pietistischer Theologe, der gern Kirchenmusik macht und
Kantatentexte schreibt, sondern er hat als weitere Beschäftigungsgebiete
Mathematik, Architektur und physikalisch-technische Experimente. 1745
wird er Stadtpfarrer in Darmstadt, die Familie zieht um. Fünf Jahre später
ist er Superintendent, 1751 stirbt er, Georg Christoph ist neun. Mit
zehn Jahren kommt er in die Tertia des Darmstädter Pädagogiums, das er
bis 1761 mit gutem Erfolg besucht.
Im Mai 1763 immatrikuliert sich Georg Christoph Lichtenberg an der 1737
gegründeten Georgia Augusta in Göttingen, damals als Modeuniversität
beliebt. Zunächst studiert er Mathematik und Physik, belegt aber auch
Lehrveranstaltungen in ziviler und militärischer Baukunst, Ästhetik,
englische Sprache und Literatur, Staatengeschichte Europas, Diplomatik
[Urkundenlehre] und Philosophie: ein studium
generale. Zwei Jahre lang erhält er ein knappes landgräfliches
Stipendium, danach aber muss er sich selbst ernähren: er wird
Hofmeister englischer Studenten, denen er Stunden gibt, korrigiert beim
Buchdrucker und verfasst Gelegenheitsgedichte. Inzwischen ist seine
Mutter 1764 gestorben.
Der Mensch denkt Wunder, wer er wäre,
wenn er die Milbe einen Elefanten und die Sonne einen Funken nennt [E
296]. - Die Wege sind mit Nimmergrün besetzt [E 299]. - Sagt, ist noch
ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als
putzen? [E 316]
Lichtenberg beginnt im selben Jahr die Aufzeichnung seiner in
aphoristischer Kürze formulierten Gedanken, Einsichten, Beobachtungen,
Empfindungen, Einfälle in sog. Sudelbücher,
die er in den Jahren 1764-96 von A
- L durchbuchstabiert. Diese Bezeichnung ist einerseits
selbstironisch gemeint, insofern es die negativen Konnotationen des
Verbs sudeln vielleicht als captatio
benevolentiae einsetzt; andererseits ist es ein Fachterminus aus der
Handelssprache, worauf Lichtenberg selbst hinweist:
Die Kaufleute haben ihr Waste book
(Sudelbuch, Klitterbuch glaube ich im Deutschen), darin tragen sie von
Tag zu Tag alles ein was sie verkaufen und kaufen, alles durch einander
ohne Ordnung, aus diesem wird es in das Journal getragen, wo alles mehr
systematisch steht, und endlich kommt es in den Leidger at double
entrance [engl. ledger, dt. Hauptbuch, B. G.]
nach der italiänischen Art buchzuhalten. In diesem wird mit jedem Mann
besonders abgerechnet und zwar erst als Debitor und dann als Creditor
gegenüber. Dieses verdient von den Gelehrten nachgeahmt zu werden. Erst
ein Buch worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir
meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes
getragen werden, wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind, und
der Leidger könnte dann die Verbindung und die daraus fließende Erläuterung
der Sache in einem ordentlichen Ausdruck enthalten [E 46].
Die Leiden des Herrn Baron von
Werthers [E 330]. - Alles wohlklingend und alles erlogen [E 367]. - Wie
gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, antwortete der
Lahme [E 385].
Später bringt er einen progressiven Aspekt hinein: In dem Sudel-Buch können die Einfälle die man hat, mit aller der Umständlichkeit
ausgeführt werden, in die man gewöhnlich verfällt so lang einem die
Sache noch neu ist. Nachdem man bekannter mit der Sache wird, so sieht
man das Unnötige ein und faßt es kürzer [E 150].
Das Doktor-Werden ist eine Konfirmation des Geistes [F 19]. - So wie man
den Heiligen eine Nulle über den Kopf malt [F 167]. - 18. Epistel Pauli
an die Göttinger [F 197].
Lichtenberg hat waste book
richtig mit Sudelbuch übersetzt;
das Deutsche Wörterbuch von
Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Bd. 20, 932) führt unter diesem Lemma z.
B. kladde auf, besonders die
geschäftskladde des kaufmanns, [...] libellus collectaneorum, und
bringt als frühestes Zitat von Golius 1585: ein
buch darein man täglich schreibet, sudel oder kleckbuch.
Was sie Herz nennen liegt weit niedriger als der 4te Westenknopf [F
337]. - So sagt man jemand bekleide ein Amt, wenn er von dem Amte
bekleidet wird [F 426]. - Grabsteine für Bücher [F 543].
Mehr als alle anderen Schriften haben die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten
Aphorismen aus den Sudelbüchern den Namen Lichtenbergs als des Begründers
des deutschen Aphorismus bekannt gemacht. Eine große Anzahl
verschiedenster Sammlungen von ihnen seit der Erstpublikation 1800 und
der ersten wissenschaftlichen Edition durch Albert Leitzmann 1902-08
zeigen Lichtenberg als einen höchst geistreichen und klugen, in vielen
Wissenschaftsfeldern belesenen, hochsensiblen, oft ironischen und
satirischen, unerschrocken aufklärerischen Schriftsteller, der immer
Lesevergnügen garantiert. Und von solchen hat die deutsche Literatur
nicht viele.
Vom ersten Dichter der Welt bis
zum Verse-Fabrikant [F 884]. - Gott, der unsere Sonnen-Uhren aufzieht [F
1022]. - Mutter unser die du bist im Himmel [J 12].
1766 beginnt Lichtenberg unter Abraham Gotthelf Kästners Leitung
seine astronomische Arbeit am Observatorium in Göttingen, die acht
Jahre dauert. Er publiziert seine Schrift Von
dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kann, der in
den nächsten Jahren viele naturwissenschaftliche und kulturhistorische
Schriften folgen.
Verhunzdeutschen. Er hat es
verhunzdeutscht [J 91]. - Das Huren-Lied Salomonis [J 110]. - Was man so
sehr prächtig Sonnenstäubchen nennt sind doch eigentlich Dreckstäubchen
[J 164].
Im nächsten Jahr ernennt ihn die Mainzer Universität zum 2.
Professor in der Mathematik und zum öffentlichen
Lehrer der Englischen Sprache. Diese Stelle tritt er nicht an,
sondern bleibt in Göttingen, wo er sich 1768 mit dem Verleger Johann
Christian Dieterich eng befreundet und bis zu seinem Tod in dessen Haus
zieht. Auch mit dem Lyriker und Übersetzer Heinrich Christian Boie
verbindet ihn Freundschaft. 1770 findet seine erste Reise nach England
statt, er besucht London und Richmond. Nach seiner Rückkehr ernennt ihn
die Göttinger Universität zum Professor
philosophiae extraordinarius, seine Antrittsvorlesung hält er über
ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung beim Spiel.
Der Mann machte sehr viel Wind.
B.: O nein! wenn es noch Wind gewesen wäre, es war aber mehr ein
wehendes Vakuum [J 181]. - Die Mythen der Physiker [J 241]. - Eine ganze
Milchstraße von Einfällen [J 344].
1772 bestimmt Lichtenberg die geographische Position der Städte
Hannover, Osnabrück und Stade astronomisch, um bei der geodätischen
Landvermessung die Karten einmessen zu können. Im folgenden Jahr reist
er nach Helgoland und trifft in Hamburg Klopstock.
Non cogitant, ergo non sunt [J
379]. - Die Fliege, die nicht geklappt sein will, setzt sich am
sichersten auf die Klappe selbst [J 415]. - Er hatte im Prügeln eine
Art von Geschlechtstrieb, er prügelte nur seine Frau [J 448].
1773 veröffentlicht Lichtenberg seine erste Schrift gegen Lavater: Timorus,
das ist Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der
Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen
den wahren Glauben angenommen haben. Auch erscheint ein Patriotischer
Beitrag zur Methyologie der Deutschen, in der er linguistische
Feldforschung betreibt und α) hochdeutsche und β)
plattdeutsche Ausdrücke zusammenstellt, die synonym für Er
ist betrunken im Volke verwendet werden, z. B.: Er
hat einen Schuß - Er ist besoffen - Er ist dabei gewesen - Er ist hin -
Er sieht den Himmel für eine Baßgeige an - Er sieht die Buchstaben
doppelt - Er ist himmelhageldick - He is fette - He hefft to veele püchelt
- He hat wat in de Krone - He hat wat im Timpen - He is half sieven - He
heft de Planken to leev. Hier kreuzen sich Lichtenbergs Interesse,
der deutschen Sprache und ihrer Lexik und Wortbildung nachzuspüren, und
sein vorurteilsloser Umgang mit allen Schichten des Volks.
Lichtenberg wird 1774 von der Königlichen Sozietät der Wissenschaften
zu Göttingen als Außerordentliches Mitglied der Mathematischen Klasse
aufgenommen, ab 1779 als Ordentliches Mitglied. Eine weitere
Englandreise folgt, bei der er 1775 Reinhold und Georg Forster trifft.
Die Georgia Augusta ernennt Lichtenberg zum ordentlichen Professor für
Naturwissenschaften. Briefe aus
England erscheinen 1776.
Im Namen des Herrn sengen, im
Namen des Herrn brennen morden und dem Teufel übergeben, alles im Namen
des Herrn [J 1099]. - Der Eierstock der Zukunft [J 1219]. - Ich habe
jemanden gekannt der schrieb sich in 8 nehmen und Hoch8tung [!], einen
ver8en, und er br8e anstatt er brachte. Ver9en (falsch) [K 2].
1777 entdeckt er zufällig beim Abschleifen der Harzplatte seines
Elektrophors die dann nach ihm benannten, auf Gleitentladung beruhenden Lichtenbergschen
Figuren; erstmals lässt sich mit ihnen demonstrieren, dass positive
und negative Elektrizität unterschiedlich erscheinen. Damit leistet er
wichtige Vorarbeit für die heutige Fotokopiertechnik. Außerdem setzt
Lichtenberg die von Franklin vorgeschlagenen Zeichen +/- durch.
Bei vielen Menschen ist das
Verse-Machen eine Entwicklungs-Krankheit des menschlichen Geistes [K
15]. - Der Weisheit erster Schritt ist: Alles anzuklagen. / Der letzte:
sich mit Allem zu vertragen [L 2]. - Die geheiligten Schnitzer der
Konzilien [L 28].
Ebenfalls 1777 lernt Lichtenberg auf dem Göttinger Wall eine
Blumenverkäuferin kennen, die zwölfjährige Maria Dorothea Stechard,
Tochter eines Leinewebers. Er nimmt sie 1780 bei sich auf, bringt ihr
Schreiben und Rechnen bei, sie werden ein Paar. Natürlich kann der
vierunddreißigjährige Professor der Experimentalphysik sie nicht in
die Göttinger Gesellschaft einführen, die sich bald über diesen Casus
die Mäuler zerreißt; so zieht er sich ganz in sein häusliches
Refugium zurück und genießt vorurteilslos ihrer beider Glück. So
wie sie älter wurde, nahm sie sich meiner Sachen an, mit einer
Genauigkeit und einem so himmlisch liebreichen Wesen, daß ich mein
Leben nie reicher und glücklicher gewesen bin. Sie hat mich mit dem
ganzen menschlichen Geschlecht ausgesöhnt. Er hätte die
Stechardin geheiratet, wenn sie nicht 1782 gestorben wäre.
Daß in den Kirchen gepredigt wird
macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig [L 67]. - Er
stieg langsam und stolz wie ein Hexameter voran und seine Frau trippelte
wie ein Pentameterchen hinten drein [L 73]. - Ob das Elend in
Deutschland zugenommen hat, weiß ich nicht, die Interjektions-Zeichen
haben gewiß zugenommen. Wo man sonst bloß ! setzte, da steht jetzt !!!
[L 147].
Lichtenberg wird 1777 für zwölf Jahre Herausgeber des Göttinger Taschen-Kalenders, für den er selbst viele Beiträge
verfasst. Die zweite Schrift gegen Lavater kommt heraus: Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der
Menschenliebe und Menschenkenntnis. Nachdem sich Lichtenberg in
Theorie und Praxis mit Blitzableitern beschäftigt hatte, versieht er
als erster Göttinger sein Gartenhaus mit einem y-förmigen
Blitzableiter.
Ehemals taufte man die Glocken,
jetzt sollte man die Drucker-Pressen taufen [L 179]. - Ist es nicht
sonderbar, daß man zu den höchsten Ehrenstellen in der Welt (König)
ohne Examen gelangt, das man von jedem Stadt-Physikus fordert? [L 261] -
Es ist eine ganz bekannte Sache, daß die Viertel-Stündchen größer
sind, als die Viertelstunden [L 417].
1781 geraten Lichtenberg und der ihm früher, in Zeiten des Göttinger
Hainbunds, 1772-74,
befreundete Johann Heinrich Voß in philologischen Streit über die
deutsche Notierung des altgriechischen Vokals Eta (η) in den
antiken Namen der Ilias und der Odyssee. Voß
hat Recht, dass die Griechen ihn als langes
ä ausgesprochen haben, und notiert folgerichtig den sonst Hebe
geschriebenen Namen der Göttin der Jugend, Ήβη, nun Häbä,
was Lichtenberg und andere zu spöttischen Vorschlägen reizt: dann aber
auch konsequent und analog Hära
für Ήρα statt Hera, Homär für Όμηρος
statt Homer, Häsiod für
Ήσίοδος anstelle von Hesiod,
Härodot für Ήρόδοτος statt Herodot
zu notieren, ja, sie schlagen sogar vor, nun auch unsern Heiland Jäsus zu schreiben. Beide Standpunkte lassen sich
rechtfertigen, Voß favorisiert das phonetische Prinzip der Schreibung (Schreib,
wie du sprichst!), Lichtenberg aber das pragmatische des
Schreib-Usus: so gegen die Gewohnheit zu verstoßen, ist lächerlich.
Seine Schrift hat den zugespitzten Titel Über die Pronuntiation der Schöpse [Hammel] des alten Griechenlands verglichen mit der Pronuntiation ihrer neuern
Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh. Noch 1783 höhnt
er im Deutschen Museum hartnäckig
weiter: To bäh or not to bäh, that is the
question.
Es gibt eine wahre und eine förmliche Orthographie [G 36]. - Der eine
hat eine falsche Rechtschreibung und der andere eine rechte
Falschschreibung [G 37]. - Man sollte Katarr schreiben, wenn er bloß im
Halse, und Katarrh, wenn er auf der Brust sitzt [G 164].
Im Sommer 1782 stirbt Lichtenbergs große Liebe Maria Dorothea
Stechard. - Der Experimentalphysiker Lichtenberg beginnt seine Versuche
mit Gasballons, mit sog. aerostatischen
Maschinen, denen er auch eine Abhandlung widmet, ja, er plant sogar
einen eigenen Ballonaufstieg, zu dem es nicht kommt.
Der Amerikaner, der den Kolumbus
zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung [G 183]. - Er las immer Agamemnon
statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen [G 187]. - Im Deutschen reimt sich Geld
auf Welt; es
ist kaum möglich, daß es einen vernünftigern Reim gebe; ich biete
allen Sprachen Trotz! [G 227]
Im Jahr 1783 lernt Lichtenberg Margarete Elisabeth Kellner kennen,
Tochter eines Weißbinders aus Nikolausberg bei Göttingen. Sie wird
seine Hausangestellte und Geliebte. Mit ihr hat er zwischen 1784 und
1797 acht Kinder, von denen drei sterben.
Er hatte seinen beiden Pantoffeln
Namen gegeben [L 477]. - Das Buch, das in der Welt am ersten verboten zu
werden verdiente, wäre ein Katalogus von verbotenen Büchern [G 150]. -
Wo damals die Grenzen der Wissenschaft waren, da ist jetzt die Mitte [H
23].
Noch 1783 publiziert er das satirische Fragment
von Schwänzen. Ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten,
seine dritte Schrift gegen den Schweizer pietistischen Theologen Johann
Caspar Lavater. Dieser war in den Jahren 1775-78 mit vier Bänden Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und
Menschenliebe bekannt geworden und hatte Goethes und Herders Beifall
gefunden. Er erklärt: Physiognomik
ist die Wissenschaft, den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale)
des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Äußerlichen zu
erkennen. Das geschah überwiegend anhand von Silhouetten und
Zeichnungen von Köpfen. Lichtenberg nun nahm Anstoß sowohl an der
Grundidee, aus der Formung des Gesichts den guten oder bösen Charakter
eines Menschen bestimmen zu wollen, als auch an der verwendeten Schwärmersprache.
Die las sich so: Ohne zarte
Beugungen, kleine Brüche, oder merkbare Schweifungen, giebt es keine
physiognomisch oder geistig-große Nase - Verständig und feingut -
Merklich schwach - Der Bug etwas kluger als Knopf und Nasloch - Sehr abwärts
sinkende Nasen sind nie wahrhaft gut, wahrhaft froh, oder edel, oder groß.
Immer sinnen sie erdwärts, sind verschlossen, kalt [...], obenher
gebogen, furchtbar, wollüstig [...]. Hast du eine lange, hohe Stirn, so
mache nie Freundschaft mit einem beynahe kugelrunden Kopf.
Das alles ironisiert Lichtenberg z. B. durch die Aphorismen: Ins
Englische, ins Französische, ins Lavaterische [D 184] und durch: Er
sollte einmal die Köpfe sehen, die bei seiner Physiognomik sind geschüttelt
worden [F 641]. Sein Fragment
von Schwänzen treibt und übertreibt nun die Physiognomik nicht an
Nasen, sondern frivolerweise an Schwänzen, Sau- und Hundeschwänzen
sowie an Purschenschwänzen, Haarbeuteln der Studenten, die er in
Schattenrissen abbildet und dann bewertet, z. B.: Silhouette vom Schwanze eines, leider! zur Mettwurst bereits bestimmten
Schweins-Jünglings in G... [...]. Noch zur Zeit nicht ganz entferkelt;
mutterschweinische Weichmut in schlappen [...] Hang und läppische
Milchheit in der Fahnenspitze. Aber doch bei p schon keimendes Korn von
Keiler-Talent [...]. Die nationalsozialistischen Politiker griffen
gern auf die Physiognomik zurück, weil es ihren Rassenkundlern gut
zupass kam. Rassistische Auf- und Abwertung allerdings lag Lavater fern.
Die schönen Weiber werden
heutzutage mit unter die Talente ihrer Männer gerechnet [H 82]. - Ein
Kerl, der einmal seine 100 000 Taler gestohlen hat, kann hernach ehrlich
durch die Welt kommen [H 114]. - An die Universitätsgaleere
angeschmiedet [H 119].
1788 wird Lichtenberg zum Hofrat ernannt. Nach sechs Jahren glücklichen
Zusammenlebens und vier Geburten heiraten Georg Christoph Lichtenberg
und Margarete Elisabeth Kellner. Er will ihr und den Kindern Sicherheit
geben. Ein Jahr später beginnt seine große
Krankheit, krampfartige Asthmaanfälle mit schwerster Atemnot, gegen
die er zehn Jahre bis zu seinem Tod kämpfen wird. 1793
ernennt ihn die Londoner Royal Society of Improving Natural Knowledge
zum Mitglied.
Er
hatte mehrere Krankheiten, allein seine Hauptstärke besaß er im
asthmatischen Fache [H 164]. - Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne
weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall
[J 1276]. - Ob die Musik die Pflanzen wachsen mache, oder ob es unter
den Pflanzen welche gebe, die musikalisch sind? [J 1358]
1794-99
erweitert er die Fülle seiner Forschungs- und Publikationsgebiete um
ein weiteres: Ausführliche Erklärung
der Hogarthischen Kupferstiche. William Hogarth, englischer Maler
und Kupferstecher, lebte von 1697-1764. Gotthold Ephraim Lessing lobt
ihn 1754 als einen der größten
Mahler, welche England jemals gehabt hat, und das, weil er
in alle seine Gemählde eine Art von satyrischer Moral zu bringen gewußt,
die das Herz an dem Vergnügen der Augen Theil zu nehmen, nöthiget.
Auch Goethe schätzt seine Bilder als ätzende Satiren gegen alles,
was wir unter dem Wort der Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen
stockende Pedanterie, kleinstädtische Wesen, kümmerliche äußere
Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit,
anmaßende Würde, und wie diese Ungeister, deren Namen Legion ist, nur
alle zu bezeichnen sein mögen. Das ist ein ideales Feld für die
minutiösen Bildbeschreibungen und ironischsatirischen Deutungen und
Bemerkungen des kongenialen Lichtenberg, eines confraters in satiris.
So erwirbt sich Lichtenberg bei vielen viel Beifall für diesen
bahnbrechenden Beitrag zur deutschen Kunstkritik. Jean Paul z. B. schätzt
sie als rein witziges Produkt
und als Aphrodisiakum für mein
satirisches Zeugen. Anders August Wilhelm Schlegel, den die platte
Tendenz der Hogarthischen Gattung stört, und Goethe, der
Lichtenbergs Kommentare einfach nur als Witzeleien
einstuft.
Sich allen Abend ernstlich zu
befragen was man an dem Tage Neues gelernt hat [J 1619]. - Was würde
wohl eine Glocke so groß wie Göttingen und 2mal so hoch als der
Jacobi-Turm für einen Ton geben, wenn sie gehörig angeschlagen würde?
[J 1846] - Ich bin mehrmal wegen begangener Fehler getadelt worden, die
mein Tadler nicht Kraft oder Witz genug hatte, zu begehen [K 37].
Georg Christoph Lichtenberg stirbt am 24. Februar 1799 an einem
heftigen Schub seiner Lungenentzündung. Dieser geniale Mann hat ein überirdisches
Monument verdient: Der Mondkrater Lichtenberg
liegt bei 31,8 0 N und 67,7 0 W und hat einen
Durchmesser von ca. 20 km.
Ich verspreche dem Publikum ihm künftig
nichts mehr zu versprechen [K 35]. - Ach! das waren noch gute Zeiten, da
ich noch alles glaubte, was ich hörte [K 50]. - Ich kann freilich nicht
sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann
ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll [K 293].
Werke:
Schriften und Briefe [in 6 Bdn]. Hrsg. von Wolfgang Promies. München:
Hanser 1968 – 1974. (Seitenidentische Nachdrucke: Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Frankfurt/Main: Zweitausendeins.)
Über Georg Christoph
Lichtenberg:
Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik.
Hameln: (Verlag der) Bücherstube Fritz Seifert 1948.
Wolfgang Promies: Georg Christoph Lichtenberg in Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten. 180 S., Reinbek: Rowohlt 1964 (rowohlts Bildmonographien
90).
Gert Sautermeister: Georg Christoph Lichtenberg. München: C. H. Beck
1993. 163 S. (= Becksche Reihe Autoren: 630).
Georg Christoph Lichtenberg 1742 – 1799. Wagnis der Aufklärung.
Ausstellungskatalog Darmstadt und Göttingen 1992. München: Hanser
1992.
Zur
Auswahl
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