Burckhard Garbe 

"Eine ganze Milchstraße von Einfällen"

Georg Christoph Lichtenberg 

Geboren am 1. Juli 1742 in Ober-Ramstadt bei Darmstadt, gestorben am 24. Februar 1799 in Göttingen

Orandum est, ut sit / mens sana in corpore sano. So heißt es in einer Satire Juvenals, des bedeutendsten Satirikers Roms (ca. 60 - ca. 130 oder 140 n. Chr., Decimus Iunius Iuvenalis). Man solle die Götter um nichts Törichtes bitten, wohl aber um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper.
Das werden Georg Christoph Lichtenbergs Eltern als gläubige Pietisten, der Vater sogar Pfarrer, für ihren Sohn zu seinem

Geburtstag, dem 1. Juli 1742, gewiss erfleht haben. Doch die Wirklichkeit sah dann für ihn anders aus. Sein mehr als gesunder Geist musste in einem corpus insanum wohnen, einem elenden Körper, wie er selber schreiben wird.
Der zeitgenössische Autor Johann Gottwerth Müller, Müller von Itzehoe, ein Mediziner, beschreibt in einem seiner Romane Lichtenbergs Körper wohl realistisch: Der erste Gelehrte in der Stadt [...], vier Fuß hoch, dessen Brust mit einem Vorgebürge, so wie der Rücken mit einem hohen Gewölbe belastet war. [...] beym Anblick eines Menschenkopfes auf einer wandelnden Masse, die in der That von der äußersten Spitze der Brust bis zur äußersten Exkrescenz zwischen den Schulterblättern eine um drey Fünftheil längere Linie gab, als wenn man sie von Einer Extremität der Schultern bis zur anderen maß, und deren Arme bis zu den Knien hinabhingen, [...] die nur auf allen vieren hätte gehen dürfen, um einer Schildkröte ähnlicher zu sehen, als einem Menschen. Ähnlich beschreibt sich Lichtenberg später gnadenlos selbst, misst sich aber 4 ½ Fuß bei, allerdings mit hochtoupierter Perücke. Seine Körpergröße wird sehr unterschiedlich eingeschätzt zwischen 1,43 bis etwa 1,65 bzw. sogar 1,70 m.
Von Medizinern erfahren wir, dass Georg Christoph Lichten­berg Kyphoskoliose hatte, eine starke Seitausbiegung der Wirbelsäule, die eine gegensinnige Seitausbiegung der benachbarten Wirbelsäulenabschnitte bedingt. Diese s-förmige Verkrümmung führt zu Kleinwuchs und damit zu einer relativen Überlänge der Gliedmaßen. Ein derartig deformierter Brustkorb lässt der Lunge nur wenig Raum. Wenige der Kranken werden älter als sechzig Jahre; der Tod tritt oft im Verlauf einer Lungenentzündung ein.

So wie gewisse Schriftsteller nachdem sie ihrer Materie erst einen derben Hieb versetzt haben hernach sagen sie zerfalle von selbst in zwei Teile [D 272]. - Die Bauernmädchen gehen barfuß, und die Vornehmen barbrust [D 303]. - Der Mann hatte so viel Verstand, daß er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war [D 451].

Dieses alles trifft auf Lichtenberg zu. Schon mit achtundzwan­zig berichtet er von jährlichem Katarrhal Fieber. Immer wieder leidet er unter Krankheitsschüben mit Husten, auch Bluthusten, Fieber, Abmagerung und hat mehrfach Lungen- und Brustfellentzündung. Sein Arzt Richter beschreibt Lichtenbergs Anfälle sehr anschaulich: Der erste Anfall kommt gemeiniglich zur Nachtzeit. Beim plötzlichen Erwachen wird eine bedeutende Beklemmung in der Brust, das Gefühl von Zusammenschnüren empfunden. Der Kranke keicht [!], schnappt ängstlich nach Luft, empfindet große Angst, kann nicht in der horizontalen Lage bleiben, sucht sehnsüchtig Erleichterung durch das Einathmen einer kühlen, frischen Luft, und nimmt um sich zu helfen starke Muskelbewegungen vor. [...] Die Dauer des Anfalls [...] von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden selbst Tagen.
Ab 1782 berichten seine Besucher über sein asthmatisches engbrüstiges Keuchen, er selbst klagt in seinen Tagebüchern über kurzen Odem. Im Oktober 1789 verschlimmert sich das zu einer großen Krankheit, seitdem ist er häufig bettlägerig. Aber er versucht, durch Krankheitsverleugnung dagegen anzukämpfen und spricht mit bitterem Galgenhumor von meiner Hypochondrie. Oder er formuliert: Bei mir liegt das Herz dem Kopf wenigstens um einen ganzen Schuh näher als bei den übrigen Menschen, daher meine große Billigkeit. Die Entschlüsse können noch ganz warm ratifiziert werden [C 20]. Schließlich führt eine Brust-Entzündung, seine alte Kranckheit mit Seitten Stechen, husten und Bluth auß werffen am 24. Februar 1799 zum Tode. Bei der Beurteilung von Lichtenbergs Lebenslauf und Werk muss man immer bedenken, gegen welche schlimmen Krankheitszustände er sich dies alles abgerungen hat.
Geboren wird Georg Christoph Lichtenberg 1742 in Ober-Ramstadt bei Darmstadt als siebzehntes und letztes Kind seiner Eltern, nur fünf von ihnen werden leben bleiben. Sein Vater Johann Conrad ist Pfarrer, seine Mutter Catharina Henrietta, geb. Eckhard, Pfarrerstochter. Dieser Vater ist nicht nur pietistischer Theologe, der gern Kirchenmusik macht und Kantatentexte schreibt, sondern er hat als weitere Beschäftigungsgebiete Mathematik, Architektur und physikalisch-technische Experimente. 1745 wird er Stadtpfarrer in Darmstadt, die Familie zieht um. Fünf Jahre später ist er Superintendent, 1751 stirbt er, Georg Christoph ist neun. Mit zehn Jahren kommt er in die Tertia des Darmstädter Pädagogiums, das er bis 1761 mit gutem Erfolg besucht.
Im Mai 1763 immatrikuliert sich Georg Christoph Lichtenberg an der 1737 gegründeten Georgia Augusta in Göttingen, damals als Modeuniversität beliebt. Zunächst studiert er Mathematik und Physik, belegt aber auch Lehrveranstaltungen in ziviler und militärischer Bau­kunst, Ästhetik, englische Sprache und Literatur, Staatengeschichte Europas, Diplomatik [Urkundenlehre] und Philosophie: ein studium generale. Zwei Jahre lang erhält er ein knappes landgräfliches Stipendium, danach aber muss er sich selbst ernähren: er wird Hofmeister englischer Studenten, denen er Stunden gibt, korrigiert beim Buchdrucker und verfasst Gelegenheitsgedichte. Inzwischen ist seine Mutter 1764 gestorben.

Der Mensch denkt Wunder, wer er wäre, wenn er die Milbe ei­nen Elefanten und die Sonne einen Funken nennt [E 296]. - Die Wege sind mit Nimmergrün besetzt [E 299]. - Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen? [E 316]

Lichtenberg beginnt im selben Jahr die Aufzeichnung seiner in aphoristischer Kürze formulierten Gedanken, Einsichten, Beobachtungen, Empfindungen, Einfälle in sog. Sudelbücher, die er in den Jahren 1764-96 von A - L durchbuchstabiert. Diese Bezeichnung ist einerseits selbstironisch gemeint, insofern es die negativen Konnotationen des Verbs sudeln vielleicht als captatio benevolentiae einsetzt; andererseits ist es ein Fachterminus aus der Handelssprache, worauf Lichtenberg selbst hinweist:

Die Kaufleute haben ihr Waste book (Sudelbuch, Klitterbuch glaube ich im Deutschen), darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein was sie verkaufen und kaufen, alles durch einander ohne Ordnung, aus diesem wird es in das Journal getragen, wo alles mehr systematisch steht, und endlich kommt es in den Leidger at double entrance [engl. ledger, dt. Hauptbuch, B. G.] nach der italiänischen Art buchzuhalten. In diesem wird mit jedem Mann besonders abgerechnet und zwar erst als Debitor und dann als Creditor gegenüber. Dieses verdient von den Gelehrten nachgeahmt zu werden. Erst ein Buch worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein an­deres getragen werden, wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind, und der Leidger könnte dann die Verbindung und die daraus fließende Erläuterung der Sache in einem ordentlichen Ausdruck enthalten [E 46].

Die Leiden des Herrn Baron von Werthers [E 330]. - Alles wohlklingend und alles erlogen [E 367]. - Wie gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, antwortete der Lahme [E 385].

Später bringt er einen progressiven Aspekt hinein: In dem Sudel-Buch können die Einfälle die man hat, mit aller der Umständlichkeit ausgeführt werden, in die man gewöhnlich verfällt so lang einem die Sache noch neu ist. Nachdem man bekannter mit der Sache wird, so sieht man das Unnötige ein und faßt es kürzer [E 150].

Das Doktor-Werden ist eine Konfirmation des Geistes [F 19]. - So wie man den Heiligen eine Nulle über den Kopf malt [F 167]. - 18. Epistel Pauli an die Göttinger [F 197].

Lichtenberg hat waste book richtig mit Sudelbuch übersetzt; das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Bd. 20, 932) führt unter diesem Lemma z. B. kladde auf, besonders die geschäftskladde des kaufmanns, [...] libellus collectaneorum, und bringt als frühestes Zitat von Golius 1585: ein buch darein man täglich schreibet, sudel oder kleckbuch.

Was sie Herz nennen liegt weit niedriger als der 4te Westen­knopf [F 337]. - So sagt man jemand bekleide ein Amt, wenn er von dem Amte bekleidet wird [F 426]. - Grabsteine für Bücher [F 543].

Mehr als alle anderen Schriften haben die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Aphorismen aus den Sudelbüchern den Namen Lichtenbergs als des Begründers des deutschen Aphorismus bekannt gemacht. Eine große Anzahl verschiedenster Sammlungen von ihnen seit der Erstpublikation 1800 und der ersten wissenschaftlichen Edition durch Albert Leitzmann 1902-08 zeigen Lichtenberg als einen höchst geistreichen und klugen, in vielen Wissenschaftsfeldern belesenen, hochsensiblen, oft ironischen und satirischen, unerschrocken aufklärerischen Schriftsteller, der immer Lesevergnügen garantiert. Und von solchen hat die deutsche Literatur nicht viele.

Vom ersten Dichter der Welt bis zum Verse-Fabrikant [F 884]. - Gott, der unsere Sonnen-Uhren aufzieht [F 1022]. - Mutter unser die du bist im Himmel [J 12].

1766 beginnt Lichtenberg unter Abraham Gotthelf Kästners Leitung seine astronomische Arbeit am Observatorium in Göttingen, die acht Jahre dauert. Er publiziert seine Schrift Von dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kann, der in den nächsten Jahren viele naturwissenschaftliche und kulturhistorische Schriften folgen.

Verhunzdeutschen. Er hat es verhunzdeutscht [J 91]. - Das Huren-Lied Salomonis [J 110]. - Was man so sehr prächtig Sonnenstäubchen nennt sind doch eigentlich Dreckstäubchen [J 164].

Im nächsten Jahr ernennt ihn die Mainzer Universität zum 2. Professor in der Mathematik und zum öffentlichen Lehrer der Englischen Sprache. Diese Stelle tritt er nicht an, sondern bleibt in Göttingen, wo er sich 1768 mit dem Verleger Johann Christian Dieterich eng befreundet und bis zu seinem Tod in dessen Haus zieht. Auch mit dem Lyriker und Übersetzer Heinrich Christian Boie verbindet ihn Freundschaft. 1770 findet seine erste Reise nach England statt, er besucht London und Richmond. Nach seiner Rückkehr ernennt ihn die Göttinger Universität zum Professor philosophiae extraordinarius, seine Antrittsvorlesung hält er über ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung beim Spiel.

Der Mann machte sehr viel Wind. B.: O nein! wenn es noch Wind gewesen wäre, es war aber mehr ein wehendes Vakuum [J 181]. - Die Mythen der Physiker [J 241]. - Eine ganze Milchstraße von Einfällen [J 344].

1772 bestimmt Lichtenberg die geographische Position der Städte Hannover, Osnabrück und Stade astronomisch, um bei der geodätischen Landvermessung die Karten einmessen zu können. Im folgenden Jahr reist er nach Helgoland und trifft in Hamburg Klopstock.

Non cogitant, ergo non sunt [J 379]. - Die Fliege, die nicht geklappt sein will, setzt sich am sichersten auf die Klappe selbst [J 415]. - Er hatte im Prügeln eine Art von Geschlechtstrieb, er prügelte nur seine Frau [J 448].

1773 veröffentlicht Lichtenberg seine erste Schrift gegen Lavater: Timorus, das ist Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben. Auch erscheint ein Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen, in der er linguistische Feldforschung betreibt und α) hochdeutsche und β) plattdeutsche Ausdrücke zusammenstellt, die synonym für Er ist betrunken im Volke verwendet werden, z. B.: Er hat einen Schuß - Er ist besoffen - Er ist dabei gewesen - Er ist hin - Er sieht den Himmel für eine Baßgeige an - Er sieht die Buchstaben doppelt - Er ist himmelhageldick - He is fette - He hefft to veele püchelt - He hat wat in de Krone - He hat wat im Timpen - He is half sieven - He heft de Planken to leev. Hier kreuzen sich Lichtenbergs Interesse, der deutschen Sprache und ihrer Lexik und Wortbildung nachzuspüren, und sein vorurteilsloser Umgang mit allen Schichten des Volks.
Lichtenberg wird 1774 von der Königlichen Sozietät der Wissenschaften zu Göttingen als Außerordentliches Mitglied der Mathematischen Klasse aufgenommen, ab 1779 als Ordentliches Mitglied. Eine weitere Englandreise folgt, bei der er 1775 Reinhold und Georg Forster trifft. Die Georgia Augusta ernennt Lichtenberg zum ordentlichen Professor für Naturwissenschaften. Briefe aus England erschei­nen 1776.

Im Namen des Herrn sengen, im Namen des Herrn brennen morden und dem Teufel übergeben, alles im Namen des Herrn [J 1099]. - Der Eierstock der Zukunft [J 1219]. - Ich habe jemanden gekannt der schrieb sich in 8 nehmen und Hoch8tung [!], einen ver8en, und er br8e anstatt er brachte. Ver9en (falsch) [K 2].

1777 entdeckt er zufällig beim Abschleifen der Harzplatte seines Elektrophors die dann nach ihm benannten, auf Gleitentladung beruhenden Lichtenbergschen Figuren; erstmals lässt sich mit ihnen demonstrieren, dass positive und negative Elektrizität unterschiedlich erscheinen. Damit leistet er wichtige Vorarbeit für die heutige Fotokopiertechnik. Außerdem setzt Lichtenberg die von Franklin vorgeschlagenen Zeichen +/- durch.

Bei vielen Menschen ist das Verse-Machen eine Entwicklungs-Krankheit des menschlichen Geistes [K 15]. - Der Weisheit erster Schritt ist: Alles anzuklagen. / Der letzte: sich mit Allem zu vertragen [L 2]. - Die geheiligten Schnitzer der Konzilien [L 28].

Ebenfalls 1777 lernt Lichtenberg auf dem Göttinger Wall eine Blumenverkäuferin kennen, die zwölfjährige Maria Dorothea Stechard, Tochter eines Leinewebers. Er nimmt sie 1780 bei sich auf, bringt ihr Schreiben und Rechnen bei, sie werden ein Paar. Natürlich kann der vierunddreißigjährige Professor der Experimentalphysik sie nicht in die Göttinger Gesellschaft einführen, die sich bald über diesen Casus die Mäuler zerreißt; so zieht er sich ganz in sein häusliches Refugium zurück und genießt vorurteilslos ihrer beider Glück. So wie sie älter wurde, nahm sie sich meiner Sachen an, mit einer Genauigkeit und einem so himmlisch liebreichen Wesen, daß ich mein Leben nie reicher und glücklicher gewesen bin. Sie hat mich mit dem ganzen menschlichen Geschlecht ausgesöhnt. Er hätte die Stechardin geheiratet, wenn sie nicht 1782 gestorben wäre.

Daß in den Kirchen gepredigt wird macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig [L 67]. - Er stieg langsam und stolz wie ein Hexameter voran und seine Frau trippelte wie ein Pentameterchen hinten drein [L 73]. - Ob das Elend in Deutschland zugenommen hat, weiß ich nicht, die Interjektions-Zeichen haben gewiß zugenommen. Wo man sonst bloß ! setzte, da steht jetzt !!! [L 147].

Lichtenberg wird 1777 für zwölf Jahre Herausgeber des Göttinger Taschen-Kalenders, für den er selbst viele Beiträge verfasst. Die zweite Schrift gegen Lavater kommt heraus: Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis. Nachdem sich Lichtenberg in Theorie und Praxis mit Blitzableitern beschäftigt hatte, versieht er als erster Göttinger sein Gartenhaus mit einem y-förmigen Blitzableiter.

Ehemals taufte man die Glocken, jetzt sollte man die Drucker-Pressen taufen [L 179]. - Ist es nicht sonderbar, daß man zu den höchsten Ehrenstellen in der Welt (König) ohne Examen gelangt, das man von jedem Stadt-Physikus fordert? [L 261] - Es ist eine ganz bekannte Sache, daß die Viertel-Stündchen größer sind, als die Viertelstunden [L 417].

1781 geraten Lichtenberg und der ihm früher, in Zeiten des Göttinger Hainbunds, 1772-74, befreundete Johann Heinrich Voß in philologischen Streit über die deutsche Notierung des altgriechischen Vokals Eta (η) in den antiken Namen der Ilias und der Odyssee. Voß hat Recht, dass die Griechen ihn als langes ä ausgesprochen haben, und notiert folgerichtig den sonst Hebe geschriebenen Namen der Göttin der Jugend, Ήβη, nun Häbä, was Lichtenberg und andere zu spöttischen Vorschlägen reizt: dann aber auch konsequent und analog Hära für Ήρα statt Hera, Homär für Όμηρος statt Homer, Häsiod für Ήσίοδος anstelle von Hesiod, Härodot für Ήρόδοτος statt Herodot zu notieren, ja, sie schlagen sogar vor, nun auch unsern Heiland Jäsus zu schreiben. Beide Standpunkte lassen sich rechtfertigen, Voß favorisiert das phonetische Prinzip der Schreibung (Schreib, wie du sprichst!), Lichtenberg aber das pragmatische des Schreib-Usus: so gegen die Gewohnheit zu verstoßen, ist lächerlich. Seine Schrift hat den zugespitzten Titel Über die Pronuntiation der Schöpse [Hammel] des alten Griechenlands verglichen mit der Pronuntiation ihrer neuern Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh. Noch 1783 höhnt er im Deutschen Museum hartnäckig weiter: To bäh or not to bäh, that is the question.

Es gibt eine wahre und eine förmliche Orthographie [G 36]. - Der eine hat eine falsche Rechtschreibung und der andere eine rechte Falschschreibung [G 37]. - Man sollte Katarr schreiben, wenn er bloß im Halse, und Katarrh, wenn er auf der Brust sitzt [G 164].

Im Sommer 1782 stirbt Lichtenbergs große Liebe Maria Do­rothea Stechard. - Der Experimentalphysiker Lichtenberg beginnt seine Versuche mit Gasballons, mit sog. aerostatischen Maschinen, denen er auch eine Abhandlung widmet, ja, er plant sogar einen eigenen Ballonaufstieg, zu dem es nicht kommt.

Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung [G 183]. - Er las immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen [G 187]. - Im Deutschen reimt sich Geld auf Welt; es ist kaum möglich, daß es einen vernünftigern Reim gebe; ich biete allen Sprachen Trotz! [G 227]

Im Jahr 1783 lernt Lichtenberg Margarete Elisabeth Kellner kennen, Tochter eines Weißbinders aus Nikolausberg bei Göttingen. Sie wird seine Hausangestellte und Geliebte. Mit ihr hat er zwischen 1784 und 1797 acht Kinder, von denen drei sterben.

Er hatte seinen beiden Pantoffeln Namen gegeben [L 477]. - Das Buch, das in der Welt am ersten verboten zu werden verdiente, wäre ein Katalogus von verbotenen Büchern [G 150]. - Wo damals die Grenzen der Wissenschaft waren, da ist jetzt die Mitte [H 23].

Noch 1783 publiziert er das satirische Fragment von Schwän­zen. Ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten, seine dritte Schrift gegen den Schweizer pietistischen Theologen Johann Caspar Lavater. Dieser war in den Jahren 1775-78 mit vier Bänden Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe bekannt geworden und hatte Goethes und Herders Bei­fall gefunden. Er erklärt: Physiognomik ist die Wissenschaft, den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale) des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Äußerlichen zu erkennen. Das geschah überwiegend anhand von Silhouetten und Zeichnungen von Köpfen. Lichtenberg nun nahm Anstoß sowohl an der Grundidee, aus der Formung des Gesichts den guten oder bösen Charakter eines Menschen bestimmen zu wollen, als auch an der verwendeten Schwärmersprache. Die las sich so: Ohne zarte Beugungen, kleine Brüche, oder merkbare Schweifungen, giebt es keine physiognomisch oder geistig-große Nase - Verständig und feingut - Merklich schwach - Der Bug etwas kluger als Knopf und Nasloch - Sehr abwärts sinkende Nasen sind nie wahrhaft gut, wahrhaft froh, oder edel, oder groß. Immer sinnen sie erdwärts, sind verschlossen, kalt [...], obenher gebogen, furchtbar, wollüstig [...]. Hast du eine lange, hohe Stirn, so mache nie Freundschaft mit einem beynahe kugelrunden Kopf.
Das alles ironisiert Lichtenberg z. B. durch die Aphorismen: Ins Englische, ins Französische, ins Lavaterische [D 184] und durch: Er sollte einmal die Köpfe sehen, die bei seiner Physiognomik sind geschüttelt worden [F 641]. Sein Fragment von Schwänzen treibt und übertreibt nun die Physiognomik nicht an Nasen, sondern frivolerweise an Schwänzen, Sau- und Hundeschwänzen sowie an Purschenschwänzen, Haarbeuteln der Studenten, die er in Schattenrissen abbildet und dann bewertet, z. B.: Silhouette vom Schwanze eines, leider! zur Mettwurst bereits bestimmten Schweins-Jünglings in G... [...]. Noch zur Zeit nicht ganz entferkelt; mutterschweinische Weichmut in schlappen [...] Hang und läppische Milchheit in der Fahnenspitze. Aber doch bei p schon keimendes Korn von Keiler-Talent [...]. Die nationalsozialistischen Politiker griffen gern auf die Physiognomik zurück, weil es ihren Rassenkundlern gut zupass kam. Rassistische Auf- und Abwertung allerdings lag Lavater fern.

Die schönen Weiber werden heutzutage mit unter die Talente ihrer Männer gerechnet [H 82]. - Ein Kerl, der einmal seine 100 000 Taler gestohlen hat, kann hernach ehrlich durch die Welt kommen [H 114]. - An die Universitätsgaleere angeschmiedet [H 119].

1788 wird Lichtenberg zum Hofrat ernannt. Nach sechs Jahren glücklichen Zusammenlebens und vier Geburten heiraten Georg Christoph Lichtenberg und Margarete Elisabeth Kellner. Er will ihr und den Kindern Sicherheit geben. Ein Jahr später beginnt seine große Krankheit, krampfartige Asthmaanfälle mit schwerster Atemnot, gegen die er zehn Jahre bis zu seinem Tod kämpfen wird.
1793 ernennt ihn die Londoner Royal Society of Improving Natural Knowledge zum Mitglied.
Er hatte mehrere Krankheiten, allein seine Hauptstärke besaß er im asthmatischen Fache [H 164]. - Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall [J 1276]. - Ob die Musik die Pflanzen wachsen mache, oder ob es unter den Pflanzen welche gebe, die musikalisch sind? [J 1358]

1794-99 erweitert er die Fülle seiner Forschungs- und Publikationsgebiete um ein weiteres: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche. William Hogarth, englischer Maler und Kupferstecher, lebte von 1697-1764. Gotthold Ephraim Lessing lobt ihn 1754 als einen der größten Mahler, welche England jemals gehabt hat, und das, weil er in alle seine Gemählde eine Art von satyrischer Moral zu bringen gewußt, die das Herz an dem Vergnügen der Augen Theil zu nehmen, nöthiget. Auch Goethe schätzt seine Bilder als ätzende Satiren gegen alles, was wir unter dem Wort der Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie, kleinstädtische Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßende Würde, und wie diese Ungeister, deren Namen Legion ist, nur alle zu bezeichnen sein mögen. Das ist ein ideales Feld für die minutiösen Bildbeschreibungen und ironischsatirischen Deutungen und Bemerkungen des kongenialen Lichten­berg, eines confraters in satiris. So erwirbt sich Lichtenberg bei vielen viel Beifall für diesen bahnbrechenden Beitrag zur deutschen Kunstkritik. Jean Paul z. B. schätzt sie als rein witziges Produkt und als Aphrodisiakum für mein satirisches Zeugen. Anders August Wilhelm Schlegel, den die platte Tendenz der Hogarthischen Gattung stört, und Goethe, der Lichtenbergs Kommentare einfach nur als Witzeleien einstuft.    

Sich allen Abend ernstlich zu befragen was man an dem Tage Neues gelernt hat [J 1619]. - Was würde wohl eine Glocke so groß wie Göttingen und 2mal so hoch als der Jacobi-Turm für einen Ton geben, wenn sie gehörig angeschlagen würde? [J 1846] - Ich bin mehrmal wegen begangener Fehler getadelt worden, die mein Tadler nicht Kraft oder Witz genug hatte, zu begehen [K 37].

Georg Christoph Lichtenberg stirbt am 24. Februar 1799 an einem heftigen Schub seiner Lungenentzündung. Dieser geniale Mann hat ein überirdisches Monument verdient: Der Mondkrater Lichtenberg liegt bei 31,8 0 N und 67,7 0 W und hat einen Durchmesser von ca. 20 km.

Ich verspreche dem Publikum ihm künftig nichts mehr zu versprechen [K 35]. - Ach! das waren noch gute Zeiten, da ich noch alles glaubte, was ich hörte [K 50]. - Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll [K 293].

Werke:
Schriften und Briefe [in 6 Bdn]. Hrsg. von Wolfgang Promies. München: Hanser 1968 – 1974. (Seitenidentische Nachdrucke: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Frankfurt/Main: Zweitausendeins.)

Über Georg Christoph Lichtenberg:
Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik. Hameln: (Verlag der) Bücherstube Fritz Seifert 1948.
Wolfgang Promies: Georg Christoph Lichtenberg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 180 S., Reinbek: Rowohlt 1964 (rowohlts Bildmonographien 90).
Gert Sautermeister: Georg Christoph Lichtenberg. München: C. H. Beck 1993. 163 S. (= Becksche Reihe Autoren: 630).
Georg Christoph Lichtenberg 1742 – 1799. Wagnis der Aufklärung. Ausstellungskatalog Darmstadt und Göttingen 1992. München: Hanser 1992.



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