Denn
wenn man in einer stillen Geschäftigkeit fortlebt, und nur mit dem Nächsten
und Alltäglichen zu thun hat, so verliert man die Empfindung des
Abwesenden; man kann sich kaum überreden, daß im Fernen unser Andenken
noch fortfährt, und daß gewisse Töne voriger Zeit nachklingen. Ihr
Brief und die Schrift Ihres Herrn Vaters versichert mich eines
angenehmen Gegentheils. Es ist gar löblich von dem alten Patriarchen,
daß er sein Volk auch vor der Welt und ihren Großen bekennet; denn er
hat uns doch in dieses Land gelockt, und uns weitere Gegenden mit dem
Finger gezeigt, als zu durchstreifen erlaubt werden wollte. Wie oft hab`
ich bei meinen Versuchen gedacht: was möchte wohl dabei Möser denken
oder sagen! Sein richtiges Gefühl hat ihm nicht erlaubt, bei diesem
Anlasse zu schweigen; denn wer auf´s Publikum wirken will, muß ihm
gewisse Sachen wiederholen, und verrückte Gesichtspunkte wieder
zurechtstellen. Die Menschen sind so gemacht, daß sie gern durch ein
Tubus sehen, und wenn er nach ihren Augen richtig gestellt ist, ihn
loben und preisen; verschiebt ein anderer den Brennpunkt, und die
Gegenstände erscheinen ihnen trüblich, so werden sie irre, und wenn
sie auch das Rohr nicht verachten, so wissen sie sich´s doch selbst
nicht wieder zurecht zu bringen; es wird ihnen unheimlich, und sie
lassen es lieber stehen. Auch diesmal hat Ihr Herr Vater wieder als ein
reicher Mann gehandelt, der Jemand auf ein Butterbrod einlädt, und ihm
dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorstellt. Er hat bei diesem
Anlasse so viel verwandte und weit herumliegende Ideen rege gemacht, daß
ihm jeder Deutsche, dem es um die gute Sache und um den Fortgang der
angefangenen Bemühungen zu thun ist, danken muß. Was er von meinen
Versuchen sagt, dafür bleib´ ich ihm verbunden, denn ich habe mir zu
Gesetz gemacht, über mich selbst und das Meinige ein gewisses
Stillschweigen zu beobachten. Ich unterschreibe besonders das sehr gern,
wenn er meine Schriften als Versuche ansieht, als Versuche in Rücksicht
auf mich als Schriftsteller, und auch bezüglich auf das Jahrzehend, um
nicht zu sagen Jahrhundert, unserer Literatur."
In meinem Büchlein "Vom Verdienste" schrieb ich: "In dem
vollkommen seyn, worein man gesetzt ist, verschaffet wahren Werth und
auch wahre Glückseligkeit." Weiß zwar nicht mehr, ob ich Mösern
damit gemeint habe, könnt's mir aber sehr wohl denken, denn gerade so
war's bei ihm! Die Juristen und Historiker heutiger Zeiten sehen es
nicht viel anders. Einer von ihnen, Karl H. L. Welker mit Namen,
Habilitand in Osnabrück schrieb zum Beispiel:
"Möser war ein Staatsdenker, der aus der Praxis kam. Er wirkte vor
allem durch Intelligenzartikel und inneramtliche Stellungnahmen. Neben
seiner 'Osnabrückischen Geschichte' hat er kein wissenschaftliches Werk
hinterlassen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt er als der
bürgerliche Jurist, der beispielgebend politische Verantwortung übernahm
und von dieser in untadeliger Weise Gebrauch machte. Seine
'Patriotischen Phantasien' stehen noch heute für den Versuch, bei einem
breiten Lesepublikum Interesse am Gemeinwesen zu wecken. Besonders mit
seinem Bemühen, durch rechtspolitische Fragen öffentliche Diskussionen
auszulösen, unterschied er sich deutlich von der Publizistik seiner
Zeit."
Möser wirkte im überschaubaren Hochstift Osnabrück. In dessen
Residenzstadt Osnabrück wurde er am 14.12.172o geboren, dort starb er
auch am 8.1.1794. Gleichwohl war Möser kein Mann der Provinz. Seine
"Osnabrückische Geschichte“ wollte für die historiographische
Forschung Norddeutschlands exemplarisch sein und einem künftigen
nationalen Geschichtsschreiber vorarbeiten. Seine Intelligenzartikel veröffentlichte
er als „ Patriotische Phantasien „ bei Friedrich Nicolai in Berlin,
und in seinen amtlichen Arbeiten hatte er über Jahrzehnte hinweg mit
den politischen Entscheidungszentren in Hannover, London und Münster zu
tun. Die durch den Westfälischen Frieden bikonfessionell ausgestaltete
Verfassung Osnabrücks forderte von Möser die fortwährende Beachtung
der Entwicklung des Reichsrechts. Zudem nötigte ihn sein persönliches
Anliegen, den weltweiten Export des heimischen Linnens zu fördern, zur
Kenntnis politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge."
Möser hatte sich den geistigen Strömungen seiner Zeit geöffnet. Von
seinen Eltern erhielt er eine späthumanistische Schulausbildung und
lernte die politische Philosophie eines Pufendorf und Thomasius kennen.
Er hat sich auch mit den englischen und französischen Aufklärern
auseinandergesetzt, reflektierte aber deren Gedanken nie kritiklos.
Voltaires Witz inspirierte ihn und bewahrte ihn davor, humorlose und
schulmeisterliche Lehren zu verbreiten. Das wußten die Leser seiner
Intelligenzblätter zu schätzen. Nur mit der Rechtsgeschichte soll er
sich schwer getan haben."
Im 19. Jahrhundert galt Möser noch als „unzünftig", denn er
trat mehr als politischer Pragmatiker denn als Wissenschaftler in
Erscheinung. Die Wiederentdeckung der alten genossenschaftlichen
Freiheiten (das hörten die Anhänger der Osnabrücker Laischaften
gerne) und seine Ablehnung eines absolutistischen Obrigkeitsstaates rühmten
Historiker des 2o. Jahrhunderts als erfreulichen Schritt in Richtung
Konstitutionalismus.
Und dann gibt es ja auch noch den fleißigen Briefautor Möser, der den
Nachlebenden Aufschluß über seine Zeit und sein Denken gibt. Ich darf
mich rühmen, vom 17. März 1763 bis zum 11. Oktober 1766 postalisch mit
ihm verkehrt zu haben. Hier ein Auszug aus seinem letzten Brief an mich:
Liebster Freund !
Ich hoffe mein langes Stillschweigen werde ihren Schlaf so wenig befördert
als verhindert haben; ich mögte von allen beyden ungern die [Ehre]
haben. Schon lange habe ich mir vorgesetzt, Ihnen einen sehr langen, schönen
und zärtlichen Brief zu schreiben. Allein Sie wissen, was auch aus dem
besten Vorsatz werden kann. Indessen haben sie wohl gethan, sich der
„Allgemeinen Geschichte" zu entschlagen [...] Sie sehn, ich
plaudere: meine Absicht ist nur, Ihnen beykommendes Intelligenzblatt zu
überschicken. Jedes Land muß billig dergleichen haben und eher als
eine Societät der Wissenschaften. Es ließe sich vieles über diese
grosse Wahrheit sagen, ich habe aber keine Laune. Doch noch eins: Herr
Lessing sagte mir, daß ich ihm einen Extract aus Spellmani Glossario (
Anm.: Speelmann, Glossarium archaeologicum, London 1626 ) von dem Worte
massoney, maconeia etc etc. schicken mögte. Ich finde aber unter diesen
Titeln in Spellmann, Somner, Skinner, etc nichts. So viel ist mir
hernach beygefallen, daß das Primitivum mate, welches bey den
Deutschen, Holländern, Engländern, Dänen, Schweden, etc socium
anzeigt, sein müsse, daß wir von diesem mate noch Mascopey und
Maetschapie ( der Wetenschaften ), haben, daß folglich die Ritterschaft
von der Runden Tafel in hoc sensu eine massioniam ausgemacht und die Fry
[!] masons sich als socii societatis non clausae entgegengestellt haben,
wie Herr Lessing wohl gemuthmasset hat. Wenn Sie ihm doch einmal
schreiben, so melden Sie ihm doch dieses.
Leser, verzage nicht bei all dieser ethymologischen
Wissenschaftlerei, aber das war typisch für Möser: Wenn er mal einem
Wort auf der Spur war, ließ er nicht locker. Er liebte Spurensuche in
seiner Bibliothek. Leider habe ich Herrn Lessing nicht mehr schreiben können.
Mein Tod kam dazwischen, Und mittlerweile wundere ich mich manchmal,
dass ich unsere damalige Sprache noch verstehen kann. Heutzutage
sprechen sie selbst hier oben im Himmel eine andere, jedermann verständliche
Sprache. Aber kommen wir zurück zu Mösers Vorstellungen eines Staates.
Man muss sich immer wieder daran erinnern, dass er schon eine komplette
Idee von der (deutschen) Nation im Kopfe hatte, bevor es einen „ Staat
der Deutschen" und eine Nationalhymne gab. Der deutsche Vormärz
schlummerte noch in seinen Kinderschuhen, und Heine hatte sein Wintermärchen
noch nicht geschrieben, als Möser starb.
Am schönsten spricht Möser von seinen Zielen in der Einleitung zum
III. Teil der „Patriotischen Phantasien": Mir
war mit der Ehre, die Wahrheit frei gesagt zu haben, wenig gedient, wenn
ich nichts gewonnen hatte; und da mir die Liebe und das Vertrauen meiner
Mitbürger ebenso wichtig waren als das Recht und die Wahrheit, so habe
ich, um jene nicht zu verlieren und dieser nichts zu vergeben, manche
Wendung machen müssen, die mir, wenn ich für ein großes Publikum
geschrieben hätte, vielleicht zu klein geschienen haben würde.
Das Schreiben war für Möser nie Selbstzweck, sondern politischer
Dienst am Volke. In diesem politischen Dienst sucht er auf seine
Landsleute zu wirken, um die Nation zu schaffen: Wo
finden wir die Nation ? An den Höfen ? Dies wird niemand behaupten. In
den Städten sind verfehlte und verdorbene Kopien; in der Armee
abgerichtete Maschinen; auf dem Lande unterdrückte Bauern. Die Zeit, wo
jeder Franke und Sachse paterna rura ( das ist sein allodialfreies, von
keinem Lehns- oder Gutsherrn abhängiges Erbgut ) bauete, und in eigener
Person verteidigte, wo er von seinem Hofe zur gemeinsamen
Landesversammlung kam, und der Mensch, der keinen solchen Hof besaß,
wenn er auch der reichste Krämer gewesen wäre, zur Masse der Armen und
ungeehrten Leute gehörte, diese Zeit war im Stande, uns eine Nation zu
zeigen.
Das gibt in kurzen Sätzen die Grundanschauung seiner politischen
Auffassung wieder. Man muss Möser in seiner Zeit sehen, mit all den
komplizierten politischen Verzahnungen.
Allein wer in einem Regierungscollegio sitzt und täglich den
verschiedenen Beschwerden und Forderungen nach einer Theorie, welche auf
die mindeste Aufopferung von Freiheit und Eigentum gegründet ist,
abhelfen will, weiß es am besten, wieviel daran gelegen, solche Grundsätze
aufrecht zu erhalten.
"Wir kennen dieses Regierungskollegium, das einen Bezirk von
110.000 Seelen verwaltet, zur Genüge", schreibt Werner Pleister
1938 im Vorwort zu Mösers Briefen und fährt fort: "Es ist ein
Prachtexemplar der historischen Spielzeugschachtel, die Deutschland nach
dem Westfälischen Frieden darstellte. Über das Stift Osnabrück hatten
sich 1648 konfessionelle Gegensätze, ständische Privilegien,
landesherrliche Befugnisse nicht einen können. Jeder hatte dann etwas
zu sagen. Abwechselnd ein frei zu wählender katholischer Bischof und
ein protestantischer Bischof aus dem braunschweigisch-lüneburgischen
Hause. Die Stände aber hatten ihre eigenen Rechte, und dem Landesherrn
direkt unterstand nur das landesfürstliche Beamtentum. So ging es
durcheinander zwischen Geistlichen, Ritterschaft und Bürgern. 1761 kam
die Verwirrung zum äußersten, als der katholische Bischof Clemens
August starb. mitten im Siebenjährigen Krieg, der eine Neuwahl verzögerte,
bis Georg III. von England als Inhaber der Regierungsgewalt 1764 seinen
unmündigen zweiten Sohn zum Bischof von Osnabrück wählen ließ und
die Regierung zwei hannoverschen Räten übertrug, denen Möser half.
Der war zwar maßgebend, aber an tausenderlei Rücksichten hin- und
herstrebender Gewalten gekettet. Diese vielseitige Amtstätigkeit Mösers
bezeugen seine Briefe auf sehr lebendige Weise. Ein Briefpaket aus dem
Gutshaus Hünefeld enthält in seinen 135 Briefen eine Unmenge
Einzelheiten beruflicher und persönlicher Art. Vom Kranken, der kein
„Sourkrout" essen darf, über die häuslichen Verhältnisse und
die Verwandten, die sich beim „ Bocksbeutel" gelegentlich eines
Leichenbegängnisses betrinken, bis zum fein nach historischen Mustern
ausgesponnenen Intrigenplan."
Die Aufklärung, in der Möser aufwuchs und gegen die er sich
entwickelte, isolierte den Menschen. Sie machte ihn zu einem
beziehungslosen, selbständigen Wesen an sich, und anerkannte keine
historischen Vorraussetzungen und keine sonstigen Bedingungen. Möser
dagegen war ein Vertreter des historischen Rechtes. Er suchte den
wirklichen, auf konkrete Gegebenheiten aufgebauten Staat und stand damit
im Gegensatz zur Aufklärung. Seine große geschichtliche Leistung war,
dass er – zunächst ganz dieser Aufklärung mit Rationalismus und
spielerischer Vernunft verpflichtet – eine neue Entwicklung
vorbereitete und selbst einleitete. Aber ihm galt nicht "der Mensch
an sich" etwas, sondern – und das läßt sich einzig aus seiner
Zeit heraus verstehen – der besitzende Bauer und Bürger. Daran haben
sich damals viele gestossen und heute – da wir von Hungersnöten in
aller Welt und ihren Ursachen wissen – befremdet uns seine Einstellung
noch mehr.
Möser verachtete Schulden und Armut war ihm schimpflich. Besitz und
Eigentum, mit denen sich der Mensch an den Boden bindet, empfand er als
verpflichtende Garanten des Staates. Dennoch blieb er fern von einem
selbstherrlichen Kapitalismus, der den Besitz um des Besitzes willen
pflegt. Möser konnte nicht ahnen, dass später eine Industrialisierung
zu einer Klassengesellschaft führen würde. Er sah in der damaligen
Welt, in der Könige, Fürsten und Kirchen regierten, unterdrückte
Bauern und Bürger, denen er helfen wollte. Die Bauern sollten tragender
Pfeiler des Staates sein. Sie sollten geschützt werden. Als Advokat
erlebte er unterdrückte, verschuldete, von Spekulationen ausgenützte
Bauern, für deren Los er sich von Beginn seiner Berufsausübung an
verantwortlich fühlte.
Ein ganzes Jahrhundert ignorierten die Menschen seine Worte, bis sie ihn
endlich wieder entdeckten. Jetzt greifen sie wieder amüsiert zu den „
Patriotischen Phantasien" und ergötzen sich an den Beiträgen
dieses Intelligenzblattes. Da lesen wir über Aufgaben und Fragen über
den Rockenbau im hiesigen Hochstift, Gedanken über das westphälische
Leibeigentum, über das Glück des Bettlers, lesen, was ein Dorfkrämer
über den Kaffee denkt; Schreiben über alte Onkel und junge Vettern
werden mitgeteilt oder über die gesellschaftliche Wirksamkeit von
Todesstrafen; Möser macht sich Gedanken, wie man Züchtlinge gut beschäftigen
kann und auf Töchter erzieherisch einwirkt, die besser tanzen als
kochen können. Hier zum Beispiel liegt mir das Schreiben einer
begehrten Matrone vor, die sich übers Schminken äußert. Es soll Dir,
werter Leser, nicht vorenthalten bleiben:
Unsere geneigten Leser werden aus
dem 3ten Theil der nützlichen Sammlungen sich verschiedener Schriften
erinnern, welche daselbst für= und gegen das Schminken abgedruckt sind.
Es liefen zu der Zeit verschiedene Abhandlungen von dieser Materie ein,
welche man zurück zu legen genöthigt wurde, um die Leser nicht zu ermüden,
wenn sie von einerley Vorwurf gar zu oft lesen müsten. Nunmehro wird es
nicht unangenehm seyn, folgenden von einer geschickten Feder ganz
lebhaft geschriebenen Brief zu lesen, der in diesen Blättern einen
Platz verdient. Hier ist er:
Das ist wahr, es scheinet doch, als wenn man uns alten Leute das liebe
Alter recht sauer machen wolte; so sehr bemühet man sich, die Schminke,
welche uns doch so redliche Dienste thut, zu tadeln und zu verrufen. Die
gute Frau, welche den Letzten Aufsatz eingeschickt, weiß noch nicht,
wozu es mit ihr kommen kan. Sie ist jetzo vermuthlich schön. Aber!
aber! der liebe Gott lasse sie meine Jahre erreichen: so soll sie auch
wol noch einmahl sagen, daß sie niemals geglaubt hätte, wie gut die
Schminke sey. Es ist was rechts um die stolzen Dinger, welche mit ihrer
von Mutter und Großmutter geerbten Haut, als einer verdienstlichen
Sache, prahlen, und noch wol gar nicht einem süssen Lächeln sich auf
den Beyfall ihres ungeschminkten Herzens berufen. Ist es doch, als wenn
gar keine Bescheidenheit mehr in der Welt wäre, und jedes hübsche
Gesichtgen so viel Zutrauen zu seinen angebohrnen Reizungen setzen dürfe,
als wenn nichts darüber wäre, so sehr sucht man die Schminke verächtlich
zu machen.
Du liebe Zeit! was ist denn daß Schminken? Ist es nicht eine Würkung
der Demuth? eine offenherzige Beichte unverschuldeter Mängel? eine Gefälligkeit
für die ganze menschliche Gesellschaft? eine Schuldigkeit gegen eine
Schwangere? ein Trost der Alten? eine Pflicht gegen uns selbst, um ein häßliches,
fürchterliches und unerträgliches Gesicht seinen Freunden angenehm,
und den jungen Vermählten, welche ihren Männern alle Morgen mit einem
neuen Eckel schmeicheln, unschädlich zu machen? Ich bin unter dem
grossen Kometen geboren und nun mit Ehren 76 Jahr alt geworden, und habe
ohne Ruhm zu melden, seit meinem 14ten Jahre, o gute Zeit! so wenig
Stolz besessen, daß ich noch kein einziges mahl mein eignes Gesicht
gezeigt habe; das heisse ich, sich selbst verläugnen!
Die spröde Sittenlehrerin, welche ihre rothen Lippen verengert, und ein
Paar grosse Augen zu sanftern Blicken verkleinert, solte sich billig
entsehen, ihre Weisheit mit so losen mitteln anzupreisen, indem doch
ihre ganze Absicht nur dahin gehet, sich auf kosten einer in aller
Demuth geschminkten Nebenbuhlerin zu erheben. Borgen nicht alle Tugenden
gewisse Annehmlichkeiten von der Kunst, und kan man das einen Betrug
nennen, wodurch die gemeine Landeswohlfahrt befördert, und niemanden
geschadet wird? Ja oftmals ist es eine grosse Ehre für den jungen
Herrn, daß man ihn eines kleinen unschuldigen Betrugs würdig schätzet.
Nicht alle Philosophen bringen es mit ihren gelben Haren so weit, daß
man sich um sie so viel Mühe giebt; und vielleicht ist es auch so
schrecklich nicht, als unsre Feinde sagen, ein ander Gesicht im Bette
und ein anders in Geselschaft zu finden. Die Veränderung ist überall
angenehm, und der beste Mann ist zufrieden, wenn er nur eine schöne
Gemahlin in Geselschaften zeigen kan, ohne sich um die Siege, welche
keine Zuschauer haben, zu bekümmern.
Ich lasse es noch gelten, daß ein junges Rosenknöspgen mit seiner
runden Einfassung stolz sey. Allein, wie sehen die jungen Weiber aus?
das Gesicht verlängert sich nach den ersten Wochen; die Augen werden
matt; die weisse Haut wird todt und blas; und wenn noch Kopfweh und
Mutterbeschwer hinzu kommen: so mag es ein entsetzliches Vergnügen seyn,
ein solches abgestorbenes Gesicht zu küssen, welches der Natur nach
einem scharfen Nachtfroste ähnlich sieht.
Und was richtet denn die Schminke vor Unheil in der Welt an? Sie
vermehret die Zahl der Künstler; sie vermindert die üblen Gegenstände;
sie befördert die Ehen der Häßlichen zur gemeinen Landeswohlfahrt;
sie beruhigt die Mutter über die Reizungen ihrer Töchter; sie
verhindert den Spott wider der verstellten Gesichter; sie ebnet die
Blattergruben und Runzeln, vermehret das Erbauen, erquicket das Auge,
erhält die Apotheker, und hat einen unmittelbaren Einfluß in die ganze
Oekonomie der Schönheit, wodurch so viel Gutes in der Welt gestiftet
und die liebe Armuth versorgt wird. Wie mancher Arme hat sich nicht in
meiner Jugend von der Milch gesättigt, worin sich die Frau [...]
gebadet hatte? Und haben wir Deutsche nicht würklich den Oel auf
unseren Salat aus Italienwohlfeiler, weil die Damen und Abbes erst zu
ihrem Bädern gebrauchet haben?
Man pudert sich; man bohret Löcher durch die Ohren; man wässert sich
mit wohlriechenden Wassern; pucklichte tragen Volanten, und hinkende erhöhen
eine Absatz; die keine hübschen Nasen haben, lassen sich in der Gestalt
einer Marie Magdalene mahlen, damit das Gesicht gen Himmel gekehret und
die Nase im prospekt so viel verkürzt werde; die keine hübschen Zähne
haben, verkleinern den Mund; der Busen wird durch die Schnürbrüste
erweitert und verschönert; und alles dieses wird nicht getadelt. Selbst
die Peruken, welche in der heiligen Schrift verboten sind, und wowider
vor etwa hundert Jahren von allen Kanzeln geeifert wurde, wie mir meine
Großmutter oft erzählet, sind so nothwendig geworden, daß in manchen
Städten keiner, ohne eine recht grosse, ein Rathsglied werden kan.
Alles ist unnatürlich: dennoch mögen wir unsre Zähne weissen, unsern
Bart rupfen, unsre Lippen beissen, aber nicht das Gesicht verbessern.
Ist das nicht seltsam? und solte die Natur dem Gesichte allein ein
Privilegium gegeben haben?
Ein Meerwunder, wenn man es zweymal gesehen, vermindert unsere
Bewunderung; und wie Reamurs Kaninchen sich mit einem Huhne paarete: so
waren in Paris den dritten Tag nicht einmal zehn Kutschen mehr vor
seiner Thür; wie ist es denn möglich, daß ein Gesicht sich täglich
in derselben Gestalt zeigen, und dennoch das Auge vergnügen könne?
Die alltägliche Natur ist zwar einmahl schöner als die Kunst, eine
Wahrheit, welche ich mit meinem eignen Gesichte beweisen kan. Die Kunst
ist das allerliebste Kammermädgen der Natur, welche alle Morgen bey
unsern geheimsten Geschäften zu Rathe gezogen wird. Sie zeigt sich alle
Morgen neu. Immer frisch, immer bemühet zu gefallen, immer fleißig
lernt sie von Newton und Algarotti eine andre Farbe für den Tag, und
eine andre für den Abend, wann die gelben Lichtstrahlen sich mit unsern
Gesichtsfarben vermischen, zu erwählen, und den Schauspielerinnen bey
jedem Aufzuge frische Reizungen zu geben Wie träge ist hingegen die
Natur ! und Trägheit ist doch der Tod der Schönheit.
Der Tadel mag also die Ausschweifungen treffen. Ich meines theils halte
die Schminke den Schönen anständig und nützlich, den Alten hingegen
unentbehrlich. Diejenigen, welche sich davon nicht wollen überzeugen
lassen, mögen sich um 11 Uhr bey meinem Nachttische einfinden, wo sie
die scheußliche Natur und die Schönheit der Kunst mit einander
vergleichen können. Ich bin ( et )c.... Dero demüthigste Dienerin,
J.M.
Mein Freund Möser wurde 1752 Syndicus der Ritterstände und schon fünf
Jahre später advocatus patriae,
das heißt Anwalt des Staates. Als solcher hatte er die innenpolitischen
juristischen Staatsinteressen und die ausländischen Verbindungen der
geistlichen Territorialregierung Osnabrück wahrzunehmen. Von 1768 bis
1783 hatte er die Leitung der Verwaltung des Fürstbistums Osnabrück
inne. Er war also schon zu Lebzeiten ein bedeutender, weit über das
Bistum hinaus bekannter Mann. Mit seinen naturrechtlichen und staatsbürgerlichen
Aufsätzen hat er einen starken Einfluss auf den jungen Goethe ausgeübt.
Dankbar erinnert er sich noch in "Dichtung und Wahrheit" des
"herrlichen, unvergleichlichen Mannes". Die
"Patriotischen Phantasien" waren das Hauptgesprächsthema, als
Goethe 1774 zum ersten Mal Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach traf.
Und Mösers Aufsatz "Von dem Faustrechte" (1770) hat deutlich
auf den "Götz von Berlichingen" eingewirkt. So hat er –
wenn auch indirekt – doch noch auf die deutsche Bühne eingewirkt.
Denn seine eigenen Dramen bestanden weder vor der Mit- noch Nachwelt.
Sie waren, unter uns gesagt, blutlose Vehikel von Ideen.
Er selbst freilich war ein alles andere als blutloser Mensch. Ich habe
ihn als brillianten Verwaltungsmann kennengelernt und als einen
Intellektuellen, an dem sich die Geister der nachfolgenden Jahrhunderte
entzündeten. Karl Marx meinte sogar, mein Freund habe den
"biedern, kleinbürgerlichen, 'hausbackenen', gewöhnlich
bornierten Standpunkt des Philisters" nicht überschritten. Da
freut es mich, dass er bis heute mit drei Gesamt- und zahllosen
Einzelausgaben geehrt wurde, von denen sicher Herders Anthologie
"Von deutscher Art und Kunst" (1773) mit Texten von Goethe,
Frisi und Möser die folgenreichste geworden ist.
Werke:
Sämtliche Werke. Band 1 – 14. Hrsg. von der Akademie der
Wissenschaften in Göttingen. Oldenburg, Berlin 1943 – 1990.
Briefe. Hrsg. von E. Beins u. W. Pleister. Hannover, Osnabrück 1939.
Patriotische Phantasien. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried
Zieger. Leipzig 1986.
Justus Mösers Briefwechsel. Neu bearbeitet von William F. Sheldon.
Hannover 1992.
Politische und juristische Schriften. Hrsg. von Karl H. L. von Welker. München
2001.
Über Justus Möser:
Patriotische Phantasien. Justus Möser. 1720 – 1794. Aufklärer in
der Ständegesellschaft. Bearb. von H. Buck. Ausstellungs-Katalog.
Bramsche 1994.
Karl H. L. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als
Jurist und Staatsmann. Band 1 – 2. Osnabrück 1996.
Möser-Bibliographie (1730 - 1990). Hrsg. von Winfried Wösler. Tübingen
1997.
Die aktuelle Forschung wird von der Möser-Dokumentationsstelle und der
Justus –Möser-Gesellschaft in Osnabrück befördert. Dort erscheint
auch seit 1989 das "Möser-Forum".
Zur
Auswahl
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