Klaus Thomas Schnittger

 "Also sollte man den Zweykämpfen nur eine bessere Form geben"

Justus Möser

Geboren am 14. Dezember 1720 in Osnabrück, 
gestorben am 8. Januar 1794 ebd.

Werter Leser, ich, Thomas Abbt, zu Lebzeiten Professor und ein Freund Justus Mösers, schicke mich an zu berichten von diesem wichtigsten Staatsdenker des 18. Jahrhunderts. Einem Manne, von dem auch Goethe begeistert war, wie sich unschwer aus dem Brief des Weimarer Ministers vom 21. Juni 1787 an Frau Jenny von Voigts, Mösers Tochter, entnehmen läßt: "Ihr Brief", heißt es dort, "ist mir wie viele Stimmen gewesen, und hat mir gar einen angenehmen Eindruck gemacht.

 Denn wenn man in einer stillen Geschäftigkeit fortlebt, und nur mit dem Nächsten und Alltäglichen zu thun hat, so verliert man die Empfindung des Abwesenden; man kann sich kaum überreden, daß im Fernen unser Andenken noch fortfährt, und daß gewisse Töne voriger Zeit nachklingen. Ihr Brief und die Schrift Ihres Herrn Vaters versichert mich eines angenehmen Gegentheils. Es ist gar löblich von dem alten Patriarchen, daß er sein Volk auch vor der Welt und ihren Großen bekennet; denn er hat uns doch in dieses Land gelockt, und uns weitere Gegenden mit dem Finger gezeigt, als zu durchstreifen erlaubt werden wollte. Wie oft hab` ich bei meinen Versuchen gedacht: was möchte wohl dabei Möser denken oder sagen! Sein richtiges Gefühl hat ihm nicht erlaubt, bei diesem Anlasse zu schweigen; denn wer auf´s Publikum wirken will, muß ihm gewisse Sachen wiederholen, und verrückte Gesichtspunkte wieder zurechtstellen. Die Menschen sind so gemacht, daß sie gern durch ein Tubus sehen, und wenn er nach ihren Augen richtig gestellt ist, ihn loben und preisen; verschiebt ein anderer den Brennpunkt, und die Gegenstände erscheinen ihnen trüblich, so werden sie irre, und wenn sie auch das Rohr nicht verachten, so wissen sie sich´s doch selbst nicht wieder zurecht zu bringen; es wird ihnen unheimlich, und sie lassen es lieber stehen. Auch diesmal hat Ihr Herr Vater wieder als ein reicher Mann gehandelt, der Jemand auf ein Butterbrod einlädt, und ihm dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorstellt. Er hat bei diesem Anlasse so viel verwandte und weit herumliegende Ideen rege gemacht, daß ihm jeder Deutsche, dem es um die gute Sache und um den Fortgang der angefangenen Bemühungen zu thun ist, danken muß. Was er von meinen Versuchen sagt, dafür bleib´ ich ihm verbunden, denn ich habe mir zu Gesetz gemacht, über mich selbst und das Meinige ein gewisses Stillschweigen zu beobachten. Ich unterschreibe besonders das sehr gern, wenn er meine Schriften als Versuche ansieht, als Versuche in Rücksicht auf mich als Schriftsteller, und auch bezüglich auf das Jahrzehend, um nicht zu sagen Jahrhundert, unserer Literatur."
In meinem Büchlein "Vom Verdienste" schrieb ich: "In dem vollkommen seyn, worein man gesetzt ist, verschaffet wahren Werth und auch wahre Glückseligkeit." Weiß zwar nicht mehr, ob ich Mösern damit gemeint habe, könnt's mir aber sehr wohl denken, denn gerade so war's bei ihm! Die Juristen und Historiker heutiger Zeiten sehen es nicht viel anders. Einer von ihnen, Karl H. L. Welker mit Namen, Habilitand in Osnabrück schrieb zum Beispiel:
"Möser war ein Staatsdenker, der aus der Praxis kam. Er wirkte vor allem durch Intelligenzartikel und inneramtliche Stellungnahmen. Neben seiner 'Osnabrückischen Geschichte' hat er kein wissenschaftliches Werk hinterlassen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt er als der bürgerliche Jurist, der beispielgebend politische Verantwortung übernahm und von dieser in untadeliger Weise Gebrauch machte. Seine 'Patriotischen Phantasien' stehen noch heute für den Versuch, bei einem breiten Lesepublikum Interesse am Gemeinwesen zu wecken. Besonders mit seinem Bemühen, durch rechtspolitische Fragen öffentliche Diskussionen auszulösen, unterschied er sich deutlich von der Publizistik seiner Zeit."
Möser wirkte im überschaubaren Hochstift Osnabrück. In dessen Residenzstadt Osnabrück wurde er am 14.12.172o geboren, dort starb er auch am 8.1.1794. Gleichwohl war Möser kein Mann der Provinz. Seine "Osnabrückische Geschichte“ wollte für die historiographische Forschung Norddeutschlands exemplarisch sein und einem künftigen nationalen Geschichtsschreiber vorarbeiten. Seine Intelligenzartikel veröffentlichte er als „ Patriotische Phantasien „ bei Friedrich Nicolai in Berlin, und in seinen amtlichen Arbeiten hatte er über Jahrzehnte hinweg mit den politischen Entscheidungszentren in Hannover, London und Münster zu tun. Die durch den Westfälischen Frieden bikonfessionell ausgestaltete Verfassung Osnabrücks forderte von Möser die fortwährende Beachtung der Entwicklung des Reichsrechts. Zudem nötigte ihn sein persönliches Anliegen, den weltweiten Export des heimischen Linnens zu fördern, zur Kenntnis politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge."
Möser hatte sich den geistigen Strömungen seiner Zeit geöffnet. Von seinen Eltern erhielt er eine späthumanistische Schulausbildung und lernte die politische Philosophie eines Pufendorf und Thomasius kennen. Er hat sich auch mit den englischen und französischen Aufklärern auseinandergesetzt, reflektierte aber deren Gedanken nie kritiklos. Voltaires Witz inspirierte ihn und bewahrte ihn davor, humorlose und schulmeisterliche Lehren zu verbreiten. Das wußten die Leser seiner Intelligenzblätter zu schätzen. Nur mit der Rechtsgeschichte soll er sich schwer getan haben."
Im 19. Jahrhundert galt Möser noch als „unzünftig", denn er trat mehr als politischer Pragmatiker denn als Wissenschaftler in Erscheinung. Die Wiederentdeckung der alten genossenschaftlichen Freiheiten (das hörten die Anhänger der Osnabrücker Laischaften gerne) und seine Ablehnung eines absolutistischen Obrigkeitsstaates rühmten Historiker des 2o. Jahrhunderts als erfreulichen Schritt in Richtung Konstitutionalismus.
Und dann gibt es ja auch noch den fleißigen Briefautor Möser, der den Nachlebenden Aufschluß über seine Zeit und sein Denken gibt. Ich darf mich rühmen, vom 17. März 1763 bis zum 11. Oktober 1766 postalisch mit ihm verkehrt zu haben. Hier ein Auszug aus seinem letzten Brief an mich:
Liebster Freund !
Ich hoffe mein langes Stillschweigen werde ihren Schlaf so wenig befördert als verhindert haben; ich mögte von allen beyden ungern die [Ehre] haben. Schon lange habe ich mir vorgesetzt, Ihnen einen sehr langen, schönen und zärtlichen Brief zu schreiben. Allein Sie wissen, was auch aus dem besten Vorsatz werden kann. Indessen haben sie wohl gethan, sich der „Allgemeinen Geschichte" zu entschlagen [...] Sie sehn, ich plaudere: meine Absicht ist nur, Ihnen beykommendes Intelligenzblatt zu überschicken. Jedes Land muß billig dergleichen haben und eher als eine Societät der Wissenschaften. Es ließe sich vieles über diese grosse Wahrheit sagen, ich habe aber keine Laune. Doch noch eins: Herr Lessing sagte mir, daß ich ihm einen Extract aus Spellmani Glossario ( Anm.: Speelmann, Glossarium archaeologicum, London 1626 ) von dem Worte massoney, maconeia etc etc. schicken mögte. Ich finde aber unter diesen Titeln in Spellmann, Somner, Skinner, etc nichts. So viel ist mir hernach beygefallen, daß das Primitivum mate, welches bey den Deutschen, Holländern, Engländern, Dänen, Schweden, etc socium anzeigt, sein müsse, daß wir von diesem mate noch Mascopey und Maetschapie ( der Wetenschaften ), haben, daß folglich die Ritterschaft von der Runden Tafel in hoc sensu eine massioniam ausgemacht und die Fry [!] masons sich als socii societatis non clausae entgegengestellt haben, wie Herr Lessing wohl gemuthmasset hat. Wenn Sie ihm doch einmal schreiben, so melden Sie ihm doch dieses.
Leser, verzage nicht bei all dieser ethymologischen Wissenschaftlerei, aber das war typisch für Möser: Wenn er mal einem Wort auf der Spur war, ließ er nicht locker. Er liebte Spurensuche in seiner Bibliothek. Leider habe ich Herrn Lessing nicht mehr schreiben können. Mein Tod kam dazwischen, Und mittlerweile wundere ich mich manchmal, dass ich unsere damalige Sprache noch verstehen kann. Heutzutage sprechen sie selbst hier oben im Himmel eine andere, jedermann verständliche Sprache. Aber kommen wir zurück zu Mösers Vorstellungen eines Staates. Man muss sich immer wieder daran erinnern, dass er schon eine komplette Idee von der (deutschen) Nation im Kopfe hatte, bevor es einen „ Staat der Deutschen" und eine Nationalhymne gab. Der deutsche Vormärz schlummerte noch in seinen Kinderschuhen, und Heine hatte sein Wintermärchen noch nicht geschrieben, als Möser starb.
Am schönsten spricht Möser von seinen Zielen in der Einleitung zum III. Teil der „Patriotischen Phantasien": Mir war mit der Ehre, die Wahrheit frei gesagt zu haben, wenig gedient, wenn ich nichts gewonnen hatte; und da mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitbürger ebenso wichtig waren als das Recht und die Wahrheit, so habe ich, um jene nicht zu verlieren und dieser nichts zu vergeben, manche Wendung machen müssen, die mir, wenn ich für ein großes Publikum geschrieben hätte, vielleicht zu klein geschienen haben würde.
Das Schreiben war für Möser nie Selbstzweck, sondern politischer Dienst am Volke. In diesem politischen Dienst sucht er auf seine Landsleute zu wirken, um die Nation zu schaffen: Wo finden wir die Nation ? An den Höfen ? Dies wird niemand behaupten. In den Städten sind verfehlte und verdorbene Kopien; in der Armee abgerichtete Maschinen; auf dem Lande unterdrückte Bauern. Die Zeit, wo jeder Franke und Sachse paterna rura ( das ist sein allodialfreies, von keinem Lehns- oder Gutsherrn abhängiges Erbgut ) bauete, und in eigener Person verteidigte, wo er von seinem Hofe zur gemeinsamen Landesversammlung kam, und der Mensch, der keinen solchen Hof besaß, wenn er auch der reichste Krämer gewesen wäre, zur Masse der Armen und ungeehrten Leute gehörte, diese Zeit war im Stande, uns eine Nation zu zeigen.
Das gibt in kurzen Sätzen die Grundanschauung seiner politischen Auffassung wieder. Man muss Möser in seiner Zeit sehen, mit all den komplizierten politischen Verzahnungen. Allein wer in einem Regierungscollegio sitzt und täglich den verschiedenen Beschwerden und Forderungen nach einer Theorie, welche auf die mindeste Aufopferung von Freiheit und Eigentum gegründet ist, abhelfen will, weiß es am besten, wieviel daran gelegen, solche Grundsätze aufrecht zu erhalten.
"Wir kennen dieses Regierungskollegium, das einen Bezirk von 110.000 Seelen verwaltet, zur Genüge", schreibt Werner Pleister 1938 im Vorwort zu Mösers Briefen und fährt fort: "Es ist ein Prachtexemplar der historischen Spielzeugschachtel, die Deutschland nach dem Westfälischen Frieden darstellte. Über das Stift Osnabrück hatten sich 1648 konfessionelle Gegensätze, ständische Privilegien, landesherrliche Befugnisse nicht einen können. Jeder hatte dann etwas zu sagen. Abwechselnd ein frei zu wählender katholischer Bischof und ein protestantischer Bischof aus dem braunschweigisch-lüneburgischen Hause. Die Stände aber hatten ihre eigenen Rechte, und dem Landesherrn direkt unterstand nur das landesfürstliche Beamtentum. So ging es durcheinander zwischen Geistlichen, Ritterschaft und Bürgern. 1761 kam die Verwirrung zum äußersten, als der katholische Bischof Clemens August starb. mitten im Siebenjährigen Krieg, der eine Neuwahl verzögerte, bis Georg III. von England als Inhaber der Regierungsgewalt 1764 seinen unmündigen zweiten Sohn zum Bischof von Osnabrück wählen ließ und die Regierung zwei hannoverschen Räten übertrug, denen Möser half. Der war zwar maßgebend, aber an tausenderlei Rücksichten hin- und herstrebender Gewalten gekettet. Diese vielseitige Amtstätigkeit Mösers bezeugen seine Briefe auf sehr lebendige Weise. Ein Briefpaket aus dem Gutshaus Hünefeld enthält in seinen 135 Briefen eine Unmenge Einzelheiten beruflicher und persönlicher Art. Vom Kranken, der kein „Sourkrout" essen darf, über die häuslichen Verhältnisse und die Verwandten, die sich beim „ Bocksbeutel" gelegentlich eines Leichenbegängnisses betrinken, bis zum fein nach historischen Mustern ausgesponnenen Intrigenplan."
Die Aufklärung, in der Möser aufwuchs und gegen die er sich entwickelte, isolierte den Menschen. Sie machte ihn zu einem beziehungslosen, selbständigen Wesen an sich, und anerkannte keine historischen Vorraussetzungen und keine sonstigen Bedingungen. Möser dagegen war ein Vertreter des historischen Rechtes. Er suchte den wirklichen, auf konkrete Gegebenheiten aufgebauten Staat und stand damit im Gegensatz zur Aufklärung. Seine große geschichtliche Leistung war, dass er – zunächst ganz dieser Aufklärung mit Rationalismus und spielerischer Vernunft verpflichtet – eine neue Entwicklung vorbereitete und selbst einleitete. Aber ihm galt nicht "der Mensch an sich" etwas, sondern – und das läßt sich einzig aus seiner Zeit heraus verstehen – der besitzende Bauer und Bürger. Daran haben sich damals viele gestossen und heute – da wir von Hungersnöten in aller Welt und ihren Ursachen wissen – befremdet uns seine Einstellung noch mehr.
Möser verachtete Schulden und Armut war ihm schimpflich. Besitz und Eigentum, mit denen sich der Mensch an den Boden bindet, empfand er als verpflichtende Garanten des Staates. Dennoch blieb er fern von einem selbstherrlichen Kapitalismus, der den Besitz um des Besitzes willen pflegt. Möser konnte nicht ahnen, dass später eine Industrialisierung zu einer Klassengesellschaft führen würde. Er sah in der damaligen Welt, in der Könige, Fürsten und Kirchen regierten, unterdrückte Bauern und Bürger, denen er helfen wollte. Die Bauern sollten tragender Pfeiler des Staates sein. Sie sollten geschützt werden. Als Advokat erlebte er unterdrückte, verschuldete, von Spekulationen ausgenützte Bauern, für deren Los er sich von Beginn seiner Berufsausübung an verantwortlich fühlte.
Ein ganzes Jahrhundert ignorierten die Menschen seine Worte, bis sie ihn endlich wieder entdeckten. Jetzt greifen sie wieder amüsiert zu den „ Patriotischen Phantasien" und ergötzen sich an den Beiträgen dieses Intelligenzblattes. Da lesen wir über Aufgaben und Fragen über den Rockenbau im hiesigen Hochstift, Gedanken über das westphälische Leibeigentum, über das Glück des Bettlers, lesen, was ein Dorfkrämer über den Kaffee denkt; Schreiben über alte Onkel und junge Vettern werden mitgeteilt oder über die gesellschaftliche Wirksamkeit von Todesstrafen; Möser macht sich Gedanken, wie man Züchtlinge gut beschäftigen kann und auf Töchter erzieherisch einwirkt, die besser tanzen als kochen können. Hier zum Beispiel liegt mir das Schreiben einer begehrten Matrone vor, die sich übers Schminken äußert. Es soll Dir, werter Leser, nicht vorenthalten bleiben:

Unsere geneigten Leser werden aus dem 3ten Theil der nützlichen Sammlungen sich verschiedener Schriften erinnern, welche daselbst für= und gegen das Schminken abgedruckt sind. Es liefen zu der Zeit verschiedene Abhandlungen von dieser Materie ein, welche man zurück zu legen genöthigt wurde, um die Leser nicht zu ermüden, wenn sie von einerley Vorwurf gar zu oft lesen müsten. Nunmehro wird es nicht unangenehm seyn, folgenden von einer geschickten Feder ganz lebhaft geschriebenen Brief zu lesen, der in diesen Blättern einen Platz verdient. Hier ist er:
Das ist wahr, es scheinet doch, als wenn man uns alten Leute das liebe Alter recht sauer machen wolte; so sehr bemühet man sich, die Schminke, welche uns doch so redliche Dienste thut, zu tadeln und zu verrufen. Die gute Frau, welche den Letzten Aufsatz eingeschickt, weiß noch nicht, wozu es mit ihr kommen kan. Sie ist jetzo vermuthlich schön. Aber! aber! der liebe Gott lasse sie meine Jahre erreichen: so soll sie auch wol noch einmahl sagen, daß sie niemals geglaubt hätte, wie gut die Schminke sey. Es ist was rechts um die stolzen Dinger, welche mit ihrer von Mutter und Großmutter geerbten Haut, als einer verdienstlichen Sache, prahlen, und noch wol gar nicht einem süssen Lächeln sich auf den Beyfall ihres ungeschminkten Herzens berufen. Ist es doch, als wenn gar keine Bescheidenheit mehr in der Welt wäre, und jedes hübsche Gesichtgen so viel Zutrauen zu seinen angebohrnen Reizungen setzen dürfe, als wenn nichts darüber wäre, so sehr sucht man die Schminke verächtlich zu machen.
Du liebe Zeit! was ist denn daß Schminken? Ist es nicht eine Würkung der Demuth? eine offenherzige Beichte unverschuldeter Mängel? eine Gefälligkeit für die ganze menschliche Gesellschaft? eine Schuldigkeit gegen eine Schwangere? ein Trost der Alten? eine Pflicht gegen uns selbst, um ein häßliches, fürchterliches und unerträgliches Gesicht seinen Freunden angenehm, und den jungen Vermählten, welche ihren Männern alle Morgen mit einem neuen Eckel schmeicheln, unschädlich zu machen? Ich bin unter dem grossen Kometen geboren und nun mit Ehren 76 Jahr alt geworden, und habe ohne Ruhm zu melden, seit meinem 14ten Jahre, o gute Zeit! so wenig Stolz besessen, daß ich noch kein einziges mahl mein eignes Gesicht gezeigt habe; das heisse ich, sich selbst verläugnen!
Die spröde Sittenlehrerin, welche ihre rothen Lippen verengert, und ein Paar grosse Augen zu sanftern Blicken verkleinert, solte sich billig entsehen, ihre Weisheit mit so losen mitteln anzupreisen, indem doch ihre ganze Absicht nur dahin gehet, sich auf kosten einer in aller Demuth geschminkten Nebenbuhlerin zu erheben. Borgen nicht alle Tugenden gewisse Annehmlichkeiten von der Kunst, und kan man das einen Betrug nennen, wodurch die gemeine Landeswohlfahrt befördert, und niemanden geschadet wird? Ja oftmals ist es eine grosse Ehre für den jungen Herrn, daß man ihn eines kleinen unschuldigen Betrugs würdig schätzet. Nicht alle Philosophen bringen es mit ihren gelben Haren so weit, daß man sich um sie so viel Mühe giebt; und vielleicht ist es auch so schrecklich nicht, als unsre Feinde sagen, ein ander Gesicht im Bette und ein anders in Geselschaft zu finden. Die Veränderung ist überall angenehm, und der beste Mann ist zufrieden, wenn er nur eine schöne Gemahlin in Geselschaften zeigen kan, ohne sich um die Siege, welche keine Zuschauer haben, zu bekümmern.
Ich lasse es noch gelten, daß ein junges Rosenknöspgen mit seiner runden Einfassung stolz sey. Allein, wie sehen die jungen Weiber aus? das Gesicht verlängert sich nach den ersten Wochen; die Augen werden matt; die weisse Haut wird todt und blas; und wenn noch Kopfweh und Mutterbeschwer hinzu kommen: so mag es ein entsetzliches Vergnügen seyn, ein solches abgestorbenes Gesicht zu küssen, welches der Natur nach einem scharfen Nachtfroste ähnlich sieht.
Und was richtet denn die Schminke vor Unheil in der Welt an? Sie vermehret die Zahl der Künstler; sie vermindert die üblen Gegenstände; sie befördert die Ehen der Häßlichen zur gemeinen Landeswohlfahrt; sie beruhigt die Mutter über die Reizungen ihrer Töchter; sie verhindert den Spott wider der verstellten Gesichter; sie ebnet die Blattergruben und Runzeln, vermehret das Erbauen, erquicket das Auge, erhält die Apotheker, und hat einen unmittelbaren Einfluß in die ganze Oekonomie der Schönheit, wodurch so viel Gutes in der Welt gestiftet und die liebe Armuth versorgt wird. Wie mancher Arme hat sich nicht in meiner Jugend von der Milch gesättigt, worin sich die Frau [...] gebadet hatte? Und haben wir Deutsche nicht würklich den Oel auf unseren Salat aus Italienwohlfeiler, weil die Damen und Abbes erst zu ihrem Bädern gebrauchet haben?
Man pudert sich; man bohret Löcher durch die Ohren; man wässert sich mit wohlriechenden Wassern; pucklichte tragen Volanten, und hinkende erhöhen eine Absatz; die keine hübschen Nasen haben, lassen sich in der Gestalt einer Marie Magdalene mahlen, damit das Gesicht gen Himmel gekehret und die Nase im prospekt so viel verkürzt werde; die keine hübschen Zähne haben, verkleinern den Mund; der Busen wird durch die Schnürbrüste erweitert und verschönert; und alles dieses wird nicht getadelt. Selbst die Peruken, welche in der heiligen Schrift verboten sind, und wowider vor etwa hundert Jahren von allen Kanzeln geeifert wurde, wie mir meine Großmutter oft erzählet, sind so nothwendig geworden, daß in manchen Städten keiner, ohne eine recht grosse, ein Rathsglied werden kan. Alles ist unnatürlich: dennoch mögen wir unsre Zähne weissen, unsern Bart rupfen, unsre Lippen beissen, aber nicht das Gesicht verbessern. Ist das nicht seltsam? und solte die Natur dem Gesichte allein ein Privilegium gegeben haben?
Ein Meerwunder, wenn man es zweymal gesehen, vermindert unsere Bewunderung; und wie Reamurs Kaninchen sich mit einem Huhne paarete: so waren in Paris den dritten Tag nicht einmal zehn Kutschen mehr vor seiner Thür; wie ist es denn möglich, daß ein Gesicht sich täglich in derselben Gestalt zeigen, und dennoch das Auge vergnügen könne?
Die alltägliche Natur ist zwar einmahl schöner als die Kunst, eine Wahrheit, welche ich mit meinem eignen Gesichte beweisen kan. Die Kunst ist das allerliebste Kammermädgen der Natur, welche alle Morgen bey unsern geheimsten Geschäften zu Rathe gezogen wird. Sie zeigt sich alle Morgen neu. Immer frisch, immer bemühet zu gefallen, immer fleißig lernt sie von Newton und Algarotti eine andre Farbe für den Tag, und eine andre für den Abend, wann die gelben Lichtstrahlen sich mit unsern Gesichtsfarben vermischen, zu erwählen, und den Schauspielerinnen bey jedem Aufzuge frische Reizungen zu geben Wie träge ist hingegen die Natur ! und Trägheit ist doch der Tod der Schönheit.
Der Tadel mag also die Ausschweifungen treffen. Ich meines theils halte die Schminke den Schönen anständig und nützlich, den Alten hingegen unentbehrlich. Diejenigen, welche sich davon nicht wollen überzeugen lassen, mögen sich um 11 Uhr bey meinem Nachttische einfinden, wo sie die scheußliche Natur und die Schönheit der Kunst mit einander vergleichen können. Ich bin ( et )c.... Dero demüthigste Dienerin,
                      J.M.

Mein Freund Möser wurde 1752 Syndicus der Ritterstände und schon fünf Jahre später advocatus patriae, das heißt Anwalt des Staates. Als solcher hatte er die innenpolitischen juristischen Staatsinteressen und die ausländischen Verbindungen der geistlichen Territorialregierung Osnabrück wahrzunehmen. Von 1768 bis 1783 hatte er die Leitung der Verwaltung des Fürstbistums Osnabrück inne. Er war also schon zu Lebzeiten ein bedeutender, weit über das Bistum hinaus bekannter Mann. Mit seinen naturrechtlichen und staatsbürgerlichen Aufsätzen hat er einen starken Einfluss auf den jungen Goethe ausgeübt. Dankbar erinnert er sich noch in "Dichtung und Wahrheit" des "herrlichen, unvergleichlichen Mannes". Die "Patriotischen Phantasien" waren das Hauptgesprächsthema, als Goethe 1774 zum ersten Mal Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach traf. Und Mösers Aufsatz "Von dem Faustrechte" (1770) hat deutlich auf den "Götz von Berlichingen" eingewirkt. So hat er – wenn auch indirekt – doch noch auf die deutsche Bühne eingewirkt. Denn seine eigenen Dramen bestanden weder vor der Mit- noch Nachwelt. Sie waren, unter uns gesagt, blutlose Vehikel von Ideen.
Er selbst freilich war ein alles andere als blutloser Mensch. Ich habe ihn als brillianten Verwaltungsmann kennengelernt und als einen Intellektuellen, an dem sich die Geister der nachfolgenden Jahrhunderte entzündeten. Karl Marx meinte sogar, mein Freund habe den "biedern, kleinbürgerlichen, 'hausbackenen', gewöhnlich bornierten Standpunkt des Philisters" nicht überschritten. Da freut es mich, dass er bis heute mit drei Gesamt- und zahllosen Einzelausgaben geehrt wurde, von denen sicher Herders Anthologie "Von deutscher Art und Kunst" (1773) mit Texten von Goethe, Frisi und Möser die folgenreichste geworden ist.



Werke:
Sämtliche Werke. Band 1 – 14. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Oldenburg, Berlin 1943 – 1990.
Briefe. Hrsg. von E. Beins u. W. Pleister. Hannover, Osnabrück 1939.
Patriotische Phantasien. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Zieger. Leipzig 1986.
Justus Mösers Briefwechsel. Neu bearbeitet von William F. Sheldon. Hannover 1992.
Politische und juristische Schriften. Hrsg. von Karl H. L. von Welker. München 2001.
 
Über Justus Möser:
Patriotische Phantasien. Justus Möser. 1720 – 1794. Aufklärer in der Ständegesellschaft. Bearb. von H. Buck. Ausstellungs-Katalog. Bramsche 1994.
Karl H. L. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann. Band 1 – 2. Osnabrück 1996.
Möser-Bibliographie (1730 - 1990). Hrsg. von Winfried Wösler. Tübingen 1997.

Die aktuelle Forschung wird von der Möser-Dokumentationsstelle und der Justus –Möser-Gesellschaft in Osnabrück befördert. Dort erscheint auch seit 1989 das "Möser-Forum".



 Zur Auswahl