Mit
diesen emphatischen Worten versuchte 1958 kein geringerer als der
Schriftsteller Arno Schmidt seinem damaligen SDR-Hörfunkredakteur,
Helmut Heißenbüttel, ein Werk des 1870 verstorbenen Autors schmackhaft
zu machen. Hatte Schmidt doch kurz zuvor den im Todesjahr Oppermanns
herausgegebenen Roman ‚ausgegraben’ und darüber einen Radioessay
mit dem Titel „Hundert Jahre. Einem Mann zum Gedenken“ verfasst.
Arno Schmidt, mit seiner untrüglichen Nase für zu Unrecht vergessene
Literaten, hatte somit die Person Oppermanns und sein literarischen
Hauptwerk wiederentdeckt. Ganz vergessen war Oppermann allerdings in der
Stadt Nienburg/Weser nicht, wo er knapp 20 Jahre lang als
niedergelassener Rechtsanwalt seinem Brotberuf nachging. Dem früheren
Stadtdirektor Heinz Intemann ist es zu verdanken, dass eine Straße in
der Weserstadt Oppermanns Namen trägt und am 125. Todestag diesem
"Manne zum Gedenken" in Nienburg eine literarische und
wissenschaftliche Gesellschaft gegründet wurde.
PR für die Göttinger Sieben
Wer war dieser Schriftsteller, Jurist und Politiker Heinrich Albert
Oppermann, dessen Romanwerke bis heute nicht zum schulischen Lesekanon
gehören, dessen publizistische Leistungen als politischer Analyst und
treffsicherer Rezensent (bisher) noch keine Aufnahme in den Pantheon der
„großen deutschen Verrisse“ (Hans Mayer) gefunden haben und dessen
politische Arbeit als Jurist und Abgeordneter für die Liberalen
allenfalls einigen (Rechts-) Historikern bekannt sein dürfte ?
Geboren 1812 in Göttingen als Sohn eines im Universitätsviertel
lebenden Buchbindermeisters, studierte Oppermann von 1831 bis 1838
Philosophie und Rechtswissenschaften an der damals Königlich-Grossbritannisch-Hannoverschen
Universität Göttingen. Zu seinen Lehrern zählte der Historiker und
Staatsrechtler Friedrich Christoph Dahlmann. Letzterer gehörte mit den
Brüdern Grimm und vier weiteren Göttinger Professoren zu jenen sieben
Hochschullehrern, die 1837 gegen die einseitige Aufhebung der leidlich
liberalen Verfassung durch den neuen hannoverschen König Ernst August
protestierten. Vermutlich wäre dieser auf dem Dienstweg eingereichte
Protest gegen eine als Rechtsbruch des Königs interpretierbare Tat in
den Akten irgendeiner Staatskanzlei ungelesen verstaubt, hätte nicht
Oppermann, ausgehend von dem Manuskript der Protestation, das ihm
vermutlich sein Lehrer Dahlmann gab, in allerkürzester Zeit für eine
Kopier- und Distributionsaktion der Protestation an mehrere in- und ausländischen
Zeitungen gesorgt, die diesen Text dann auch publizierten. Eine
Entlassung der Sieben und ein fünfjähriges Berufsverbot für Oppermann
mit seiner anschließenden „Verbannung“ in die nordwestdeutsche
Provinz, nach Hoya und Nienburg, war die zeitnahe Folge dieser
Protestation. Heute ehrt ein Denkmal vor dem Niedersächsischen Landtag
die Sieben mit ihrem „Pressesprecher“.
Mit dem Schaffen von Öffentlichkeit war es Oppermann gelungen, dass ein
eminent wichtiger politischer Vorgang – und damit etwas, was alle Bürger
anging, eben eine Verfassungsaufhebung – zu einer öffentlichen
Angelegenheit wurde. Das Prinzip, politische Vorgänge transparent und
öffentlich zu machen, staatlicher Macht eine publizistische Gegenmacht
entgegenzustellen, zog sich denn auch wie ein roter Faden durch das
publizistische, politische und literarische Werk Oppermanns. Bis zu
seinem Tode 1870 veröffentlichte er 23 Bücher zumeist zu historischen,
aktuellen politischen und verfassungsrechtlichen Fragen. Er war als
Korrespondent, Essayist und Rezensent für etwa ein Dutzend
Zeitschriften und Zeitungen tätig, darunter so bedeutende Blätter wie
die Augsburger Allgemeinen Zeitung, die Rheinische Zeitung
oder die in New York erscheinende Deutschen Schnellpost. (Es gab
damals zahlreiche von deutschen politischen Emigranten edierte
Publikationsorgane in den USA, und Oppermann schrieb für mehrere von
ihnen.)
Ein forscher Jungdeutscher
Oppermanns literarisches Schaffen begann während der Göttinger
Studienzeit. Sein Erstlingsroman, die unter dem bezeichnenden Pseudonym
Hermann Forsch edierten Studentenbilder, ist
literaturhistorisch in der informellen Gruppe des Jungen Deutschland
zu verorten, zu der Autoren wie Heinrich Heine, Karl Gutzkow oder
Theodor Mundt gehörten, die jenseits des festgefügten kanonisierten
Programms eine Literatur einforderten, die „im Strom des Lebens“
(Karl Gutzkow) stand, also die rasch wechselnden sozioökonomischen Zustände
als Vorlage zu literarischen Stoffen nahm.
So ist denn auch Oppermanns Erstlingswerk ein Roman, der mit engagierten
politischen Implikationen und Evokationen ausgestattet ist. Hauptthema
des Romans ist das Sequel der Pariser Julirevolution von 1830, die Göttinger
Revolution vom Januar 1831. Mit Witz und Charme decouvrierte Oppermann
„die unsterblichen 168 Stunden der Göttinger Revolution“ (Studentenbilder)
als eine von deutschen Philistern und Freizeitinsurgenten veranstaltete
„Revolution“, wobei Oppermann die revolutionäre Entschlossenheit
und Ernsthaftigkeit einer Gruppe von Anhängern des Philosophen Karl
Christian Friedrich Krause aufmerksam registrierte. Die literarische
Verarbeitung erschien ihm dabei als ein geeignetes Sujet, seinen Lesern
das selbstinszenierte Heldentum, die Kommunikationsatmosphäre zwischen
Studenten, Dozenten, Bürgern und Obrigkeit nebst dem tragikomisch
anmutenden Ende dieses Aufstandes zu vermitteln:
„Man schlug vor, Osterode zu befreien, Andere wollten auf geradem
Wege nach Hannover ziehen und unterwegs Alles revolutioniren; wieder
Andere wollten zuerst nach Hildesheim. Nirgends Einheit und
Uebereinstimmung, nirgends Unterredung und Gehorsam, und so blieb es
beim Zank[...].So ernst Viele auch die Sache betrachteten, so hielt sie
doch die Mehrzahl nur für einen Carnevalsspaß.
Man exercirte und patrouillirte, machte Paradezüge durch die Stadt, und
leerte die Rauchkammern der Philister von überflüssigen Würsten, Alles
zu ihrer Befreiung. Schon klagten aber die Frauen über
Versäumniß der Männer, der Gesellen und Lehrburschen, über das
Verschwinden des schönen Vorraths von Wurst und Schinken; schon war für
die Philister selbst der Wachedienst ermüdend und beschwerlich[...]
Ich besuchte am Abend mehrere Wirthshäuser, wo Bürger versammelt
waren, um ihren Geist kennen zu lernen, und , wo es Noth thäte, Muth
einzusprechen, ich fand aber lauter Helden, freilich beim Branntewein;
besonders viele enthusiasmirte Gäste fand ich in der „goldnen
Kugel“; hier war ein Friseur der Wortführende[...] „Glaubt mir“,
sagte dieser und schlug auf den Tisch, daß mehrere Gläser herabfielen,
„glaubt mir, auf den ersten Angriff, den man auf unsere Stadt wagt,
werden von Dorf zu Dorf die Sturmglocken angezogen werden,[...]. zur
Befreiung Göttingens herbeizueilen. Bis sie kommen wollen wir uns als
Helden bewähren. Denkt an Paris, denkt an Brüssel, theure Mitbürger“
[...]
Der kleine Hüboller stand auf einem Tisch und gesticulirte heftig:
„keine Irrung von der Sache der Bürger und der Sache der Freiheit!“
schrie er [...] Rauschenplat, der eignen Interesses halber die Sache zum
Aeußersten zu treiben suchte, haranguirte uns in einer donnernden Rede.
Wer Tod schmählicher Uebergabe [der
Stadt an die hannoverschen Truppen]
vorziehe, solle zu ihm treten; nur Wenige thaten es, und so lösten
sich denn auch die übrigen Verbindungen auf.“
Der Rezensent Karl Gutzkow lobte an Oppermanns Roman: Die „Göttinger
Unruhen, die Frankfurter Attentate [gemeint ist der Frankfurter Wachensturm vom April 1833, ein misslungener Versuch,
mit einem Fanal eine Revolution auszulösen und an dem auch Rauschenplat
beteiligt war], alles tritt vor die Augen des Lesers und ergötzt
ihn durch eine frische, lebhafte Auffassung“. Nur eines mißfiel
Gutzkow: Oppermanns zusätzlicher und verunglückter Versuch, auch noch
"Liebesidyllen" mit hinein zu bringen: „Sollen denn jene
Weibsbilder, die sich den Männern selbst an den Hals werfen, niemals
aus unseren Romanen verbannt werden“, fragte er süffisant.
Im Laufe seines späteren schriftstellerischen Wirkens schätzte
Oppermann seine Fähigkeiten richtiger ein. So bemerkte er im Vorwort
seines opus magnum, dem Roman Hundert Jahre: „Ich traute mir
nicht die Kraft zu, blos seelische Zustände zum Gegenstand der Dichtung
zu machen. Wohl aber glaubte ich, in der Geschichte der Familien, die
ich zwei oder drei Generationen hindurch schildern wollte, den Charakter
des Zeitalters im allgemeinen zeichnen zu können“. Denn, so sein
Credo im gleichen Vorwort: „Wozu ein Mensch Neigung hat, dazu hat er
auch Fähigkeit und Verstand“.
Roman des Nebeneinander
Getreu diesem Motto wandte sich Heinrich Albert Oppermann einem
literarischen Programm zu, das in die Romanhandlung nicht nur politische
und soziale Implikationen netzartig einwob, mithin dem Roman eine
gesellschaftspolitische Botschaft zusprach. Oppermann entlieh zudem den
von Karl Gutzkow in seinem Roman Die Ritter vom Geiste
entwickelte Form eines „Romans des Nebeneinander“. Für sein Großprojekt,
die Hundert Jahre, sammelte er mehrere Jahre lang Quellen und
Materialien, interpretierte sie aus einem aufklärerischen Ansatz heraus
und ordnete sie zu zeittypischen Genrebildern, die in parallelen Plots
das Leben von drei Generationen im Zeitraum 1770 – 1870
nachzeichneten. Diese bewegte Zeitspanne, die durch politische,
technischen und soziale Revolutionen und Zäsuren gekennzeichnet war,
bot – um es mit einer Lieblingsmetapher Victor Hugos zu sagen –
einen „Ozean an Quellen“. Sie war bestens geeignet, die Abhängigkeiten
der Lebensentwürfe und Biographien von Oppermanns Romanprotagonisten
vor den Zeitläuften herauszuarbeiten aber auch um aufzuzeigen, dass
eigene aktive politische Handlungen gewünschte Veränderungen bewirken
können.
Oppermanns Absicht war es u.a., mit dieser Romantechnik ein Ideen-Gewebe
der europäischen Spätaufklärung im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts zu geben. Hierzu schickte er seine Romanfiguren von der
nordwestdeutschen Provinz, von Hoya/Weser, in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
Sie nahmen an maßgeblichen Positionen in der Französischen Revolution
teil, erlebten die Napoleonische Ära, genossen die Attitudes of Lady
Hamilton und verhandelten auf dem Wiener Kongreß, erfuhren die
französische Julirevolution von 1830 und waren aktiv 1837 an der
Protestation der „Göttinger Sieben“ sowie an der 1848er Revolution
beteiligt – oft spielte Autobiographisches von Oppermann mit hinein,
so z.B. bei den zwei letztgenannten Ereignissen. Die Namen der im Roman
auftretenden und handelnden Personen lasen sich denn auch wie das
politische, philosophische, literarische und „Jet-Set“-Who is Who
der Jahre zwischen 1770 und 1870. Am Ende des Romans trafen sich die
Nachfahren der Hauptfiguren des Romans in Kalifornien, um dort eine
Musterkolonie zu gründen. Oppermann konstruierte hier eine Sozial- und
Staatsutopie, die auf Ideen des deutschen Philosophen Karl Christian
Friedrich Krause gründete.
Wer war Karl Christian Friedrich
Krause?
„Freunde in der Heimat ! Gesinnungsgenossen ! Kampfgenossen für die
Freiheit und Einheit Deutschlands!
Ein deutscher Landsmann bietet euch in einem fernen Erdtheile eine
Heimstätte, wie sie schöner gelegen [...] vielleicht auf dem ganzen
Erdboden nicht wieder gefunden wird.“
So beginnt am Ende von Heinrich Albert Oppermanns Roman Hundert Jahre
ein Aufruf, mit dem 1868 in liberalen Kreisen in Deutschland für die
Emigration in das „Paradies im Westen“ (Hundert Jahre)
geworben werden sollte. Und in dieser als Genossenschaft gegründeten
Heimstätte namens „Hellungen“, gelegen am kalifornischen Lake Clear,
sollte es dann folgerichtig „hell und klar, offen und durchsichtig
[...] nicht nur nach Zirkel und Winkelmaß, sondern auch nach Vernunft
und Recht“ zugehen. Oppermanns moralphilosophische Ideen, die sowohl
seinen Erstlingsroman, die Studentenbilder, als auch sein Spätwerk,
die Hundert Jahre, wie ein roter Faden durchziehen, werden am
Ende des letztgenannten Romans noch einmal in einem großen Finale
zusammengefaßt:
„Nach den Grundsätzen der neu reconstituirten Union:
Freier Boden, / Freie Arbeit, / Freie Rede, / Freie Menschen !
ist der Bau begründet und auf dieser Grundlage soll er fortgeführt
werden. Wer daran im rein menschlichen Geiste helfen will, wem jene
Worte aus der Seele gesprochen sind, der soll mir willkommen sein
[...].Wir wollen gemeinsam versuchen, wa s[...].bei völliger Freiheit
von jeder Bevormundung, die den Genossen gewährt wird, bei
gesellschaftlichen Einrichtungen, die nach strengem Rechte die Wohlfahrt
aller bezwecken, aus einer Gemeinde werden kann, die auf ihr Banner den
Wahlspruch <
Reine Humanität >
geschrieben hat.
Die Ortsgenossenschaft Hellungen wird auf dem allgemeinmenschlichen
Boden der Sittlichkeit errichtet; Sittlichkeit ist nicht ohne
Menschenliebe, Gerechtigkeit und Fleiß, auch soll sie, so Gott will,
nicht ohne Religion sein. Allein die Religion ist als solche nicht die
Sache der Gemeindeverwaltung, wie sie in Amerika nicht Sache des Staates
ist. Sie bleibt eine freie Angelegenheit des Einzelnen[...]In Hellungen
werden keine priesterlichen Sklavenzüchter des Geistes
geduldet[...]jedermann soll dort in der That nach seiner Facon selig
werden können, oder, was besser ist, er soll schon hier im
Himmel zu leben das Seine thun können[...]Wir kennen keinen
Standesunterschied, keine durch Geburt oder Laune des Glücks bedingte
Bevorzugung, keine gesellschaftliche Stellung, die auf Raub und
Knechtung beruht, keine Ausnahmen von Gesetz und Recht, keine
privilegirten Herren und Müßiggänger[...]Wir füttern keine Mumien,
weder dynastische noch klerikale. Altersschwache, Kranke, Gebrechliche,
Witwen und Waisen fallen der Pflege der Ortsgenossenschaft zu. Das
Gemeinwesen übt im weitesten Maße die wirksamste Solidarität
aus[...]Die Erziehung ist die heiligste Angelegenheit; wir gewähren die
Mittel der Gründung von Erziehungs- und Lehranstalten für alle
Altersstufen nach den Grundsätzen von Krause und F. Fröbel [...].
Möge Deutschland, das an Kräften jeder Art so überreich ist, uns eine
tüchtige Zahl wackerer Männer und Frauen senden; wir werden sie als
Glieder der großen Familie der Menschheit willkommen heißen“.
Strukturiert und organisiert werden sollte diese in einem
literarischen Simulator vorgestellte Sozial- und Staatsutopie vor allem
nach den Grundsätzen Krauses "wie
sie in dessen „Urbilde der Menschheit“ dargelegt sind“ (Hundert
Jahre). Der Einfluß dieses Denkers auf Oppermann ging auf dessen Göttinger
Studienzeit zurück. Der in Deutschland kaum rezipierte Philosoph Karl
Christian Friedrich Krause (1781-1832) habilitierte sich nach dem
Studium der Mathematik, Philosophie und Theologie insgesamt dreimal:
1802 in Jena, 1814 in Berlin und 1823 in Göttingen – jeweils ohne
eine Professor zu erlangen. Gründe, die Krauses berufliches Fortkommen
und die Rezeption seiner Werke behinderten, waren neben seinem
eigenwilligen, z.B. alle Fremdwörter vermeidenden „Reindeutsch“
seine politischen Ideale, die vorsahen, mittels der freimaurerischen
Bewegung und ihrer Ideen einen universalen Menschheitsbund zu
realisieren. In Göttingen bildete Krause als Privatdozent einen Schülerkreis
u.a. um die Philosophen Heinrich Ahrens (1808-1874) und Karl Hermann
Freiherr von Leonhardi (1809-1875) . In diesem Kreis lernte Oppermann
wahrscheinlich schon als Primaner, spätestens aber ab 1829 Krauses
Philosophie und wohl auch den Philosophen selbst kennen. Krause verließ
– unter anderen mit seinen Schülern Ahrens und Leonhardi, die sich
beide aktiv an den Göttinger Unruhen beteiligt hatten – 1831 die
Stadt und starb ein Jahr später in München.
Sein philosophisches System, das einen Schlüssel zum Verständnis von
Heinrich Albert Oppermanns Gesamtwerk gibt, bot eine Lösung für ein
prinzipielles Grundanliegen und Ziel aller Philosophie an, das da
lautet: wie lassen sich ungeachtet der Pluralität von Prinzipien,
Substanzen oder Stoffen, die die Welt generieren und unterhalten, letzte
Wahrheiten und Begründungsnormen finden? Krause bediente sich hierzu
der altbekannten philosophischen Ansätze des Pantheismus, den er zu
einem Panentheismus modifizierte, einer All-in-Gott-Lehre, in der jetzt
ein persönlicher Gott in allen Dingen der Welt existent sein sollte.
Dieser sollte aber als Vernunftwesen nicht an allen Dingen dieser Welt
partizipieren. Die Pointe des Krauseschen Panentheismussystems besteht
nun darin, dass das nur partielle Aufgehen Gottes in den Dingen der Welt
einen Freiraum zulässt, der z.B. die Unvollkommenheit menschlichen
Handelns erklärt. Dort aber, wo Gott mit der Welt gänzlich identisch
ist, soll es prinzipiell auch möglich sein, dass der Mensch an der göttlichen
Vernunft teilhat.
Prominentester Vertreter des Panentheismussystems, der ein
Freiheitsprinzip aus der Natur ableitete und dieses auf die Wissenschaft
und Politik übertrug, war der in Jena lehrende politische
Naturphilosoph Lorenz Oken (1779-1851). Während dieser aber übergreifende
wissenschaftliche Organe und Strukturen als Träger der aus dem
Panentheismus abgeleiteten politischen Verflechtungen vorsah, wies
Oppermann in seinen Studentenbildern die gleiche Funktion dem
Individuum zu:
“Der Kampf, den Liberalismus und Servilismus mit einander kämpfen,
ist nicht ein bloßer Kampf um politische Freiheiten, nein, die höchsten
religiösen Ideen sind darin verwickelt. Der ausgebildete Liberalismus
unserer Tage erfaßt die völlige Selbstständigkeit und Freiheit des
Menschen – das Individuum fühlt sich ganz unabhängig von Gott, sein
Gott ist die Menschheit oder die Welt, seine Unsterblichkeit das Bleiben
des Guten in der Menschheit. Der Republicanismus – Cosmopolitismus –
Pantheismus sind das Charakteristische der Partei, der Du ganz und gar
angehörst. Das Prinzip der anderen Partei ist das Gefühl unserer gänzlichen
Abhängigkeit von Gott. Der Mysticismus fühlt sich im schwelgenden
Gottesgefühl befriedigt [...] Das Königthum von Gottes=Gnaden – die
Legitimität, die heilige Allianz sind auf diesem Hauptprinzipe des
Mysticismus gestützt [...] Der Liberalismus wird nicht eher siegen,
sein Sieg wenigstens kein heilbringender sein, bis er sich von seinen
Einseitigkeiten befreit; Du wirst Dich nicht eher glücklich und
befriedigt fühlen, bis Du Dich auf einem höheren Standpunkt erhoben
hast“. „Und welcher wäre dies“? fragte Ruppert. „Du mußt vor
Allem Gott rein und ganz erkennen, dann wirst Du Pantheist sein, aber
Gott auch als Grund der Welt und über ihr wissen, dann wirst Du Dir
Deiner Selbstständigkeit und Freiheit, aber auch Deiner Abhängigkeit
von Gott inne sein. Dann kannst Du Republikaner sein[...]“
Krauses Panentheismussystem lieferte für Heinrich Albert Oppermann
das ideengeschichtliche Rüstzeug. Zusammengefasst lautet es: Wer
unterschiedliche Religionsauffassungen als Manifestation eines singulären
göttlichen Prinzips ansieht, muß religiöse Toleranz üben. Wer dem
Menschen eine Teilhabe an der göttlichen Vernunft zugesteht, wird
daraus einen Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus, einen Glauben an
die Verbesserung des Individuums und der Menschheit u.a. durch Erziehung
und Bildung und die Forderung nach politischen Freiheiten folgern müssen.
Das Unmögliche denken, damit das
Mögliche erreicht wird
„Schade eigentlich. - : Nach
3000 Seiten scharfgesehener Realität; nach Erneuerung von Eintausend
halbvergessenen guten Namen; nach all dem Aufwand an Wirklichkeitssinn
also – mündet schließlich die Fabel von allen Enden her in ein –
entschuldigen Sie den Ausdruck, aber es ist ja nicht anders – in ein
Traumreich ?!“
Man wird Arno Schmidts provokanter Kritik am Ausgang von Oppermanns Jahr-Hundert-Roman
zustimmen müssen, mutet doch heutigen Lesern Oppermanns
weltanschaulicher Ansatz des Panentheismus und des damit verbundenen
Systemdenkens widersprüchlich und überholt an. (Die Tendenz Krauses,
gelingendes Leben überwiegend auf ethische Handlungsanweisungen zu
reduzieren und ökonomisch Fragen ganz auszublenden, sei hier nur als
Beispiel genannt.)
Trotz aller Kritik bleibt aber festzuhalten, dass der praktische und
ethische Nutzen von (religiöser) Toleranz, von politischer Freiheit,
von Gewährung gleicher Bildungschancen oder einer institutionell
gesicherten Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesen außer Frage steht.
Bei weiterer Sichtung von Oppermanns Gesamtwerk wird deutlich, dass
gerade die Hundert Jahre für ihren Autoren ein hochpolitischer
Entwurf für eine Vision von (und in) einer „Neuen Welt“ waren.
Utopien waren für ihn keine Heilslehren, sondern wohl durchdachte
Konzepte mit liberaler, rechtsstaatlicher und moralphilosophischer Prägung,
die – mit Max Weber – ihre Kraft aus dem Gedanken gewinnen, dass,
wer nicht zum Unmöglichen greift, auch das Mögliche verfehlt. Sozial-
und staatsutopische Entwürfe aber, durchgespielt in einem literarischen
Simulator, können beim Leser Phantasie und Kreativität erzeugen und fördern
– um das Unmögliche zu denken, damit das Mögliche erreicht werde.
Dieser Ansatz macht Heinrich Albert Oppermanns literarisches und
publizistisches Gesamtwerk bis heute lesenswert.
1852 wurde er Obergerichtsanwalt und Vizepräsident der Anwaltskammer in
Nienburg. Ein Jahr später fand er Aufnahme in der dortigen
Freimaurerloge "Georg zum Silbernen Einhorn", gründete 1859
die Nienburger Schillerstiftung und begann 1863 mit der Herausgabe des
"Nienburger Wochenblattes". In den Jahren von 1867 bis 1870
war er Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Am 16. Februar 1870
starb er in Nienburg. Im selben Jahr erschien sein großer Roman
"Hundert Jahre".

Werke:
Heinrich Albert Oppermann: Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit- und
Lebensbilder aus drei Generationen. Leipzig: Brockhaus 1870.
Seitenidentischer, verkleinerter Nachdruck: Frankfurt/Main:
Zweitausendeins 1982ff.
Heinrich Albert Oppermann Lesebuch. Hannover: Postskriptum 1996
Über Heinrich Albert Oppermann:
Arno Schmidt: Hundert Jahre (Einem Manne zum Gedenken). In:
Bargfelder Ausgabe II/2. Zürich: Haffmans 1990, S. 142-193.
Gerhard Friesen: Heinrich Albert Oppermann. In: The German Panoramic Novel of the 19 th Century. Bern,
Frankfurt/Main: Lang. 1972, S. 163 – 200.
Heiko Postma: Heinrich Albert Oppermann. Portrait eines Niedersachsen.
In: Heinrich Albert Oppermann. Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit und
Lebensbilder aus drei Generationen.
Leipzig: Brockhaus 1870. Nachdruck: Frankfurt/Main: Zweitausendeins
1982ff, Band 9, Nachwort S. 1-116.
Christoph Suin de Boutemard: „Über die [Göttinger]
Bibliothek brauchen wir nichts hinzuzufügen; ihre Vortrefflichkeit ist
allgemein anerkannt“. mb. Mitteilungsblatt der Bibliotheken in
Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Hannover: CPS. Heft 123/124, Juni 2002, S. 60-75.
Kontakt zur
Heinrich-Albert-Oppermann-Gesellschaft:
Christoph Suin de Boutemard
Neue Straße 6
D-31582 Nienburg/Weser
Email: suindeboutemard@gmx.de
Homepage: http://www.oppermann-gesellschaft.de
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