Klaus Seehafer

 "Mit der Schwermuth Energie"

Samuel Christian Pape

Geboren am 22. November 1774 in Lesum, 
gestorben am 4. April 1817 in Nordleda

Wenn man jung ist und literaturbesessen, gerät man früher oder später in den Bannkreis eines bedeutenden Schriftstellers, deren mancher etwas so Bezwingendes ausstrahlt, dass er ausgesprochen jüngerbildend wirkt. Stefan George und Karl Kraus waren es zu ihrer Zeit, Arno Schmidt in der seinen. Ihm war ich verfallen. Jahrelang. Und sann darauf, wie ich nach meinen Kräften für jene Dichter werben konnte, die er wiederentdeckt hatte, wie auch ich mich beteiligen konnte am "verschränkten Ahnen=, & Enkel=Dienst", den der Meister begonnen hatte. An die mächtigen Erscheinungen mit Werkausgaben, die viele tausend Seiten umfaßten, wagte ich mich nicht heran. Aber es gab einen, der nicht nur an meine Seele gerührt hatte, sondern dessen Werk gerade mal rund 150 Seiten umfaßte, dazu noch fünf Seiten Nachlassgedichte und eine versifizierte Übertragung des Buches Hiob, die mich besonders faszinierte. Wer war dieser Mann, der geschrieben hatte:

Ich sah im stillen Traumgesicht
Ein Herz von blankem Stahl,
Das schien so rein, wie Mondenlicht,
So hell, wie Sonnenstrahl.
Ein Herzchen von Magnet erkannt'
Ich bey ihm wunderbar,
Das war durch Zauber hingebannt,
Wich von ihm nimmerdar.
[…]

Und: war das große Dichtung? Auch nach dreißig Jahren vermag ich diese und andere Arbeiten des Dichters nicht ohne Rührung zu lesen, wenngleich ich heute erkenne, dass er auch in seiner Zeit schon zu den Minderdichtern gehört haben muß. Indessen war er einer, der sich als äußerst empfänglich für literarische Zeitströmungen erwies und außerdem bis heute einen wunderbaren Einstieg in die von Arno Schmidt immer wieder "fackelbeleuchtete" Welt des 18. und 19. Jahrhunderts bietet. Wer also, frage ich nochmals, war dieser Samuel Christian Pape, der am 22. November 1774 als zweites Kind des Wulsbütteler Pfarrers Henrich Pape und seiner Frau Luise in Lesum zur Welt kommt? Der sich eng an den zwei Jahre älteren Bruder Johann anschließt und zusammen mit ihm vom Vater den ersten Unterricht erhält?
Henrich Pape war in Theologenkreisen ein bekannter Mann, gelehrt und schreibfleißig. Seine Bibliothek umfaßte an die 3.500 Bände. Das Schreiben muß wohl in der Familie gelegen haben: Matthias, der jüngste Sohn, veröffentlichte fünf Bände mit Liedern, Elegien und Epigrammen; von Johann gibt es Gelegenheitslyrik; und Samuels jüngste Tochter ist unter dem Namen "Maria von Hadeln" mit ihren Gedichten zeitweilig recht bekannt gewesen.
Samuel wächst in der damals üblichen Großfamilie heran. 1783 wird der Vater nach Visselhövede im Bistum Verden versetzt. Eine Zählung drei Jahre zuvor weist den Ort am Westrand der Lüneburger Heide mit rund 60 Feuerstellen nach. Doch wird gerade diese scheinbar so öde Gegend dem Jungen zur prägenden Landschaft und eigentlichen Heimat, nach der er sich später immer zurücksehnen wird. Man schildert ihn als nach innen gekehrt, mit einem auffallenden Hang zum Alleinsein. Fouqué, sein erster Biograph, überliefert, dass einer seiner Lieblingsspielplätze während der Kindheit der Friedhof gewesen ist.
1785 – Samuel ist 11, Johann 13 Jahre alt, werden die beiden auf die Bremer Domschule geschickt. Johann beginnt danach in Jena ein Jura-Studium, Samuel wird zunächst vom Vater weiter ausgebildet. 1794 ist der große, viel entscheidende Einschnitt in seinem Leben. Der Zwanzigjährige kommt auf die Göttinger Universität, die berühmte Georgia. Kurz danach stirbt seine erste große Liebe. In vielen Gedichten beschäftigt sich Pape, bei wechselndem Rollenspiel und vor mancher Kulisse, mit dem schmerzvollen Verlust.


[…]
Und es erschien ein schwarzer Mann,
Dem ward ich bitter gram,
Als er so grausam trat heran,
Das treue Herzchen nahm,
Als er es riß mit starker Hand
Hinweg von seinem Ort,
An's goldne Herz das Herzchen band,
Und zog es mit ihm fort.


Jetzt wird auch jener Wesenszug an ihm noch stärker in Erscheinung getreten sein, der Freunde und Verwandte oft befremdet, ja geärgert hat: seine Melancholie, bei welcher anfänglich auch für die ihm Nächsten schwer zu unterscheiden gewesen sein mochte, wann sie echt, wann lustvolle Steigerung war. In Gesellschaft wird er – man schildert ihn als gut aussehend, breitschultrig, braungelockt – immer schnell heiter und aufgedreht, was für viele Melancholiker eigentümlich ist. Bei den Gesprächen steht er gewiß nicht stumm daneben, denn bei der späteren Konsistorialprüfung wird sein großes Deklamationstalent ausgesprochen gerühmt.
In Göttingen beginnen die wenigen Jahre seines Lebens, die reich an äußerlichen Ereignissen sind. Hier trifft er mit Literaten zusammen und beginnt selber zu veröffentlichen. Die meisten der erhalten gebliebenen Arbeiten entstanden in dieser Zeit. Hölty's Werke – es ist nicht zu übersehen – muß er damals sehr geliebt haben, und den verehrten Gottfried August Bürger hat er noch wenige Tage vor dessen Tod persönlich kennengelernt. Prägend werden ihm auch die berühmten Göttinger Professoren: der bucklige Lichtenberg zum Beispiel, der ein genialer Professor für Experimentalphysik ist, Friedrich Blumenbach, Vater der modernen Naturforschung und -geschichte, nicht zu vergessen Christian Gottlob Heyne, der als erster eine wissenschaftliche Behandlung der griechischen Mythen anstrebt.
Pape lernt den neuen Herausgeber des "Göttinger Musenalmanachs", Karl Reinhard, kennen, der gerade Bürgers geringen Nachlaß für den neuen Jahrgang publikationsfertig zu vermehren bemüht ist. Über die erste Begegnung mit dem jungen Studenten schreibt er später: "Nicht lange nach seiner Ankunft schrieb er an mich, und theilte mir mehrere Gedichte mit, über welche er mein Urtheil verlangte […] er gab sie für die Arbeit eines seiner Bekannten aus […] Meine Antwort führte ihn zu mir und er entdeckte sich als Verfasser der Gedichte."
Von Anfang an schlägt Pape in seinen Gedichten einen Grundton an, der sich durch alle geübte Vielfalt der Töne, Anklänge und Versformen zieht, Shakespeare's "sad companion, dull-ey'd melancholy", die Wehmut. Man rechnet diese Gemütslage nicht eben zu den befreienden, und doch erwachsen gerade aus ihr starke Kräfte, hilft sie "mit der Schwermuth Energie", wie es in dem Gedicht "Warnung" heißt, über Schicksalsschläge eher hinweg, als dass sie diese vertieft.
1795 steuert Pape sechs Gedichte bei, im Jahr darauf folgt der schöpferische Ausbruch: 23 Arbeiten verzeichnet das Werkregister; dazu beginnt er mit seiner Prüfungsarbeit, der Übersetzung des Buches Hiob, die 1797 beendet ist.



Wohlan, belehrt mich doch! Ich will ja schweigen.
Hab' ich gefehlt, so bitt' ich, sagt mirs an!
Ich sagte wahr; wo könnt ihr Irrthum zeigen?
Was ists, worin mich einer tadeln kann?
Ihr wähnt mit Wörterschwall mich widerlegt zu haben?
Ihr achtet für ein Nichts des Dulders Klagen?
Ich weiß es wohl, ihr wollt ihn niederschlagen,
den Waisen, Gruben wollt ihr euerm Freunde graben!
So hört mich ruhig an, wenns euch gefällt!
Fürwahr! Ihr sollt mich nicht der schlechten Sache zeihn.
Antwortet nur! Ich weiß, das Recht bleibt dennoch mein,
daß meine Antwort doch den Sieg behält.

Was ich behaupten will, das sollte unrecht sein?

 


Sein Professor, der Orientalist Johann Gottfried Eichhorn bescheinigt Pape im Vorwort der Buchausgabe "schätzbare Einsichten in die beyden Sprachen, die er mit einander umzutauschen hatte". Seine Übertragung war poetisch hinreißend und zugleich theologisch genau. Noch 1815 rühmt sie ein Breslauer Professor in seiner Vorlesung und bedauert, dass man so gar nicht erfahren könne, wo dieses große Genie geblieben sei.
Es war in die Anonymität des Landpfarrstandes untergetaucht.
In der vielgeltenden "Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" hatte August Wilhelm Schlegel am 12. Januar 1797 die ersten Versuche Papes vernichtend besprochen, ihnen "neumodigste Empfindeley" vorgeworfen und "Nachäfferey des altenglischen Balladentons, reichlich mit Reminiscenzen aus Bürger untermischt". Die Kritik verunsicherte den jungen Mann derart, dass er immer weniger veröffentlichte, endlich nur noch für den Schreibtisch produzierte und zum Schluß alles verbrannte. Die Besprechung Ludwig Tiecks, worin auf die "außerordentlich schönen poetischen Züge" seiner Dichtung hingewiesen wird, hat er leider nicht zu lesen bekommen; und sein größer Bewunderer – Fouqué – wird erst nach Papes Tod Gelegenheit finden, sich öffentlich zu jenem Manne zu bekennen, "dessen Liederklänge mich bereits als Knaben mächtig erregten, so wenig des Wiederhalles auch meine Freude und Bewunderung fand!"
Was der 23jährige noch an Reinhard schickt, drückt Mutlosigkeit, Krankheit und Todessehnsucht aus. 1798 erscheinen noch acht Dichtungen, das Jahr darauf fünf, dann drei; elf Jahre später ein letztes Gedicht, das ihm nur regionales Spießbürgergezänk einträgt. Papes poetisches Zwischenspiel ist beendet.
Der dritte, der längste und schwerste Lebensabschnitt beginnt jetzt. Bis eine Planstelle für ihn frei ist, wird er Hauslehrer, zunächst bei Satorius in Grasberg. Darüber schreibt er Reinhard am 15. Dezember 1797: "Seit vier Wochen ungefähr bin ich hier bei'm hiesigen Prediger. Wir halten zusammen ein Institut für junge Bremer. Auch hier ist dies die erste Stunde (nach Mitternacht), da ich Ihnen schreiben kann. Häusliche Umstände zwingen mich, so lange ich hier gewesen bin, bis jetzt, Kirche und Schule allein zu versehen […] Mein hiesiger Aufenthalt ist sehr einsam. Ich wohne vier Stunden von Bremen, im sogenannten Teufelsmoor. Kirche, Pfarr- und Küsterhaus stehen ganz isoliert da. Die ganze Gemeinde ist erst seit 15 Jahren ungefähr von dem berühmten Finndorf angelegt; die Verschiedenheit der Colonisten hat in ihr einen artigen Weltbürger-Geist hervor gebracht."
Zwei Jahre später besteht er, nach absolviertem Praktikum, das Predigerexamen vor dem Konsistorium in Stade. Ehrenvoll wird er in die 2. Klasse der Amtsanwärter eingestuft. Am 12. April erhält er die 2. Predigerstelle in Nordleda, das übrigens zum Amt Otterndorf gehört, wo Johann Heinrich Voß von 1778 bis 1782 als Lehrer mit seiner Familie gewohnt und die "Odyssee" zu Ende übersetzt hat. Er ist aber gern wieder fortgezogen, weil alle ständig Sumpffieber bekamen!
Zwei Monate nach der Ankunft heiratet Pape. Seine Frau wird Johanna Lerche, die Tochter des dortigen ersten Pfarrers. Damit scheinen freundlichere Tage für ihn zu kommen. Doch lassen sie den Unstern schon bald erkennen: Sein erstes Kind stirbt 1804 mit einem Jahr an den Blattern; 1805 stirbt Papes Vater, 1807 ein zweites Kind und 1808 die 25jährige Frau an der Schwindsucht. Mit zwei kleinen Kindern bleibt Pape zurück.
Wie schon nach der heftigen Schlegel-Kritik reagiert er mit Apathie auf den Schmerz: "Ich bin jetzt, seitdem ich Witwer bin, so äußerst hypochondrisch, und dabei so träge und faul, als ich nie gewesen bin; sodass ich mich kaum überwinden kann, die allernötigsten Geschäfte abzutun", schreibt er an die Stiefmutter.
Gleich nach dem Trauerjahr verheiratet er sich erneut, wieder ist es die Tochter eines Amtskollegen, die 22jährige Johanna Maria Elisabeth Schneider. "Ich habe sie noch im ersten Jahre [der Amtsverwaltung] confirmiert, und nachher [acht] Jahre lang fast einen täglichen Umgang in ihrem Hause gehabt, und kenne sie also genau."
Je älter er wird, desto stärker muß er seinen privaten Gemütslasten mit immer privateren Dichtungen begegnen. Die eine, spät veröffentlichte – mit ihrer vom Dorfklatsch alsbald incriminierten Stelle "Schwer und kalt sind hier die Herzen – zeigt, wieviel unchiffrierter er jetzt Biographisches durchblicken läßt als früher, wo er sein Erleben hinter einer kunstvollen Topostechnik versteckte. Immer persönlicher wird der Charakter seiner Arbeiten; so konnte er endlich auch auf die höchstgeachtete, die versgebundene Form verzichten, wie das einzige Prosastück zeigt, das wir von ihm haben: "Vaterschmerz". Er schrieb ja doch nicht mehr für die Öffentlichkeit. Es sind uns aus dieser Zeit neben etlichen schlechten und einigen bloß liebenswerten nur noch wenige große, gelungene Stücke überliefert. Doch aus diesen spricht noch immer alle Kraft der zeitlos unzeitgemäßen Melancholie.
Papes Gesundheit beginnt nachzulassen. Herzasthma macht ihm das Predigen immer schwerer. Er wird finster und niedergeschlagen. Trinken befreit wenigstens zeitweilig von den schlimmsten schwarzen Gedanken und dem beängstigenden Druck auf der Brust. Die "Biographischen Nachrichten von den Predigern […] in Nordleda" vermerken dazu freilich: "Er wollte seinen Mißmuth bei der Bouteille verscheuchen, gebrauchte aber diese Kur zuletzt in einem solchen Unbemaße, dass er sein Leben dadurch verkürzte." So geschrieben vom Küster und Organisten Heinrich Beckmann, der nach Papes Tod dessen Frau heiraten sollte, wodurch manche Anmerkung in der ungewöhnlich eingehenden Lebensbeschreibung noch befremdlicher wirkt.
Pape wird bettlägerig. Am 4. April 1817, Johanna ist nach Otterndorf gegangen, zieht er sich abends aus dem Bett vor den Kamin und verbrennt Heft um Heft seine Manuskripte. Früh um ½ 6 Uhr stirbt er am Schlagfluß.
 Erst im November des folgenden Jahres erscheint, in der "Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung", ein verspäteter Nachruf. Man hofft auf die baldige Neuherausgabe seiner Gedichte. Papes jüngster Halbbruder, Ludwig Matthias Henrich, wird 1821 – gleichzeitig mit Wilhelm Hauff – in Tübingen immatrikuliert. Neben eigenen lyrischen Arbeiten in dieser Zeit sammelt er zunächst einmal alles, was sich von den Dichtungen seines Bruders finden läßt und schickt das Manuskript, mit Anmerkungen versehen, an den berühmten Baron de la Motte Fouqué. Dieser gibt es, mit einer liebevoll sorgfältigen biographischen Einführung, noch im gleichen Jahr zum Osiander-Verlag nach Tübingen.
Papes Werk erreicht trotz seines Fürsprechers keine weitere Auflage mehr. 1823 erscheinen noch 12 frühere Arbeiten, deren Manuskripte Reinhard besaß. "Man muß es dem Hrn. von Fouqué in Berlin endlich Dank wißen, "heißt es in einer Kritik, "dass er die wenigen, in den Musenalmanachen hie und da zerstreuten Gedichte (es sind darum kaum100) […] gesammelt und in einem Bändchen herausgegeben hat. Die meisten dieser Gedichte zeichnen sich aus durch Gefühl, Andacht, natürl. Hingebung und vor allem durch ungezwungenen claßischen Ausdruck. Hr. Karl von Reinhard, auch zu Berlin, hat im Gesellschafter noch einen Nachtrag ungedruckter Pape'scher Gedichte geliefert, wovon jedoch manches weniger gelungen ist, das einzige aber, überschrieben 'Die Kleine', eine Ballade vom Jahr 1797, gewiß 2/3 der ganzen diesjährigen Almanachspoesie aufwiegt."
Sie sei – da seit ihrem ersten Erscheinen erst einmal nachgedruckt und formal durch die Eigenheit originell, dass der Kehrreim die Strophe umschließt und sich je nach ihrem Inhalt ganz unterschiedlich liest – in ganzer Länge wiedergegeben:

Die Kleine

Sie weinte bitterlich,
Die liebe, gute Kleine:
"Da geh' ich hier und weine,
Und denke nur den ganzen Tag,
Wann doch mein Wilhelm kommen mag?
Ach, käme nur ein Wandersmann,
Und sagte mir was Gutes an
Von meines Trauten Leben,
Ich wollt ihm Alles geben,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich,
und blickt' in's Feld hinüber.
Und, sieh! Da ritt vorüber
Ein Mann mit einem langen Bart,
Dass auch dem Mädlein bange ward,
Ein Jäger, blank von Haupt zu Fuß;
Der bot ihr einen schönen Gruß
So wohlgemuth und munter
Von seinem Roß herunter,
Und einen Kuß dazu.

Sie weinte bitterlich
Vor lauter Herzenssehnen;
Sie trocknete die Thränen
Mit ihrem schönen seid'nen Tuch,
Dass ihr das Herz im Busen schlug.
Da nahte sich der blanke Mann.
"Du liebe Kleine!" hub er an,
"Das Tuch kannst du mir schenken
Zum süßen Angedenken,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ey sieh! was mich doch wundert!
Warum nicht lieber hundert?
Ein fremder Mann, ich weiß nicht, wer?
Ja, käme so mein Wilhelm her,
Und fodert's er, ich weiß nicht, was?
Und sagte mir nur Dies und Das:
Wenn er nicht haben sollte,
Was er nur haben wollte,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da hub er an: "O, weine
Nicht so, du liebe Kleine!
Sieh her! An dieser rechten Hand,
Siehst du das Ringlein mit Demant?
Das war an seinem Hochzeitstag,
Da schenkt' er mir den Ring und sprach:
Den gab mir einst im Städtchen
Ein kleines eitles Mädchen,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich:
Ey sieh! was ich wohl dächte!
Du bist mir auch der Rechte.
Ja, ja! Als er zu Felde ging,
Da gab ich ihm den schönen Ring.
Allein das Andre ist nicht wahr,
Das lügst du, Jäger, offenbar.
Du willst mich nur betrügen,
Mein schönes Tuch zu kriegen,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
"O doch, du liebe Kleine!
Du weißt wohl, was ich meine.
Es sind der schönen Mädchen mehr,
Die locken hin, die locken her.
Dein Trauter ist ein wack'res Blut;
Der ist den schönen Mädchen gut.
Da ließ er sich nun fangen
Durch rosenrothe Wangen,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Das hätt' er lassen müssen!
Er konnte mich ja küssen!
Nicht wahr? So hatt' er mich nur lieb,
So lang' er immer bei mir blieb!
Gewiß! Das hat er schlecht gemacht;
Das hätt' ich nimmermehr gedacht!
Da läßt er sich nun fangen
Durch rosenrothe Wangen,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich;
Sie bat ihn auf und nieder:
"Gieb mir das ringlein wieder!
Ich bitte dich, so viel ich kann,
Du lieber, lieber, schöner Mann!" –
"Nein, Mädlein, nein! Ich bin kein Thor.
Willst du, so mußt du mir zuvor
Zum süßen Angedenken
Das Tuch von Seide schenken,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ach, hier ist was zu küssen!
Soll ich mit Thränengüssen
Dich harten Mann noch länger flehn?
So magst du meinetwegen gehen!
Ich kaufe nicht um solchen Preis:
Allein ich weiß wohl, was ich weiß:
Den Ring hast du gestohlen;
Nun willst du dies noch holen,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da bog er sich hinüber;
Die Augen gingen über,
Dass er in Thränen sich ergoß.
Er sprang herab von seinem Roß.
Herab die Maske vom Gesicht:
"Und kennst du deinen Wilhelm nicht? –
Da hast du meine Treue
Und meine Hand auf's Neue,
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Sie schrie vor lauter Wonne;
Die gold'ne Abendsonne
Umglänzte sie mit Himmelslicht,
Wie eines Engels Angesicht. –
Er stand nach einem halben Jahr
Mit seiner Kleinen am Altar.
Sie gab ihm, was er wollte,
Und was er haben sollte,
Und einen Kuß dazu! –




Werke:
Hiob übersetzt. Ein Versuch von Samuel Christian Pape. Begleitet mit einer Vorrede vom Herrn Hofrath Eichhorn. Göttingen: Rosenbusch 1797.
Gedichte. Begleitet mit einem biographischen Vorworte von Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Tübingen: C. F. Osiander 1821.
Werke. Hrsg. von Klaus Seehafer. München: edition text + kritik 1975.

Über Samuel Christian Pape:
Arno Schmidt: Samuel Christian Pape. Vergessene Dichtung aus Moor und Heide. (In: Die Ritter vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Karlsruhe: Stahlberg 1965.)


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