Sylvia Geist

 "Auf dem Esel Zeit"

Ein Ausflug zu Wilhelm Raabe

Geboren am 8. September 1831 in Eschershausen, 
gestorben am 15. November 1910 in Braunschweig

Als zu Wilhelm Raabes 70. Geburtstag eine Glückwunschkarte mit der Anschrift „Eschershausen“ im Geburtsort des Jubilars eintraf, retournierte sie der zuständige Postbote mit der Formel „Adressat unbekannt“. Etwas besser war dagegen ein Berliner Briefträger orientiert, der bei gleicher Gelegenheit die falsche Adresse „Herrn Wilh. Raabe / Schriftsteller / Berlin“ nicht nur mit dem Aufkleber „in Berlin nicht zu ermitteln“, sondern außerdem durch

eine handschriftliche Anmerkung ergänzte: „wahrscheinlich Braunschweig“. Dass der Postbote in Berlin spontan mehr mit dem Namen Wilhelm Raabe verband als sein niedersächsischer Kollege, mag weniger etwas mit jener vielzitierten Bibelweisheit zu tun haben, nach welcher der Prophet im eigenen Lande nichts gelte, sondern vielmehr Aufschluss über die Lesegewohnheiten des Eschershausener Beamten geben. Denn der, übrigens anonyme, Absender jenes nach Berlin abgeschickten Irrläufers hätte die großräumig vage Anschrift „Berlin“ vermutlich um die Angabe einer Straße oder, genauer gesagt, einer Gasse erweitern können. Um dem königlich-preußischen Postpersonal die Identifikation des Adressaten vorsorglich zu erleichtern, hätte er seinen Kartengruß an „Wilh. Raabe / Schriftsteller / Berlin, Sperlingsgasse“ senden und so die Erinnerung an das Erstlingswerk des längst zu Recht in Braunschweig vermuteten Autors wachrufen können: an Die Chronik der Sperlingsgasse, die Raabe während seines Studienaufenthaltes in Berlin 1854/55 verfasste, 1856 unter dem Pseudonym Jakob Corvinus veröffentlichte und die neben dem Roman Der Hungerpastor (1864) sein größter Publikumserfolg wurde.

Die Zustellung der Postkarte hätte das allerdings auch dann nicht unbedingt vereinfacht, wenn Raabe zu diesem Zeitpunkt noch in Berlin gewohnt hätte, denn wie der Name des Verfassers ist auch der des Schauplatzes der Chronik ein Pseudonym, und erst aus Anlass des 100. Geburtstages Raabes 1931 wurde die Spreegasse, die für den Roman den räumlichen Bezugsrahmen darstellt, in Sperlingsgasse umbenannt und eine Gastwirtschaft im Haus Nummer 10 zur „Raabe-Diele“.

Die alten, durch den 2. Weltkrieg stark beschädigten Fachwerkhäuser der im heutigen Berlin Mitte nahe der Jungfernbrücke gelegenen Sperlingsgasse wurden 1964 im Zuge einer einer Stadtteilsanierung abgerissen, die „Raabe-Diele“ fand als Bierkeller im Ermelerhaus am Märkischen Ufer eine neue, das heißt: eine museale Heimstatt.

Wer heute in Berlin nach der Sperlingsgasse fragt, wird wohl eher auf eine Kneipenstraße dieses Namens im Ku´damm-Karree im Bezirk Charlottenburg hingewiesen werden als auf die fünfundneunzig Meter kurze Straße in Berlin Mitte, die ihr historisches Gesicht unwiderruflich verloren hat. Besonders in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erfreute sich besagtes Kneipenkonglomerat großer Beliebtheit, vor allem bei Touristen. Die kleinen Pinten, die man unter dem gemeinsamen Dach der „Sperlingsgasse“ - und so garantiert trockenen Fußes über Altberliner Straßen nachempfundenes Kopfsteinpflaster stolpernd – ansteuern kann, sind auf jene stark verstaubte Gemütlichkeit getrimmt, die mancher der dort einkehrenden Trinkfreudigen mit „Zille sein Milljö“ assoziieren mag.

Es gibt in dieser „Sperlingsgasse“ – von so unvermeidlichen Zeugnissen der Gegenwart wie zum Beispiel den Zigarettenautomaten oder den so genannten sanitären Einrichtungen abgesehen – kaum etwas, das nicht auf das Berlin des 19. Jahrhunderts verweisen soll, und zugleich gibt es nichts unter all dem womöglich liebevoll angehäuften Kitsch, das echt wäre: echt nicht im antiquarischen, sondern im Sinne kundiger Bezugnahme auf eine vergangene Realität. Es ist eine Pseudowelt, die ihre Vorbilder in einer Pseudohistorie sucht, ein Ausflugsziel, das eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Voraussetzung eines solchen erfüllt, nämlich die Erzeugung einer idyllischen Illusion.

Für den kaum dreiundzwanzigjährigen Wilhelm Raabe, der, nach wenig glanzvoller Schullaufbahn in Holzminden, Stadtoldendorf und Wolfenbüttel ohne Gymnasialabschluss, als gescheiterter Buchhändlerlehrling, aber hoffnungsvoller Jungautor nach Berlin kam, um als Gasthörer an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität seine angelesene Bildung zu ordnen - und sicher auch in der Hoffnung, Kenntnisse zu erwerben, die ihm für seine schriftstellerische Tätigkeit von Nutzen sein konnten - stellte sich die expandierende Großstadt in einem weniger idyllischen Licht dar. Zwar meinte er sich später an die „alte Harmlosigkeit“ des „dörflichen Berlin“ dieser Zeit zu erinnern, doch völlig vergessen hatte er die Schattenseiten der Stadt wohl doch nicht: „[...] wenn Dir einmal der Berliner Wind ein wenig scharf um die Nase fährt, so dencke: Na es ist ein Übergang“, schrieb er am 13. Oktober 1886 seiner zum Studium dorthin gereisten Tochter Margarethe. Darüber, wieviel von Sittenverfall und Lasterhaftigkeit (schon 1846 von Friedrich Saß in dessen Untersuchung Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung warnend hervorgehoben) der junge Raabe in der sprunghaft expandierenden Großstadt unmittelbar verspürt hat, kann angesichts seiner spärlichen autobiographischen Aussagen nur spekuliert werden, fest steht nur, dass die Spreegasse, in deren Nummer 11 der Student Raabe Quartier bezog, nach ihrer Vergangenheit als „galantes Gässchen“ im 18. Jahrhundert und als Barrikadenkampfplatz der Märzrevolution von 1848 auch um 1854 alles andere als eine gutbürgerliche Adresse war.

Spuren der Alltagswirklichkeit in der Spree- alias Sperlingsgasse finden sich in der Chronik reichlich. Da ist die Geschichte der Tänzerin Rosalie, die im Stockwerk über dem Chronisten Johannes Wacholder wohnt, und deren Not aus der sozialen in eine existentielle Perspektive gerückt wird, als sie ihr sterbendes Kind in fremder Obhut zurücklassen muss, um in einer Opernaufführung zu Ehren eines königlichen Geburtstags zu tanzen; da ist der Blick in die dunkle Kellerwohnung des Schuhmachers Burger, der, einige ärmliche Habseligkeiten im Gepäck, mit seiner Familie nach Amerika auswandert, weil die Heimat ihm weder wirtschaftliche Lebensgrundlage, noch Perspektive mehr bietet; da ist auch die Episode um den Redakteur Doktor Wimmer, der wegen eines missliebigen Zeitungsartikels aus Berlin ausgewiesen wird und – Raabe wendet dies, dem optimistischen Charakter Wimmer entsprechend, ins Positive – nach München zieht, wo er seine Jugendliebe, die Base Nannerl Pümpel, heiratet.

„Die Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, der die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, welcher in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhaus enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluss, alle Antinomien des Daseins sich widerspiegeln“, lässt Raabe seinen greisen Erzähler Wachholder notieren und formuliert damit die Exposition seines künftigen Schaffens ebenso wie die strukturellen Kategorien seines Erstlings. Eingeschlossen in die mehrfach verschränkte Rahmenhandlung sind kleine Erzählungen, in denen die Geschichte der Gasse als Spiegelung eines übergeordneten Sinnzusammenhangs aufgefasst wird: „Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte – Gottes! Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um und steigen wir die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk.“

Das Verweisen auf einen transzendenten, sinnstiftenden Kontext, das Bewusstsein historischer Bedingtheit und die Erdung des Großen im Kleinen, indem der Leser nach einem kurzen Blick auf die Komplexität der Welt schnell wieder „die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk“ und auf scheinbar vertrautes Terrain geführt wird, das sind die programmatischen Parameter im Werk Raabes. Ihre Entsprechung finden sie in der originären Form der Chronik, die nicht der historischen Abfolge der Ereignisse folgt, sondern durch eine innere Chronologie bestimmt wird. Innerhalb der 128 Tage umfassenden Erzählzeit erinnert sich der Chronist in 21 Abschnitten an die Familiengeschichte seines Jugendfreundes Franz Ralff, die ihrerseits mit einer tragischen Verführungsgeschichte verknüpft ist und ihre Auflösung im freundlichen Schicksal der Pflegetochter des Chronisten, der früh verwaisten Elise Ralff, findet. Bedeutsamer als dieser schon von Teilen der zeitgenössischen Kritik trivial gescholtene Handlungsstrang ist jedoch die Raffinesse, mit der Raabe die Mechanismen des Erinnerns selbst thematisiert. Ein alter Nähkorb, ein vergilbter Brief, der Ausblick aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Wohnung, in der Johannes Wachholder in früheren Jahren lebte: immer wieder heftet sich die Erinnerung an Anlässe, Eindrücke und Gegenstände, die in ihrer von der Zeit veränderten Gestalt noch die Geschichte des Erinnerten in sich bergen und weitertragen. Welche Bedeutung der Erinnerung zukommt, bringt der Erzähler in der Quintessenz eines Märchens zur Anschauung: „Es gibt ein Märchen – ich weiß nicht, wer es erzählt hat – von einem, der nach großem Unglück sich wünschte, die Erinnerung zu verlieren, und dem in einer dunklen Nacht sein Wunsch gewährt ward. Er empfand von da an keinen Schmerz, keine Freude mehr; er verlernte zu weinen und zu lachen; es ward ihm einerlei, ob er Blumenknospen oder Menschenherzen zertrat: alles das hübsche Spielzeug, welches das Leben seinen Kindern mitgibt auf ihrem Wege von der Wiege bis zum Grabe, zerbrach ihm in den Händen mit der Erinnerung.“

Dass Raabe seinen Johannes Wachholder die Erzählung „The Haunted Man“ von Charles Dickens ausdrücklich als Märchen bezeichnen lässt, ist kein Zufall, denn Wachholder nennt seine Chronik ein Märchenbuch, manchmal auch ein Traum- und Bilderbuch. Der konstruierende Charakter von Erinnerungen ist im konstituierenden des Gedenkens, das subjektive Gedächtnis des Einzelnen im objektivierten der Geschichte aufgehoben wie der Kern in einer Frucht. Erst in der Kenntnis der Vergangenheit wird die Gegenwart verständlich, erhält Deutung und Perspektive.

So ist in die Schilderung eines Feierabends beim Tischlermeister Werner ein Gespräch mit dessen Schwiegermutter eingebettet, die sich an die antinapoleonischen Kriege erinnert. Der darin enthaltene Hinweis auf die einigende Kraft des Freiheitsgedankens deutet zugleich auf die desillusionierende politische Situation der Jahre nach 1848 hin, die in Raabe als einem Verfechter der deutschen Einheitsidee und der so genannten kleindeutschen Lösung unter der Führung Preußens Enttäuschung hervorgerufen hatten. Als wachen Kritiker der gesellschaftspolitischen Verhältnisse weisen ihn gleich mehrere Passagen der Chronik aus, besonders eindeutig die oben schon einmal erwähnte Episode um den Redakteur Doktor Wimmer, dem Raabe ironisch die Formulierung von der „oktroyierten Verfassung“ in den Mund legt, die nach 1848 eben nicht durch die Volksvertreter beschlossen, sondern diesen durch die Regierung aufgenötigt wurde.

An die vielschichtige Erzählweise der Chronik suchte Raabe lange Anschluss. Das in Wolfenbüttel entstandene, als Briefroman konzipierte Werk Nach dem großen Kriege (1861) zeugt von dem Bemühen, die künstlerische Form des Erstlings weiterzuentwickeln, aber auch von Raabes Interesse an historischen Stoffen. So ist auch die herausragende, wenngleich formal konventionelle Arbeit der Wolfenbütteler Jahre, Unseres Herrgotts Canzlei (1862), ein historischer Roman vor dem Hintergrund des Krieges, den 1550/51 die Stadt Magdeburg um ihre Glaubensfreiheit gegen Kaiser, Reich und Fürsten führte. Die ebenfalls in Wolfenbüttel vollendeten Gegenwartsromane Ein Frühling (1857) oder Die Kinder von Finkenrode (1859) dagegen wurden später vom Dichter selbst als „Gequadder“ abgetan.

Auch in dem 1864 erschienenen, bereits in Stuttgart entstandenen und kommerziell sehr erfolgreichen Roman Der Hungerpastor bleibt Raabe der linearen Struktur der damals vorherrschenden Romanform verhaftet, die auktoriale Erzählhaltung weist, anders als die der Chronik, nicht über die Formensprache seiner Zeit hinaus. Ein erneuter Vorstoß in die später für ihn typische komplex subjektivierte Erzählweise gelingt ihm bemerkenswerterweise mit einer weiteren historischen Novelle, Else von der Tanne (1864). Die Ereignisse, angesiedelt zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, werden in mehrfacher Brechung aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Die eigentliche Handlung umfasst nur den Abend des 24. Dezember 1648, an dem Else, ein aus dem zerstörten Magdeburg in ein kleines Harz-Dorf gerettetes Mädchen, von der Gemeinde verleumdet, verfolgt und schließlich als Hexe verbrannt wird. In diesen wenigen Stunden aber wird gleichsam eine Anamnese des Geschehens seit 1610 geliefert. Gegenüber früheren historischen Novellen hat die perspektivische Brechung nun einen neuen Sinn: der geschichtliche Hintergrund ist nicht mehr bloß Kulisse für eine erfundene spannende Handlung, vielmehr kommt es vor dieser Folie zu einer Aussage über das menschliche Sein, die über den geschilderten Vorgang hinaus Gültigkeit beansprucht und die im Verzicht auf eine objektive Erzählerinstanz nur pessimistisch ausfallen kann: „[...] es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt“.

Das macht den historischen Hintergrund nicht obsolet. Es ist vielmehr zu fragen, ob nicht gerade die Nachprüfbarkeit historischer Fakten, das Vorhandensein einer von persönlichem Erleben und Beobachten unabhängigen Geschichte für Raabe ein unverzichtbarer Ausgangspunkt war, sich mit Fragen von allgemeiner und zeitloser Relevanz dichterisch auseinanderzusetzen. An seinen Freund Glaser schrieb Raabe: „So putze ich denn meine epische Rüstung und gedenke als deutscher Sitten-Schilderer noch einen guten Kampf zu kämpfen. Es ist viel Lüge in unserer Literatur, und ich werde auch für mein armes Teil nach Kräften das meinige dazu tun, sie heraus zu bringen; obgleich ich recht gut weiß, dass meine Lebensbehaglichkeit dabei nicht gewinnen wird.“

Der Begriff der Behaglichkeit ist bei Raabe ein ambivalenter. Die Konsequenz, mit der er sein wirtschaftliches Fortkommen und die Sorge für seine Familie – er hatte 1862 geheiratet, die älteste seiner vier Töchter, Margarethe, kam ein Jahr später zur Welt – ausschließlich auf seine literarische Existenz gründete, spricht für eine ehrgeizige Risikobereitschaft, die der vergleichsweise behaglichen Sicherheit, welche ein Lebensgang nach bürgerlichem Muster hätte erwarten lassen, wenigstens zeitweilig abträglich gewesen sein muss. Dennoch muten einige Aspekte seines äußeren Lebens durchaus bürgerlich, sogar „philiströs“ an. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang seine Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinigungen.

Selbst wenn man die Rolle im Blick behält, welche den Klubs, Salons und Vereinen als Katalysator gesellschaftlicher Kräfte im 19. Jahrhundert zukam, war Raabes Verhältnis zu ihnen doch zwiespältig. So war das Stuttgarter „Bergwerk“ zwar ein Künstlerverein, aber das starre Zeremoniell des Klubs ermüdete den Dichter und bewog ihn nach zwei Jahren zum Austritt. Welchen ideellen Gewinn ihm die „Schichten“ 

genannten Zusammenkünfte auch immer gebracht haben mögen, Gelegenheiten zum Austausch über die ihn bewegenden literarischen Fragen boten sie ihm nicht, ebenso wenig wie die Treffen der Braunschweiger „Kleiderseller“, eines Klubs, dessen Angehörige sich 1861 ursprünglich zur Gründung

eines Museums zusammengefunden hatten. Als Raabe Anfang der 70er Jahre zu den „Kleidersellern“ stieß, handelte es sich dabei längst weniger um einen historisch interessierten Salon, als um einen Stammtisch, und auch die Sitzungen des „Klubs der Buern im Kreienfelde“, dem Raabe übrigens als „Sperlingsbuer“, angehörte, waren von eher derbem Humor geprägt. In seiner Erzählung Horacker (1867), einer formal souverän gestalteten, zwischen Ironie und Parodie oszillierenden, tragikomischen Anti-Idylle um einen jugendlichen Außenseiter, hat Raabe diesen trinkfrohen Zusammenkünften ein Denkmal gesetzt. In Anspielung auf die „individualistisch durchgebildeten kakophonischen Kunststücke“, die ein Komiker am Hoftheater, Oskar Fischer, zum besten zu geben pflegte, heißt es da: „Als Hund und Katze im Kampfe werden Sie immer mustergültig bleiben. Ihre Leistungen als auf den Schwanz getretener Kater sind geradezu erschütternd... Na, nächstens sollen Sie uns mal Ihre Bauerfrau, die ein Ferkel in den Sack zwängt, vorführen... haben Sie schon meinen asthmatischen Mops, der auf Fräuleins Sofa tat, was nicht hübsch von ihm war, vernommen?“

Gleichwohl fühlte man sich im Widerspruch zum Spießertum und zur überkommenen Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn sich am Donnerstagabend die „Kleiderseller“ im „Grünen Jäger“, einer Gastwirtschaft östlich von Braunschweig trafen, pflegte man eine durchaus unkonventionelle Gemeinschaft: „So wollen wir bleiben, wie wir sein müssen: bescheiden und frech, still und großschnauzig, kurz so bunt wie möglich. Unter uns hat keiner vor dem andern etwas voraus. Was gelten uns Jahre? Kennen wir nicht! Wir sind alle eines Alters! – Schöne, höfliche, löbliche Eigenschaften? Wir wissen alle, wo uns der alte Adam zu enge ist und stellenweise aus den Nähten geht! – Was gehen uns Amt und Würden an? – Wir sind alle des nämlichen Ranges und wissen uns allesamt mit demselben buntscheckigen Fell überzogen! – Geld tut es garnicht unter uns! – Wir sind Leute, die frei durchgehen durch die Philisterwelt [...]“, so Raabe in einer Rede anlässlich seines 50. Geburtstages.

Die Betonung des neuhumanistischen Ideals von der Gleichheit freier Individuen, von denen „jeder das Ganze darstellt und die Gesamtheit den einzelnen“, ist ebenso von Bedeutung wie das vom Festredner herausgestellte Verhältnis zwischen Philistertum und einer aufs Äußere beschränkten und von ebensolchen Kategorien fremdbestimmten Lebens- und Weltsicht. Das „Geld tut es garnicht unter uns!“, ruft er den Freunden zu und anerkennt so im selben Atemzug den Stellenwert, den Besitz und gesellschaftlicher Rang in der Welt außerhalb der Enklave Gleichgesinnter haben. Das Ausleben ideeller Wünsche bleibt auf den Feierabend beschränkt und die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit davon unberührt, ja, sie wird sogar bestätigt durch die Trennung von Sonntag und Alltag. Die Freiheit in der Freizeit jedoch bedeutet nicht mehr als eine Idylle - wenn nicht eine Ausflucht, so doch einen Ausflug in ein privates Heiligtum, in dem die Ordnung der Welt temporär in den Hintergrund verdrängt wird, ohne in sie einzugreifen.

Genau an dieser Stelle aber entfernt sich Raabe im Laufe der Braunschweiger Jahre vom Poetischen Realismus vieler seiner Zeitgenossen. Hatte Karl Gutzkow bei Erscheinen von Gustav Freytags Soll und Haben (1855) den Dichter noch auf den „Sonntag des Lebens“ verpflichten wollen, auf des Menschen „Lieben, sein Gefühl für Freundschaft, seine Religion, sein Geschick“, verabschiedete sich Raabe in seinem Spätwerk endgültig von der Vorstellung, die Disparatheit der heraufdämmernden Industriegesellschaft in der Literatur versöhnen zu können. Im Beharren auf eine poetische Vermittlung zwischen individuellem Glücksanspruch und prosaischer Wirklichkeit berief sich Gutzkow auf Hegels Definition des modernen Romans, dem die Aufgabe zufalle, die auseinanderklaffenden Bereiche des Idealen und des Realen in einer Sphäre persönlichen Friedens - als deren Ort Hegel sich die Ehe dachte - in Einklang zu bringen. Doch unter dem Eindruck der industriellen Revolution weitet sich der individuelle Konflikt für Gutzkow zu einem grundsätzlichen Problem aus: „Markt und Wald“, konstatiert er, „sind zusammengerückt und bekämpfen sich“. Als Folge dieses Kampfes zerfällt nicht nur die konkrete Zeiteinheit der Woche, sondern die Gesamtheit des Lebens in Werk- und Sonntag: „[...] es ist gerade das Wesen des Romans, die Wochentagsexistenz des Menschen gleichsam beiseite liegen zu lassen und seinen Sonntag zu erörtern“. Demgegenüber bedeutete die Leugnung der Tatsache, dass das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eben nicht mehr als Einheit erfahren wird, und das mit dieser Leugnung einhergehende Bestreben, die Realität im Roman poetisch zu überhöhen, für Raabe jene „Lüge in unserer Literatur“, gegen die anzutreten er sich das Wort gegeben hatte.

Das entschlossenste, künstlerisch reifste Zeugnis dieses „guten Kampfes“ stellt sein Roman Die Akten des Vogelsangs (1896) dar. Wieder greift darin ein Chronist zur Feder, der Jurist Krumhardt, und wieder ist ein Ort und die Geschichte seiner Bewohner exemplarischer Ausgangspunkt, diesmal für eine „Personalakte“ besonderer Art über den Freund Velten Andres, dessen Tod den Erzähler zu seinen Aufzeichnungen veranlasst. Der Ort, an dem die Spurensuche einsetzt, ist der einer glücklichen gemeinsamen Kindheit, der Ortsteil Vogelsang am Osterberg, in dem bis hin zur Beschreibung der Sandsteinbrüche, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts dort zu sehen waren, der Hasenberg bei Stuttgart wiederzuerkennen ist.

Der Kontrast zwischen dem faszinierenden Leben des Gescheiterten Velten Andres und dem farblosen, aber verantwortungsbewussten Dasein Krumhardts legt die Interpretation nahe, Raabe wolle hier die Antinomie zweier Lebensentwürfe zeigen, doch diese Deutung läuft Gefahr, selbst dem Harmonieprogramm des Poetischen Realismus zu verfallen, das Raabe mit präzisen, stellenweise schrillen Tönen stört. Wie bewusst der Autor sich des Problems der Synthesis zwischen Wirklichkeit und Ideal war, zeigt der Handlungsstrang um die Geschichte der Familie Leon des Beaux, den Velten in seiner Berliner Studienzeit kennenlernt. Die des Beaux stammen von einem Hugenottengeschlecht ab und bewahren Erinnerungsstücke ihrer glorreichen Vergangenheit in einem privaten Familienmuseum auf. Die Gegenstände, darunter eine kostbare Albigenserlanze und ein Hugenottenschwert, verbinden sie mit jener Zeit, als die Familie kämpferisch für ihre Überzeugungen eintrat, an eine Epoche also, in der Tat und Reflexion noch eine sinnstiftende Einheit darstellten. Leons Schwester Leonie aber vergleicht das Museum mit einer „Ritterbuchbibliothek“ und interpretiert es so als romantischen, „quijotischen“ Rückzugsort , als eine Art phantastische Insel im Alltag, die mit der Anpassung der Geschwister an die Verhältnisse ihre Bedeutung verliert. Leon macht als Kaufmann Karriere und heiratet eine Deutsche, für die die Erinnerungsstücke nur noch antiquarisch-dekorativen Charakter haben; Leonie wird Diakonissin und kappt auf dem Weg der Entsagung ihre Wurzeln.

Auch Veltens Mutter hinterlässt ihm auf dem Boden ihres Hauses im Vogelsang Gegenstände aus einer besseren Vergangenheit: „Sie hatte [...] sich selber, sozusagen, ein Herzensmuseum draus gemacht“. Dieses „Herzensmuseum“ bildet gleichsam eine letzte Bastion gegen die Veränderungen der Welt außerhalb des Hauses: Spekulanten haben die Grundstücke im Vogelsang aufgekauft, die Einfamilienhäuser sind Mietskasernen gewichen, eine Tanzhalle hat in der Nähe eröffnet, und auf dem Gelände des Nachbars Hartleben ist eine Konservenfabrik errichtet worden. Die überschaubaren Zusammenhänge des kleinen Stadtteils und die menschliche Nähe zwischen den Nachbarn sind durch Symbole der Entfremdung und Vereinsamung ersetzt. Der Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung trägt Velten auf die einzige ihm mögliche Art Rechnung: nach dem Tod seiner Mutter verbrennt, zerstört oder verteilt er sämtliche Erinnerungsstücke und vernichtet damit das Herzensmuseum, sogar das Grundstück verschenkt er. Da ihm weder Anpassung an die herrschenden Umstände, noch Weltentsagung möglich ist, er sich also nicht mit der Gegenwart arrangieren kann, verliert die Vergangenheit als Code zum Verständnis dieser Gegenwart ihre Legitimation, mehr noch: Velten zerbricht nicht, weil es ihm an Verständnis dieser Entwicklung mangelt, sondern im Gegenteil, weil er verstanden hat. Die Spaltung zwischen Alltag und Sonntag des Lebens, zwischen Tat und Sinn, ist irreparabel, das Kindheitsparadies Vogelsang ein für allemal verloren, nicht einmal der Osterberg bleibt verschont – er wird zum Erholungsgebiet mit planierten Wegen und „Kurwanderzeichen“, und auf einem nahe gelegenen Waldgrundstück erbaut man ein „Asyl für Nervenkranke“, für diejenigen also, die sich mit den modernen Verhältnissen nicht abfinden können oder sich ihnen gar widersetzen. Dass auch Velten von den Bewohnern des Städtchens als „für das Landesirrenhaus reif“ angesehen wird, ist nur folgerichtig.

Im Horacker hatte Eckernbusch noch behauptet: „Grün bleibt doch Grün“ und in Alte Nester (1880) hatte sich Fritz Langreuter zumindest vorgenommen, dem „überhängenden Grün“ zu vertrauen, für Velten jedoch wird „aus Grün Grau“. Krumhardts Worte lassen sich im Rahmen einer Farbmetaphorik auch poetologisch lesen: „[...] das Stück grüne Hecke der Frau Doktor Andres, das war nunmehr ein Etwas, das seine Zeit ganz und gar überlebt hatte und durch sein Nochvorhandensein nur kümmerlich-lächerlich wirkte“.

Ob nun das brennende Herzensmuseum oder die zur Dekoration degradierten Erinnerungsstücke der des Beaux, ob die frühe Version des Trimm-Dich-Pfades am Osterberg oder der Park der Irrenanstalt, kein Reservat kann die Einheit des Lebens konservieren. Die Existenz solcher Reservate enthüllt nur eine Sehnsucht, ein diffuses Bedürfnis nach Ausgleich, Ablenkung, Erholung, kurz: nach Ausflügen. Die Exponate in den Museen erzählen im besten Fall von einer Gegenwelt, zu der dem Betrachter der Schlüssel fehlt, so wie die Accessoires in den Kneipen der „Sperlingsgasse“ lediglich Simulationen von Erinnerung sind, die, wahllos an neue Schauplätze transplantiert, ohne Bezug zur Geschichte und zu den Geschichten jener Straße bleiben. So gesehen sitzt man in den Nischen der Sperlingsgasse zwar „auf dem grauen Esel „Zeit““, genau genommen aber nicht „verkehrt“, nicht mit rückwärtiger Blickrichtung, wie der Chronist Johannes Wacholder den Erinnerungsprozess umschreibt.

Doch Raabe entlässt den Leser nicht einfach in eine Resignation, in der dieser es sich wiederum allzu gemütlich machen könnte. Denn indem er Dissoziation und Entfremdung als reale Aufbaukategorien begreift, zeigt er sie zugleich in ihrer Bedingtheit: die Verhältnisse einer Zeit werden von Menschen bestimmt und sind somit beeinflussbar.

In der Schlussszene des Romans führt uns Raabe noch einmal nach Berlin. Krumhardt geht Arm in Arm mit der Jugendfreundin Helene Trotzendorff, mit deren Brief Die Akten des Vogelsangs eröffnet wurden, durch die Straßen der Stadt, auf einen Besuch bei Leon aber verzichtet er: „Es war mir unmöglich, seinem Lebensbehagen jetzt die rechte Teilnahme entgegenzubringen, seine Wera singen, seine Viktoria Klavier spielen zu hören und mit ihm den Erben der Troubadourharfe, der Albigenserlanze und des Hugenottenschwerts der Ahnen, seinen braven Friedrich, vom Kadettenhause zu Lichterfelde durch alle möglichen neuen kriegerischen Ehren der Familie bis zu dem Prädikat Exzellenz zu begleiten.“

Krumhardt hat sich in der Auseinandersetzung mit seinen Erinnerungen seiner eigenen Biographie versichert, er hat den Code der Vergangenheit in seiner Bedeutung für sein gegenwärtiges Leben dechiffriert und von ihrer museal idyllisierenden Patina befreit. Den Ort der Kindheit kann er nun, da er ihn erinnernd aufgesucht und mit all seinen konfliktreichen Veränderungen darstellend bewahrt hat, verlassen, ohne Verklärung oder Verbitterung kann er sich „auf dem Esel Zeit“ umdrehen und den Blick auf das Hier und Heute richten:

„Es ist ein lichtgrüner, schöner Frühlingstag, an welchem ich dieses zu Papier bringe. Ich könnte auf dem Blatte den spätesten Nachkommen noch einmal mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenschein von heute auf dem Osterberge; aber ich schließe die Akten des Vogelsangs.“

Die Akten blieben Raabes letzter vollendeter Gegenwartsroman, mit seinem Hastenbeck (1899) wandte er sich ein letztes Mal einem historischen Sujet zu, der Roman Altershausen (postum 1911) blieb Fragment. Raabe betrachtet sich nun als „Schriftsteller a.D.“. Am 15. November 1910, auf den Tag genau 56 Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit an der Chronik der Sperlingsgasse, den er selbst als „Federansetzungstag“ bezeichnete und mit dem die Erzählzeit seines ersten Romans einsetzt, stirbt er in der Leonhardstraße 29a in Braunschweig.

In diesen 56 Jahren ist er stets beides gewesen, Bürger und Schriftsteller, Philister und Künstler. An gesellschaftlichen Umwälzungen hat er weder in der einen, noch in der anderen Eigenschaft teilgenommen, und bis zuletzt schloss der Blick für die Dynamik und Problematik seiner Zeit, sowie die sich daraus notwendig ergebenden Folgen das Bedauern über die verlorene Ganzheit der bürgerlichen Lebenswelt mit ein. Die Wirkung seines Werks erklärt sich nicht zuletzt aus Raabes Leistung, diesem Widerspruch inhaltlich und formal Gestalt gegeben zu haben, einem Widerspruch, der das Lebensgefühl nachfolgender Generationen noch um vieles stärker bestimmen sollte.

Am 25. Oktober 1909 erhielt Raabe Besuch von einem jungen Autor, der später mit einem Roman über eben diesen zur Zerrissenheit gesteigerten Widerspruch Furore machen würde: „Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unserer Zivilisation ersticken müsste. Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, dass ihr jede Selbstverständlichkeit [...] verloren geht“, heißt es in dem Roman Der Steppenwolf. Sein Urheber Hermann Hesse schrieb über die Begegnung mit Wilhelm Raabe: „[...] Er sprach leise, hieß mich willkommen, deutete an, dass er ungefähr wisse, wer ich sei, und lud mich zum Sitzen ein. Auch er setzte sich, stand aber bald wieder auf, ging hin und her, rückte an der Lampe, und so sieht ihn meine Erinnerung heute noch: in einer kleinen dämmerigen Stube, Bücher auf dem Tisch, Bücher an den Wänden, stehend, sehr groß und aufrecht [...] Ich hatte diesen alten Mann schon oft lieb gehabt und hätte ihm jetzt gerne sagen mögen, wie gut ich viele seiner Bücher kenne und wie sehr ich ihn verehre, aber man sagt das einem solch schlauen, alles schon wissenden, alten, ehrwürdigen Zauberer nicht so leicht [...] Als ich wieder ging und er oben an der Treppe stand, der ohnehin hochgewachsene und durch meine Verehrung noch vergrößerte Mann, sah ich im Niedersteigen noch mehrmals zu ihm empor [...], dessen schöne langgestreckte Hand die Akten des Vogelsangs geschrieben hatte“.

 

 

Werke:

Sämtliche Werke. Im Auftrage der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Karl Hoppe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1951 f.

Werke in vier Bänden. Kritisch durchgesehene Ausgabe mit Anmerkungen und biographischem Nachwort, hg. von Karl Hoppe. Verlagsanstalt Hermann Klemm, Freiburg im Breisgau, 1954

 

Über Wilhelm Raabe:

Hans Oppermann: Raabe. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 3. Auflage, Reinbek, 1980

Horst Denkler: Neues über Wilhelm Raabe. Max Niemeyer Verlag Tübingen, 1988

Leo A. Lensing u. Hans-Werner Peter (Hg.): Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und     Werk. pp-Verlag Braunschweig, 1981  

Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Eine Biographie. Hanser Verlag, München und Wien, 1993.

 

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