Klaus Thomas Schnittger

 Leben und Wein warten nicht

Erich Maria Remarque

Geboren am 22. Juni 1898 im Osnabrück, 
gestorben am 25. September 1970 in Locarno

Der Blick hinauf
Während eines Schiurlaubes 1975 in Mösern / Seefeld (Tirol) hatte ich zwei Bücher ins Reisegepäck gelegt, zufällig vor der Reise aus dem Regal gezogen.
„Die Nacht von Lissabon“ und „Zeit zu leben – Zeit zu sterben“. Beide verschlang ich geradezu und begriff gar nicht so recht, welcher Sog mich da ergriffen hatte.

Erich Maria Remarque. Wer war dieser Autor? Wo kam er her? Wie hat er gelebt und geliebt? Gleich nach meiner Rückkehr schnappte ich mir das nächst beste Lexikon und las: "Remarque (rö´mark), Erich Maria, eigentlich E.Paul Remark, Schriftsteller,* Osnabrück, 22.6.1898, gest., 25.9.1970 in Locarno, meldete sich 1916 als Kriegsfreiwilliger, mehrmals verwundet. Sein „Kriegsroman“ „Im Westen nichts Neues“ ( 1929 ) machte ihn über Nacht weltberühmt. Es ist das erfolgreichste deutschsprachige Buch unseres Jahrhunderts und wurde in 49 Sprachen übersetzt. Die Gesamtauflage aller verkauften Buchexemplare liegt zwischen 15 und 2o Millionen. Kein je in Deutschland veröffentlichter Roman mit einer desillusionierenden Darstellung des Krieges löste solches politisches Echo aus. Ab 1932 lebte Remarque in seiner Villa am Largo Maggiore, Schweiz. 1933 Verbot seiner Werke durch die Nationalsozialisten. Sie verbrannten seine Bücher öffentlich. 1939 Übersiedlung in die USA (seit 1947 amerikanischer Staatsbürger), 1948 Rückkehr in seine Villa nach Porto Ronco. Mehrere seiner Romane wurden, oft zuerst in englischer Sprache, verfilmt. (z.B. „Im Westen nichts Neues“, 1930; „Der Weg zurück“, 1937; „Drei Kameraden“, 1938; „The other Love“, 1947; nach der von Remarque in englischer Sprache geschriebenen Kurzgeschichte „Beyond“, 1948; „Arch of Triumph“ – mit Charles Boyer und Ingrid Bergmann in den Hauptrolle –, 1948; „Der letzte Akt“, 1955) Weitere wichtige Werke: „A Time To live And A Time To Die – Zeit zu leben, Zeit zu sterben“, 1954; „Der schwarze Obelisk“, 1956; „Die Nacht von Lissabon“, 1961/62; „Der Himmel kennt keine Günstlinge“ , 1961."

Damals, 1975, wusste ich noch nicht, dass ich vier Jahre später in seine Heimatstadt ziehen sollte. Je mehr ich von Remarque las, desto häufiger entdeckte ich Osnabrücker Schauplätze in seinen Romanen, desto vertrauter schienen mir diese Plätze, wuchsen in mir zu Heimat-Geschichten, regten mich an, ihm mit meinen eigenen Worten neu zu begegnen. Nun sitze ich hier im ehrwürdigen Hotel Wallhalla, wo unlängst wieder Staatsoberhäupter und Majestäten abgestiegen sind, vis à vis vom Rathaus, und schaue den flinken Kellnern zu, ganz genau so wie er damals. Ein Krug Pilsener, eine grasgrüne Kerze auf goldenem Rundblech, ein loderndes Flämmchen.
Es gibt immer noch Kesselgulasch im Wallhalla, Gulasch mit Kartoffeln, Gurken und Salat, kein fetter Riese weit und breit mit Bratenrock – kein Platz ist frei für die Herrschaften, sind alle erst bei der Suppe, wie damals. Woher kamen mir bloß diese Zeilen in den Sinn? Kamen sie aus Lissabon ? Nein, es muss wohl aus „Der schwarze Obelisk" gewesen sein. Erich würde sich jetzt erinnern, da oben, dort, wo es keine Schatten mehr gibt, im Paradies. Ihm ging es doch offensichtlich nicht schlecht, wenn ich so seine Tagebücher durchblättere, hier:
19. April 1941: Die Garbo kam. Tranken Kaffee. Sie hatte einen Haufen Vitamine bei sich. Lachte. Erklärte Ärzte für ein Racket. Küßten herum. – durch Gebüsch – blühendes Gesträuch, rührend, mit den weißen Rispen. Klarer Sonnenuntergang, ohne viel Faxen .. gefiel der Schwedin.


Der Blick herab

Vom Jenseits aus betrachtet, sieht alles etwas unspektakulärer aus, wirkt mein Leben undramatischer als es war. So unglücklich, wie ich es mir manchmal eingeredet habe, war ich gar nicht. Verletzbar, ja , leicht, eine schlechte Kritik bei hundert positiven warf mich um, ließ mich grübeln und den Weinkeller aufsuchen oder ins Freudenhaus ziehen. Aber jetzt. Jetzt sitze ich hier oben und lache über meine Eitelkeiten, über versäumtes Leben und verbummelte Chancen. Gut aufgehoben bin ich hier. So habe ich mir das Paradies vorgestellt. Es gibt keine Zeit, keinen Stress, keine verdammten Kritiker. Niemand spricht von Unglück. Keine Gräben, keine Schreie, kein Stacheldraht, keine Katastrophen. Keine lärmenden Schulklassen, keine Untergänge, alles lebt hier in Harmonie, kurz: kein Schatten im Paradies. Mich haben sie hier in die Abteilung "Denker, Edelsäufer, Kunstsammler und Lebenskünstler gesteckt". Mit meinem Jugendfreund Hans-Gerd Rabe, der aus der Abteilung "Wandervögel und Jagdflieger" öfter zu mir rüber kommt, habe ich schon so manch edle Flasche geköpft. Die Jahrgänge kann man sich hier aussuchen, anschreiben lassen kann man auch, aber abgerechnet wird nie und das Wichtigste: Hier ist es erlaubt, laut und herzlich über sich selbst zu lachen. Das bekommt mir gut. Und im „Garten des Wiedersehens“ trifft man alte Freunde und Liebschaften. Alle habe ich wiedergesehen, alle: Marlene Dietrich, mein geliebtes Puma, Jutta Zambona, Ruth Marton, Brigitte Neuner, Ruth Albu, Paulette Goddard, Lupe Velez, Dolores Del Rio, Natascha Paley, Friedrich Torberg, Hans Habe, Heinz Liepmann, Walter Feilchenfeld, meinen Kunsthändler, der mir all die Cezannes und Van Goghs besorgt hat, Fritz Hörstemeier, den allzu früh verstorbenen Freund aus Traumbudenzeiten, und, und, und.
Ich muß sagen, sie wirkten fast alle so lebendig wie in meiner Erinnerung. Nun ja, etwas entspannter vielleicht, denn ihr Erdenleben lag ja schon hinter ihnen.
Ich sitze hier gerade in einem Korbstuhl bei einem Glas Wormser Liebfrauen Stiftswein 1934, rauche eine gute Havanna, blättere in meinen Tagebüchern und Briefen. Die Kontaktengel haben mir die Kopien hier hoch ins Himmelsarchiv gebeamt. Originale sind ja hierzuhimmels verboten. Die Reliquien sollen auf Erden bleiben, wegen der Ehrfurcht. Was lese ich da? Eine Haßliebe soll ich zu Osnabrück gehabt haben ? Ach, die Osnabrücker! Die Stadtväter haben sich immer schwer getan, mich und meine Arbeit anzuerkennen. Aber nach der Aufarbeitung ihrer braunen Vergangenheit, etwa Mitte der sechziger Jahre, sind sie nach und nach aufgewacht. Sie haben dem von den Nazis ermordeten jüdischen Maler Felix Nussbaum ein eindruckvolles Museum bauen lassen und eine große Straße nach mir benannt. Ein luxuriöses Hotel, indem sie sogar meinen Lancia ausgestellt hatten, trägt meinen Namen. Dort kann man in einer exklusiven Weinhandlung Weine kaufen, die mir wohl auch gefallen würden. Und zu meinem hundertsten Geburtstag gab es sogar ein Festessen (ähnlich jenem, das ich der Osnabrücker Delegation 1964 aufgetischt habe, als sie mir in Porto Ronco die Möser-Medaille überreichten. Und es gab wieder Gänseleberpastete, Lachs und Champagner. Ich sehe sie noch vor mir stehen, die Ratsmitglieder in gestreiften Hosen mit Marengojackets, rührend und langweilig, dabei waren die Armen 15 Stunden durch dicken Nebel zu mir gereist, ohne was zu sehen. Ich soll also eine Haßliebe zu Osnabrück gehabt haben, schrieb mir Hans-Gerd Rabe in die EAST 57th nach New York. Ich soll Nachrichten aus Osnabrück unfreundlich gegenüber gestanden haben. Das ist natürlich Quatsch. Ich wollte immer mal wieder hinfahren in die Stadt meiner Jugend, aber immer kamen andere Reisen dazwischen, nach Paris, Mailand, Rom. Bei euch drüben galt ich immer als Weltkind, hier in New York nannten mich meine Freunde immer den „Osnabrücker". Alle meine Bücher haben ein Stück Osnabrücker Hintergrund. Denke ich nur an die Kindheitstage am Pappelgraben um die Jahrhundertwende zurück! Dort entdeckte ich als Knabe die Welt der Schmetterlinge, der Stichlinge und aufgeschreckten Vogelscharen. Paul Bäumer, der Ich-Erzähler meines Welterfolges „Im Westen nichts Neues“ wird sich ebenfalls voller Wehmut seiner Heimat erinnert haben:
Zwischen den Wiesen hinter unserer Stadt erhob sich an einem Bach eine Reihe von alten Pappeln. Sie waren weithin sichtbar, und obschon sie nur auf einer Seite standen, hießen sie Pappelallee. Schon als Kinder hatten wir eine Vorliebe für sie, unerklärlich zogen sie uns an, ganze Tage verbrachten wir bei ihnen und hörten ihrem leisen Rauschen zu. Wir saßen unter ihnen am Ufer des Baches und ließen die Füße in die hellen, eiligen Wellen hängen. Der reine Duft des Wassers und die Melodie des Windes in den Pappeln beherrschten unsere Phantasie. Ja, eine geborgene Kinderzeit war das, die Erich Paul Remark, der Sohn des Buchbinders Peter Franz Remark und seiner Ehefrau Anna Maria, geb. Stallknecht, erleben durfte. Ich rieche noch den herzhaften Duft frisch gebackener Honigkuchen und Lebkuchenherzen auf dem Jahrmarkt vorm Dom, sehe das Kettenkarussel kreisen mit flatternden Bändern und kreischenden Kindern und jolenden Gouvernanten.
Ja, all diese Heimatorte stecken voller Erinnerung, tauchen immer wieder auf. Zum Beispiel die Stelle aus dem Roman „Der Weg zurück", wo ich den blutigen Zusammenstoß des Militärs mit einem Zug demonstrierender Arbeiter in den Wirren nach Ende des Ersten Weltkriegs schildere: Wir kommen zum Marktplatz. Dort hat sich die Reichswehr am Rathaus festgesetzt. Fahl blinken die Stahlhelme. Vor der Freitreppe steht ein schußfertiges Maschinengewehr. Der Platz ist leer – nur in den Straßen, die darauf münden, stauen sich die Menschen. Es wäre Wahnsinn, weiter vorzugehen. Das M.-G. beherrscht den Platz. Aber einer geht vor, ganz allein. Hinter ihm kocht die Masse aus den Straßenschläuchen hervor, brodelt um die Häuser herum und schiebt sich schwarz zusammen. Der Mann aber ist weit voraus. In der Mitte des Platzes tritt er aus dem Schatten, den die Kirche wirft, in den Mondschein hinaus. Eine klare, scharfe Stimme ruft: „Zurück!“ Der Mann hebt die Hände. […] „Kameraden , legt die Waffen fort! Wollt ihr auf eure Brüder schießen ?“[…] Nie war der Mond so hell. Wie Kreide sind die Uniformen an der Rathaustreppe. Die Fenster schimmern. Die bestrahlte Hälfte des Kirchturms ist ein Spiegel aus grüner Seide.
Auf diesem Marktplatz haben sie dann 1933 auch meine Bücher verbrannt. Und hier im Rathaus lehnten später einige Ratsherren den Vorschlag ab, mich zum Ehrenbürger zu berufen. Noch später war man dann um Wiedergutmachung bemüht. 1963 beschlossen sie, mir die Möser-Medaille zu verleihen. 1970 setzte man, nicht ohne Widerstand, die Umbenennung des Karlsringes in Erich-Maria-Remarque-Ring durch. Seit 1991 gibt es den Erich-Maria-Remarque-Preis für Kulturschaffende, die sich in ihren Werken mit dem Thema „Innerer und äußerer Frieden" auseinandersetzen. Auch den Mord an meiner Schwester, die von einer Nachbarin denunziert worden war, weil sie sich kritisch gegen das Naziregime geäußert hatte, wollten die Stadtväter mahnend in Erinnerung rufen. Ich bedankte mich damals, es muß wohl gegen Ende des Jahres 1968 gewesen sein, aus Rom, in einem Brief an den Rat der Stadt Osnabrück, indem ich meine Ergriffenheit über diese generöse und noble Geste zum Ausdruck brachte. Ach, und Freisler, dieser blutrünstige Nazirichter, soll damals, als sie Elfriede zum Tode verurteilten, zynisch hinzugefügt haben: „Ihr Bruder ist uns leider entwischt, Sie aber werden uns nicht entwischen!“ Elfriede habe ich später meinen 1952 erschienenen Roman „Der Funke Leben" gewidmet. Eine Ausstellung im 1996 eröffneten Remarque-Friedenszentrum, erinnerte an ihr Schicksal. Ja, seit 1989 haben sie mir zu Ehren ein Archiv und eine Forschungsstelle „Krieg und Literatur" eingerichtet. Dort im Remarque-Zentrum kann man mich in Wort und Bild erleben. Das ist doch sehr erfreulich und mich auch etwas stolz.
Ach ja, die Weinhandlung Hoberg gibt es immer noch. Im Oktober 1929 und im Sommer 1930 kehrte ich für kurze Zeit nach Osnabrück zurück, um in Ruhe meinen neuen Roman „Der Weg zurück“ voranzubringen. Während dieser Zeit wohnte ich zur Untermiete im Haus der Witwe des Weinhändlers Hoberg in der Johannisstraße, schräg gegenüber der Steinmetzfirma Vogt in der Süsterstraße. Dort war ich Anfang der 20iger Jahre angestellt. Diese Zeit beschreibe ich in meinem Roman „Der schwarze Obelisk". Heinrich Kroll, der Grabsteinverkäufer und der eifersüchtige Pferdeschlächter Watzek übernehmen die Rollen der ehrgeizigen unbelehrbaren Nazis, die sich um Hitler scharen und gegen die Schmach des Versailler Schandfriedens wettern.“Deutschland, erwache!“rufen sie. Im Dorf Wüstringen ließ ich Major Wolkenstein den mordgierigen Mob auf einen Republikaner hetzen, der bei einer Kriegerdenkmalseinweihung die schwarzrot-goldene Fahne aus dem Fenster seines Hauses hängte. [-] Ihnen stellte ich skeptische Humanisten entgegen, die vergeblich Toleranz, Menschlichkeit und historische Wahrheit forderten. Georg Kroll, Kriegskamerad und Chef des jungen Protagonisten Ludwig Bodmer, gehörte dazu. [-] Ach ja. Im Hotel Wallhalla, in dem inzwischen Königinnen residiert haben, da traf sich damals der Werdenbrücker Dichterclub mit seinen reimenden Studienräten und Gastwirten. Anschließend schickte ich sie ins Bordell in der Rheiner Landstraße, dort, wo ich Kredit hatte und mich gut auskannte. Man soll ja darüber schreiben, was man gut kennt.
„Der schwarze Obelisk“ ist ganz sicher mein autobiographischster Roman. Und Werdenbrück ist, wer hätte das gedacht, Osnabrück. [...] die Enge der Kleinstadt, die Dichterrunde, das Grabsteinunternehmen, die Irrenanstalt am Gertrudenberg, die verspätete Jugend des Ich-Erzählers Ludwig Bodmers, nach Berlin zu gehen. Das hatte etwas mit meinem Weg zu tun.
Dann der Sprung von Hannover nach Berlin, Rom, Paris, schließlich nach Porto Ronco, meine südliche Zuflucht, dann Reisen nach New York, Beverly Hills. Ich war gerne unterwegs. Dort, wo das Leben pulsierte, wollte ich immer sein, elegant und voller Humor im Mittelpunkt stehen, obwohl ich doch angeblich immer vor irgendwelchen Menschen auf der Flucht gewesen sein soll, behaupten meine Biographen und die müssen es ja wissen.
Damals im Frühsommer 1935 war ich für einige Stunden in Paris beim Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur. Zu den Rednern gehörten unter anderen André Gide, Romain Rolland, Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Ernst Toller, Anna Seghers. Hier wollte ich nicht im Mittelpunkt stehen, scheute das Rampenlicht vorm Rednerpult. Ich blieb stumm, obwohl in den Vorträgen immer wieder mein Erfolgsroman „Im Westen nichts Neues" genannt wurde.
Viele nahmen es mir übel, daß ich nicht Partei ergriff, obwohl ja auch meine Bücher verbrannt worden waren. Anläßlich des Filmverbotes von "Im Westen nichts Neues" schrieb Carl von Ossiezky: "Wir kennen seine Abneigung gegen öffentliches Hervortreten und teilen mit vielen anderen die Schätzung eines über Nacht berühmt gewordenen Autors, der es ablehnt, sich herumreichen zu lassen und unter Salonkätzchen und Bankettaffen den Löwen zu spielen. Aber dieser so gut ertragene Ruhm bringt doch noch andere Verpflichtungen mit als solche gegen den guten Geschmack. Herr Remarque hätte nicht […] schweigen dürfen. […] Herr Remarque hat im entscheidenden Stadium geschwiegen und sich damit selbst zu einer literarischen Ohnmacht degradiert."
Ich war damals nicht bereit, so radikal wie Ossietzky zu kämpfen. Er bezahlte seinen hohen Einsatz mit Gefängnis und dem Leben. Ich war kein Märtyrer. Ich wollte leben! Und Tucholsky, der in einer Besprechung meines Romans „Der Weg zurück“ angemerkt hatte: "Auf Remarque als Kämpfer können wir nicht zählen, seit er sich von dem Kammerjäger Goebbels so leicht hat besiegen lassen", der konnte seine Verzweiflung nicht überwinden und beging im schwedischen Exil Selbstmord.
Ich habe damals an der Richtigkeit meines politischen Glaubens und Handelns festgehalten und zu einem ungarischen Journalisten bei einem Besuch in Budapest gesagt: Politik verdirbt nur die Kunst [...] Man soll Schriftsteller oder Reporter sein, der Schriftsteller soll Augen haben, er soll alles sehen, aber er darf nicht politisieren. Natürlich kommt es vor, daß er dann mit einem seiner Bücher Politik macht, aber das muß ohne seinen Willen erfolgen, denn eine Absicht dieser Art tötet die Kunst.
Ich wollte in meinen Werken politisch sein, ich wollte künstlerisch engagiert den Leser die Zeitereignisse miterleben lassen. Ich wollte die Unmenschlichkeit meines Zeitalters unmittelbar durch meine Romanfiguren nachempfinden lassen, Daß ich die Nazis stets verabscheut habe, ist durch Robert Kempner, später US-Anklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen, mündlich überliefert. 1935 kam Hermann Görings Staatssekretär Körner nach Porto Ronco, um mich zu überreden, zurück ins Reich zu kommen. Dem habe ich gesagt: Was, fünfundsechzig Millionen wollen hinaus, und ich soll freiwillig zurückgehen? Nicht im Leben!
Später, in einem Pariser Interview, haben sie mich gefragt, ob ich denn nicht Heimweh hätte: Meine Antwort weiß ich noch genau: „Nein, ich bin kein Jude […].Die Juden waren, im Gegensatz zur langläufigen Meinung, in Deutschland die besten Patrioten ... Für mich ist das Nationalgefühl annehmbar, wenn es die Basis der Kultur, des Fortschritts ist, nicht wenn es die absurde Vorstellung bezeichnet, allen seinen Nachbarn überlegen zu sein.
Übrigens ist es nicht wahr, daß ich in den Exiljahren mangelndes Bekennertum bewiesen habe. Mein privates Leben war mir nicht wichtiger als die Bedrohung der Welt durch den Faschismus. In meinen Tagebüchern steht es schwarz auf weiß. Hier: 7. April 1937: Abends […] Teerbad. Pflaster. Abends 1o Uhr den kommunistischen Sender aus Deutschland gehört. Bewundernswerter Mut, das zu machen. Kurzwellensender, wahrscheinlich auf Auto montiert. Gut zu verstehen, trotz Störwellen. […] Aus den Ebenen Spaniens Blutgeruch über Europa. Und aus der ganzen Welt der Verwesungsgestank der trägen Herzen. Verfluchtes Jahrhundert! Im Krieg mischten sich zu viele ein 1914/18 – jetzt zu wenig und die Falschen. Der Frieden der Welt, oder wenigstens Europas, hängt an zwei ehrgeizigen Hanswürsten, die immer frecher werden, je weniger Widerstand sie spüren.
Ach, das ich mich nach all den Jahren immer noch rechtfertigen will. Wahrscheinlich ist doch irgendwie ein schlechtes Gewissen geblieben, mich nicht ausreichend vor Ort eingemischt zu haben. Dabei hatte ich sogar mal daran gedacht nach Spanien zu gehen, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Aber ich wollte immer vom Schreibtisch aus kämpfen. Und leben wollte ich! Wenn ich an die Jahre zwischen 33 und 5o denke. Diese Jahre haben mich geschafft. All die Alkoholexzesse, die Frauenaffairen. Wie sie damals über mich hergezogen sind, mein Privatleben in den Dreck gezogen haben. Und dennoch, je ne regret rien, diese wilden Jahre von 1937 bis 1940 mit dem Puma von 1937-194o. Die Affaire mit Natascha, quälende beglückende Zeit. Oh, wie habe ich geliebt und gelitten, leidenschaftlich!
21. Mai 1938: Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Marlene kocht. Champignonsuppe, Bouletten, Rührei, serbisches Reisfleisch, Marillenknödel. Keine kochte wie sie. Keine liebte wie sie. Wie ich sie liebte. Windgetriebene, Herzverwehte – Nike von den hellenischen Küsten
Nach Beverly Hills schrieb ich Dir: Es ist Nacht und ich warte darauf, daß du von New York anrufst. Die Hunde schlafen um mich herum, und das Grammophon spielt, - easy to love – /I got you under my skin awake / from a dream – Zärtliche! Geliebte Sanfte! Von den Mimosen um mein Haus ist ein kleiner Zweig in den letzten Tagen aufgeblüht. Er hängt golden vor der weißen Mauer in der Sonne morgens. Weich wie dein Schlafatem an meiner Schulter – Süßeste – manchmal nachts strecke ich den Arm aus und will deinen Kopf näher heranziehen zu mir ...... „Gib mir eine Zigarette, Liebling ! Wer ist bei dir, Liebes ? Ach, irgendjemand, egal. Eine Frau ist ja nicht untreu, wenn sie einen anderen liebt. Ich verlange keine platonische Liebe von dir, aber ich will auch nicht nur sinnliche Liebe, Untreue gibt es gar nicht, ebenso wenig wie Sünde und Gut und Böse.
Du wirst Essen gehen, ins „El morocco“ vielleicht, ins International Welches Abendkleid? Das weiße mit dem goldenen Mieder von Schiaparelli oder das schwarzgoldene von Alix oder das grüngoldene aus Hollywood ? –
Als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Ich sehe dich vor mir wie damals, möchte dich berühren, Bebende ach, endlos Geliebte. […] dieser Augenblick, wenn ich zu dir kam und das Licht war aus, und aus dem Dunkel flogst du in meinen Arm und das Zimmer zerfiel und die Nacht zerfiel und die Welt zerfiel und deine Lippen waren das Weichste in der Welt und deine Kniee kamen und deine Schultern und deine zärtliche Stimme- kommwiederkommwieder.
Das habe ich geschrieben ? Hm, dieser echte 1811er Napoleon – wie sie mich hier im Paradies verwöhnen! Dieser Brief. Es muß in der Zeit gewesen sein, als alles begann mit dem Puma, als diese Liebe in Flammen stand. Dabei war die erste Begegnung mit ihr eher komisch. Marlenes Tochter Riva hat darüber geschrieben:
„Marlene saß mit von Sternberg im Lido in Venedig beim Mittagessen, als ein Mann auf ihren Tisch zukam. „Herr von Sternberg? Gnädige Frau ?“ Obwohl es meine Mutter gar nicht mochte, daß Fremde sie ansprachen, war sie doch von seiner kultivierten Stimme fasziniert. Sie betrachtete seine feinen Gesichtszüge, seinen sensiblen Mund und seine Raubvogelaugen, deren Blick sanft wurde, als er sich vor ihr verneigte: „Darf ich mich vorstellen. Erich Maria Remarque.“ Meine Mutter streckte ihm die Hand entgegen, und er gab ihr einen vollendeten Handkuss. […] Entzückt über seine tadellosen Manieren, lächelte meine Mutter und lud ihn mit einem Nicken ein, Platz zu nehmen. „Sie sehen viel zu jung aus, um eines der größten Bücher unserer Zeit geschrieben zu haben.“ Ich soll geantwortet haben: „Vielleicht habe ich es nur geschrieben, um einmal ihre zauberhafte Stimme diese Worte sagen zu hören .“ Er zückte sein goldenes Feuerzeug und reichte ihr Feuer, sie hielt ihre blassen Hände schützend um seine braungebrannte Hand und schob sich einen Tabakkrümel von der Unterlippe."
Ach ja, wir redeten bis zum Morgengrauen. Es war wunderbar. Ich kam dann damit heraus. „Ich muß ihnen etwas gestehen – ich bin impotent!“ Sie schaute überrascht zu mir auf und flüsterte: „Ach, wie wunderschön!“ Später soll sie von ihrer Pariser Wohnung aus mit Johannes Mario Simmel öfter stundenlang telephoniert und ihm gebeichtet haben: „Gott, habe ich diesen Mann geliebt.“ Wenn sie fort war, überfiel mich neue Sehnsucht und Leere zugleich:
 Heute den ganzen Tag im Bademantel. Heiß, schwül. Zeitung gelesen. Unruhe. An alles mögliche gedacht. Briefe von Marlene. Telephoniert. Blumen geschickt. Ich stank immer noch nach Schnaps, Knoblauch und Zigarren. Puppersberger Kreuz 1921, Riesling, geköpft. Krebse mit Dill auf Reis. Rote Grütze. Richard Tauber. Odeon. „Das alte Lied“ und „Ich lieb dich doch“ „Gib mir dein Herz“ Kleine, junge graue Katze. Die Alte läufig, der Tiger hinter ihr her. „.Im Garten gewesen. Rosen blühen noch. Hortensien. Lilien. Schleierkraut, Passionsblumen. Kapuziner. Fast tropisch. Unruhe.
Zimmer photographiert: Sonderbar: als käme ich nicht wieder hierher.
Als wäre alles das letzte Mal:
der Sommer; - das Haus; - der Friede, - das Glück; - Europa;
das Leben vielleicht




Werke (Auswahl):
Im Westen nichts Neues (1929). – Der Weg zurück (1931). – Drei Kameraden (1938). – Arc de Triomphe (1946). – Der Funke Leben (1952). – Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954). – Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend (1956). – Der Himmel kennt keine Günstlinge (1961). – Die Nacht von Lissabon (1962). – Schatten im Paradies (1971). – Das unbekannte Werk. Frühe Prosa, Werke aus dem Nachlaß, Briefe u. Tagebücher. Hrsg. von Thomas Schneider u. Tilman Westphalen (1998). – Der Pazifist. Texte u. Interviews. 1929 – 1966. Hrsg. von Thomas F. Schneider (1998).


Über Erich Maria Remarque:
Erich Maria Remarque – 1898 – 1970. Hrsg. von Tilman Westphalen. Bramsche 1988.
Thomas Schneider: Erich Maria Remarque. Ein Chronist des 20. Jahrhunderts. Eine Biographie in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von der Stadtbibliothek Osnabrück (1991).
Julie Gilbert: Erich Maria Remarque und Paulette Goddard. Biographie einer Liebe (1997).
Wilhelm von Sternburg: „Als wäre alles das letzte Mal“. Erich Maria Remarque Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer und Witsch (2ooo; darin eine ausführliche Bibliographie).
Sag mir, daß Du mich liebst. Erich Maria Remarque – Marlene Dietrich. Zeugnissse einer Leidenschaft. Hrsg. von Werner Fuld u. Thomas F. Schneider (2001).
Erich Maria Remarque – Die Straßen seiner Jugend. Faltblatt, hrsg. vom Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück. Von Beatrice Le Contre-Bick u.a. Osnabrück o.J.


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