Autor
signierten Exemplaren, zum Subskriptionspreis von 295 DM pro Stück. Ich näherte mich damals meinem 18. Geburtstag und war ein wenig
beleidigt: In pennälerhafter Hybris wurmte es mich, daß ich, obwohl
ich mich doch nun schon ein, zwei Jahre für zeitgenössische Literatur
interessierte, noch nie etwas von Schmidt gehört oder gar gelesen
hatte. Als dann auch noch in der Tür meiner Stamm-Buchhandlung die
Fotokopie eines ’Spiegel’-Artikels über Zettel’s
Traum hing, reichte es mir. Ich bat den Buchhändler, mir etwas von
diesem Schmidt zu empfehlen. Der drückte mir ein schmales
Fischer-Taschenbuch in die Hand: ”Lies das. Das ist verständlicher
als Zettel’s Traum.”
Vergilbt und etwas zerfleddert liegt das Buch heute vor mir, Sommermeteor.
23 Kurzgeschichten. Nichts an ihm deutet darauf hin, daß seine Lektüre
eine für mein Leben bestimmende war – aber ganz genau genommen war
sie das auch noch nicht. Denn der Eindruck, den etwa die skurrilen Erzählungen
des alten Vermessungsrats Stürenburg oder die Geschichten aus der
Inselstraße beim ersten Lesen auf mich machten, war ein zwiespältiger.
Ich las diese Texte durchaus gerne, ich mochte ihre Mischung aus
hochgestochenem Witz, präzis gebannter Alltäglichkeit,
50er-Jahre-Kleinkariertheit, Kalauern und verschrobenen Ansichten: Was
heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in
Hannover. Aber das konnte doch nicht Alles sein. Ich vermißte das
in den Berichten über Zettel’s
Traum angekündigte literarische Schwergewicht, den
avantgardistischen Sprachartisten und Konstrukteur komplizierter
Prosastrukturen, den deutschen James Joyce. Der Buchhändler hatte recht
gehabt: Das Buch war verständlich. Aber der Pennäler war wieder etwas
beleidigt: So sehr verständlich
hätte es nun auch nicht sein müssen! Ich legte den Sommermeteor weg und nahm mir vor, es bei Gelegenheit noch einmal
mit Arno Schmidt zu versuchen, unternahm freilich nichts, diese
Gelegenheit herbeizuführen. Erst ein Jahr später ergab sie sich von
selbst – wie sich Schicksalhaftes eben zu ergeben pflegt.
Sommer 1971 – ich reise mit dem Rucksack durch Skandinavien. Kalter
Regen und helle Nächte lassen meinen Vorrat an Reiselektüre rasch
dahin schmelzen, und so betrachte ich nördlich des Polarkreises, in Bodø,
interessiert den Taschenbuchständer, der in der endlich sich zeigenden
Sonne vor einer Papierwarenhandlung steht. Eine Handvoll deutscher Titel
ist dabei, und darunter: Arno Schmidt, Tina
oder über die Unsterblichkeit. – In Narvik hatte ich bereits mehr
als die Hälfte der 174 eng bedruckten Seiten gelesen, und im Zug
irgendwo hinter Kiruna klappte ich das Buch zu und war mir sicher: Von
diesem Autor wollte ich jede Zeile lesen, die er geschrieben hatte und
die er noch schreiben würde.
Unsicher freilich war ich mir, was
ich da eigentlich gelesen hatte. Das Buch enthielt eine bizarre
Text-Zusammenstellung und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem
anderen mir bekannten. Es begann noch relativ moderat mit der
Titelgeschichte, in der ein Autor besuchsweise durch eine Litfaßsäule
in ein unterirdisches Elysium gelangt, in welchem Dichter aller
Zeitalter darauf warten, daß sie in Vergessenheit geraten und sich
endlich in Nichts auflösen dürfen. – Doch dann folgten zwei für den
Rundfunk geschriebene Dialoge, in denen über Literatur gesprochen
wurde, wie noch kein Lehrer zu mir über Literatur gesprochen hatte,
voll Feuer und Begeisterung, mit klotzigen Urteilen und scharfen
Beobachtungen, in einer suggestiven Intensität und Direktheit, die mir
geradezu ins Gesicht schrien, hier sei Jemand, der es mit der Literatur,
mit seiner Kunst ums Leben ernst meine.
Aber wurde hier wirklich ”über” Literatur geredet? Der erste Dialog
hatte einen Roman des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand, der laut Schmidt
die profetische Beschreibung eines
’Super=Dritten=Reiches’ und das
ideale SS=Handbuch sei. Natürlich kannte ich seinen Verfasser von
Meyern genauso wenig wie den angeblichen Historiker Müller, von dem im
zweiten Dialog behauptet wurde, er hätte eine Geschichte der Schweiz
geschrieben, in der so gut wie jede Wirtshauskeilerei der Eidgenossen
ihren epischen Platz gefunden hätte. Und natürlich konnte ich in
Lappland nicht überprüfen, ob diese beiden Autoren (ebenso wie der
Held des vierten Textes, einer Revue über den preußischen Obristen
Massenbach, der für eine Allianz mit Napoleon gekämpft haben sollte)
historische Figuren oder Erfindungen Schmidts waren. Ich konnte nicht
entscheiden, ob ich (verkürzt gesagt) Primär- oder Sekundärliteratur
gelesen hatte. Eine Unsicherheit, die Arno Schmidt, als ich ihm drei
Jahre später davon erzählen konnte, ausgesprochen freute – und die,
wie ich im Laufe meiner weiteren Lektüre bald merkte, eine der Stärken
und Probleme der schmidtschen Funkdialoge ausmacht. – Aber diese
Diskussion führte hier zu weit, haben wir uns doch jetzt Schmidts
Lebenslauf zuzuwenden.
Arno Schmidt wird am 18.1.1914 in Hamburg geboren als zweites Kind des
Polizeioberwachtmeisters Otto Schmidt und seiner Frau Clara. Zusammen
mit seiner drei Jahre älteren Schwester Lucie wächst er in einer
2-Zimmer-Wohnung im Arbeiter-Vorort Hamm auf. Er ist ein extrem
kurzsichtiges, kontaktscheues, aber phantasiebegabtes Kind, das sich früh
– (denn er hat bereits im Vorschulalter Lesen gelernt) – in die Bücherwelten
von Jules Verne und Karl May flüchtet.
1928 stirbt der Vater, und der Rest der Familie zieht ins Haus der Großmutter
mütterlicherseits in die nieder-schlesische Kreisstadt Lauban. Im 20 km
westlich gelegenen Görlitz besucht Schmidt die Oberrealschule, wo er im
Frühjahr 1933 sein Abitur macht. An ein angesichts durchweg guter Noten
sich empfehlendes Studium ist wohl aus finanziellen Gründen nicht zu
denken, und Arbeit ist auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit zunächst
nicht zu finden; erst ein Jahr später wird er im benachbarten
Greiffenberg kaufmännischer Lehrling (danach Lagerbuchhalter) in einer
Textilfabrik. Dort lernt er die 1916 geborene Sekretärin Alice Murawski
kennen; sie heiraten 1937 und ziehen 1938 in eine kleine Werkswohnung
nach Greiffenberg. Die wenigen erhaltenen Fotos dieser Wohnung zeigen
vornehmlich gefüllte Bücherregale.
Nachdem er bereits als Oberschüler Gedichte geschrieben und ein
Versepos entworfen hat, beginnt Schmidt, für seine Frau
Elementargeistererzählungen im Ton der von ihm verehrten Romantiker
Tieck, Hoffmann und Fouqué zu schreiben, literarisch wertlose,
historisierende Fingerübungen, die nichts von den Zwängen der den
Autor umgebenden NS-Realität ahnen lassen – was sich auch nicht ändert,
als Schmidt 1940 eingezogen wird und bei der Artillerie
Schreibstubendienst im Elsaß und in Norwegen ableisten muß. Die
letzten Kriegswochen erst kommt Schmidt zur kämpfenden Truppe an die
Westfront, wo er in englische Kriegsgefangenschaft gerät. Schon im
Dezember 1945 wird er wieder entlassen, denn die Engländer haben eine
Aufgabe für ihn: Er wird Dolmetscher in ihrer Hilfspolizeischule in der
Lüneburger Heide.
In Cordingen (bei Walsrode) bewohnen Schmidt und seine Frau, die nur mit
einem Rucksack voller Bücher aus Schlesien flüchten konnte, ein enges
Zimmer im Mühlenhof; als die Polizeischule nach einem Jahr schließt,
wird Schmidt, „freier Schriftsteller“ – ein Entschluß, der zunächst
Hunger und Entbehrung bringt, erscheint doch sein erstes Buch erst im
Herbst 1949: Leviathan
versammelt drei Erzählungen, die nun nichts mehr mit der süßlichen,
zu Schmidts Lebzeiten unveröffentlichten Vorkriegsproduktion zu tun
haben, sondern aus der rabiaten
Kiste stammen, wie Schmidt
sagt. Die Titelgeschichte gibt die letzten Tagebuchaufzeichnungen eines
deutschen Soldaten wieder, dessen Flucht vor der Roten Armee auf einem
zerschossenen Viadukt in einem Eisenbahnzug endet, hoch über der Neiße
bei Görlitz, wo es kein Vor und Zurück mehr gibt, nur den Sprung in
den Tod. In dieser Situation entwirft Schmidt sein von Schopenhauer und
der Gnosis beeinflußtes Bild einer von einem bösartigen Dämon
geschaffenen und regierten bösartigen Welt, aus der sich der Mensch
allenfalls retten kann durch Auflehnung gegen ihren Schöpfer und dessen
Weltmechanismen : Fressen und
Geilheit. Wuchern und Ersticken. – Die Literaturkritik nimmt
dieses Debut meist wohlwollend, sogar mit Begeisterung auf; Hermann
Hesse nennt Schmidt einen „wirklichen Dichter“, Alfred Andersch
„ein Genie!“ und die Mainzer Akademie verleiht ihm ihren
Literaturpreis. Doch der Verkauf des bei Rowohlt erschienenen Buches ist
gering, zu düster sind Schmidts Geschichten, zu ungewohnt ist seine
Sprache, die in ihrem Assoziations- und Bilderreichtum, ihrer
Sprunghaftigkeit und ihrer Intensität anknüpft an den vom
Nationalsozialismus verfemten Expressionismus.
Diese Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Mißerfolg und Anerkennung
bei Kritik und Kollegen (die natürlich nie uneingeschränkt ist : seine
Bücher provozieren immer wieder auch die wütendsten Verrisse) wird
noch bis weit in die sechziger Jahre anhalten, so daß Arno Schmidt Brotarbeiten
für Radio und Zeitungen schreiben und Romane aus dem Englischen übersetzen
muß.
Ende 1950 lassen sich Schmidts als Flüchtlinge umsiedeln; der neue
Wohnort Gau-Bickelheim südlich von Mainz bringt jedoch nicht die
erhoffte Besserung der Wohnsituation, und so ziehen sie 1951 in das Dorf
Kastel hoch über der Saar. – Noch in Norddeutschland und noch vor der
Währungsreform spielt Schmidts 1951 erscheinender Kurzroman Brand’s
Haide, in dem der ärmliche Versuch eines eben aus Gefangenschaft
Entlassenen geschildert wird, sich in der Nachkriegsprovinz einzurichten
– die ausführliche Fassung quasi von Günter Eichs Kahlschlag-Gedicht
‚Inventur’. – So, wie klar ist, daß Schmidts Ich-Erzähler in der
sich eben bildenden, gar nicht so neuen Gesellschaft aus Altnazis,
Neureichen und an Kultur desinteressierten Spießern nie heimisch werden
wird, so ist auch spätestens mit diesem Buch klar, daß sein Autor in
der deutschen Literatur ein Außenseiter ist und bleiben wird. Zwar will
auch Schmidt (wie etwa Böll oder Koeppen) ein möglichst realistisches
und schonungsloses Bild seiner Zeit geben, doch bezieht er dabei Bewußtseinsvorgänge,
Erkenntnisprozesse, Erinnerungen, Träume und Gedankenspiele seiner
Figuren mit ein und stellt so einer äußeren, objektiven Realität eine
innere, subjektive an die Seite. Durch zahlreiche Zitate und
Anspielungen verankert er außerdem seine Texte in dem weiten Kosmos der
von ihm geschätzten Literatur, der von Homer über Parzival, Wieland,
Tieck, Scott und Poe bis zu Stramm, Döblin und Joyce reicht. Seine
hoch-artifizielle Sprache bricht er immer wieder durch den Einsatz von
umgangssprachlichen Duden-Widrigkeiten, und mit exzessiver
Zeichensetzung erobert er seiner Prosa die eigentlich schriftfremden
Bereiche von Mimik, Tempo, Rhythmus und Tonhöhe.
Der so entstehende schmidtsche Stil ist ebenso leicht zu erkennen wie
schwer nachzuahmen – genauer gesagt: nachgeahmt wirkt er sofort
peinlich und falsch, und so hat Schmidt auch nie eine Schule begründet
und zumindest keine offen erkennbaren Nachfolger gefunden. Von
Schriftstellergruppierungen hält er sich fern, Einladungen der
’Gruppe 47‘ und des PEN lehnt er mehrfach ab.
1955 erscheint Schmidts Erzählung Seelandschaft
mit Pocahontas : ein Kurzurlaub am oldenburgischen Dümmer, zwei
Paare, die sich rasch finden, Paddelboote, Sonnenbrand und Sex – doch
unter der heiteren Oberfläche einer der schönsten Liebesgeschichten
der deutschen Literatur brodelt die Erinnerung an den jüngsten Krieg:
der ganze Text ist dicht durchzogen von einer Todes- und
Gewaltmetaphorik, die selbst aufmerksamen Lesern lange entgeht. Was
allerdings ganz offen liegt – Schmidts Haß aufs Militär, seine
Ablehnung der Adenauer-Restauration, sein atheistischer Furor und seine
Kühnheit im Sexuellen – bringt ihm eine Anzeige wegen Verbreitung von
Pornographie und Gotteslästerung ein. Schmidts sind ob der drohenden
hohen Geldstrafe sehr beunruhigt und ziehen aus dem konservativen
Gerichtsbezirk Trier in das liberalere Darmstadt, wo denn auch nach
einem positiven Gutachten der Akademie das Verfahren eingestellt wird.
1956 erscheint Das steinerne Herz,
Schmidts sprachlich und inhaltlich bislang radikalstes Buch. Es
thematisiert nicht nur als erster deutscher Roman die deutsche Teilung,
sondern wägt sogar die Systeme von BRD und DDR vergleichend
gegeneinander ab und stellt sie so auf eine Stufe – ein Skandal in
einer Zeit, wo selbst SPD-Wähler die DDR nur ‘Zone‘ nennen. Hinzu
kommt eine völlig ungewohnte, weitgehend phonetische Schreibung der
Roman-Dialoge; Sätze wie Pumpsu
woh ma den Ssementtroch voll, Wallda? lassen konservative
Rezensenten zum Schutz der deutschen Literatur Gott anflehen oder
verleiten sie zu Fragen wie „Dichtung oder hormonales Irresein?“, während
Peter Rühmkorf zum Steinernen
Herz dekretiert: „Hier hat ein Ereignis stattgefunden, das neue Maße
herausfordert, hier ist das erste Buch, das die Generation rechtfertigt,
der Schmidt angehört.“
Das unruhige Großstadtleben in Darmstadt macht Schmidt zunehmend zu
schaffen, auch gesundheitlich. Sein hohes Arbeitspensum, geleistet mit
großer Konzentration und unter Einsatz von Kaffee, Alkohol und
Schlaftabletten, verlangt nach dörflicher Ruhe, zumal Schmidt längst
die norddeutsche Heide als die ihm
gemäße Landschaft erkannt hat. Doch erst Ende 1958 findet er ein
passendes, vor allem bezahlbares Häuschen in Bargfeld, am Südrand der
Südheide, deren Landschaft ein zentraler Bestandteil seiner Bücher
wird. So auch im 1960 erscheinenden Roman Kaff
auch Mare Crisium, der allerdings außer der Heide in einem
utopischen Gedankenspiel des Protagonisten auch noch den Mond zum
Schauplatz hat, wo nach einem Atomkrieg auf Erden ein kleiner Rest
Menschheit überlebt. Die Sprache auf Erden hat Schmidt nach Ansicht
seiner Kritiker schon vorher zerstört, treibt er doch in diesem Buch
die phonetische Schreibweise weiter als je zuvor.
1964 zeichnet ihn der Berliner Senat mit dem Fontane-Preis aus; die
Laudatio hält Günter Grass. Als Alice Schmidt sich nach der Feier bei
Grass bedanken will, winkt dieser bescheiden ab: ”Wir haben doch alle
bei Ihrem Mann gelernt.“
Arno Schmidt, der schon
immer ungern gereist ist, verläßt Bargfeld in den 60er Jahren kaum
noch und empfängt nur wenige Besucher. Neben der Übersetzung von
Werken Edgar Allan Poes arbeitet er an seinem opus maximum Zettel’s
Traum, einem gigantischen Roman-Essay über Poe, in dem Schmidt
versucht, seine seit mehreren Jahren intensiv betriebene Freud-Lektüre
fruchtbar zu machen: Aus der „Traumdeutung“ und der
„Psychopathologie des Alltagslebens“ entlehnte Analysemethoden
wendet Schmidt auf Poes Wortschatz an, indem er aus phonetisch
naheliegenden, meist sexuell unterfütterten Doppeldeutigkeiten auf
Person und Charakter Poes schließt. – Das Erscheinen des Buches löst
1970 ein ungeheures Medien-Echo aus, das Schmidts Namen und den bis
heute ebenso gern zitierten wie verballhornten Titel des Riesenbuchs
schlagartig über den Kreis seiner bislang etwa vier- bis fünftausend
festen Leser bekannt macht, was nicht ganz unproblematisch ist: Denn wer
– neugierig geworden und ohne etwas von Schmidt zu kennen – Zettel’s
Traum aufschlägt und den dreispaltigen Seitenaufbau sieht (der in
der Struktur einfacher als das Layout einer ”Bild-Zeitung“ ist!),
der wird in der Regel den Folianten ratlos zuschlagen und nicht ahnen,
daß Zettel’s Traum ein
Sonderfall im Werk Schmidts ist und die Werke davor und danach anders,
leichter und vergnüglicher zu lesen sind.
1972 erleidet Schmidt einen Herzinfarkt, der ihn zwar daran hindert, den
ihm von der Stadt Frankfurt am Main verliehenen Goethe-Preis 1973 persönlich
entgegen zu nehmen, der aber keine Herabsetzung des Arbeitspensums
bewirkt. – 1977 veröffentlicht er seinen letzten Roman Abend
mit Goldrand, in dem eine Hippie-Kommune, deren Anführer über
magische Kräfte gebieten, in die scheinbare Dorfidylle dreier alter Männer
bricht. Schmidt gelingt hier etwas, das nicht nur in der deutschen
Literatur einmalig sein dürfte: Die Verbindung eines pornographischen
Lachkabinetts von rüder, oftmals abstoßender Derbheit mit der
denkbar zartesten, delikatesten Liebesbeziehung zwischen einem Greis und
einer jungen Frau. Ein in jeder Beziehung reiches, bis heute nicht
ausgelotetes Buch, das sich wohl (gegen Zettel’s
Traum) als das eigentliche Hauptwerk Schmidts durchsetzen wird.
Als Arno Schmidt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirnschlags
stirbt, steckt in seiner Schreibmaschine die Seite 100 des Fragment
gebliebenen Romans Julia, oder die
Gemälde. Der letzte Satz, den er getippt hat, lautet: Ist
Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?
1981 gründeten Alice Schmidt und der Germanist Jan Philipp Reemtsma,
der Schmidt seit 1977 finanziell unterstützt hatte, die Arno Schmidt
Stiftung, die seit dem Tod der Witwe 1983 als Alleinerbin Schmidts Werk
betreut. – Es ist heute in weit über einer Million Büchern
verbreitet, die zahlreichen Übersetzungen in fremde Sprachen nicht
mitgerechnet. Da kann also keine Rede mehr sein von einem
’Geheimtip’ oder einem Autor für eine kleine Fangemeinde – Arno
Schmidt ist ein anerkannter Klassiker der Moderne geworden.
Natürlich haben Schmidts sexuelle Freizügigkeiten in unserer
pornographisierten Gesellschaft ihre Provokation verloren, und die
deutsche Wiedervereinigung hat viele (nicht alle) seiner politischen
Kommentare obsolet gemacht. Doch wer über die Anfänge unserer Republik
unterrichtet sein, wer Befindlichkeiten, Denk- und Verhaltensweisen
ihrer Einwohner beobachten will, der kann aus Schmidts Büchern viele
Details erfahren, die er bei Historikern nicht finden wird.
Inhalt und Handlung standen für Schmidt aber nie im Vordergrund seiner
Prosa, sein Hauptinteresse galt stets Form und Sprache. Und so lernt
denn der Leser, wenn er zu Büchern Arno Schmidts greift, heute vor
allem Sprachkunstwerke hohen Ranges kennen: präzise Konstruktionen des
Erzählgerüsts und sorgfältigster Feinbau, eine Wortwahl nach
Vokalharmonien und Konsonantennarreteien, ebenso überraschende wie treffende Bilder
und Metaphern, souveränes Mischen alter und neuer, hoher und niederer
Sprachformen, konzentrierteste Dichte, Unterhaltung und Belehrung, derbe
Kalauer und Naturlyrik, und ein immer wieder Staunen machender
unvertraut vertrauter Umgang mit Wörtern: Vielleicht
bin ich von Mutter Natur ausdrücklich als 1 Gefäß für Worte
angelegt, in dem es schtändich probiert & rührt & komm=biniert?
Werke:
Die von der Arno Schmidt Stiftung herausgegebene ’Bargfelder
Ausgabe der Werke Arno Schmidts’ ist beim Suhrkamp Verlag erhältlich;
viele Texte sind auch als Taschenbücher im Fischer Verlag erschienen.
– Hauptwerke: Leviathan, Hamburg 1949; Brand’s Haide, Hamburg 1951;
Das steinerne Herz, Karlsruhe 1956; Die Gelehrtenrepublik, Karlsruhe
1957; KAFF auch MARE CRISIUM, Karlsruhe 1960; Zettel’s Traum,
Stuttgart 1970; Abend mit Goldrand, Frankfurt/M 1975.
Über Arno Schmidt:
Arno Schmidt. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text
+ kritik 1977 (= Text + Kritik. Heft 20/20a).
Wolfgang Albrecht: Arno Schmidt. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998
(=Sammlung
Metzler Nr. 312)
Wolfgang Martynkewicz: Arno Schmidt. Mit Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1992 (= rowohlts
monographien. Band 484).
Immer wieder neu und anregend ist die homepage www.Arno-Schmidt-Stiftung.de
mit vielen Informationen und links.
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