Von
dem anderen Herrn, in dessen Fussstapfen wir beide vermeintlich
wandelten, wusste ich nichts. Nicht, dass er in meinem Wohnort
Hannover gebürtig
war, noch dass er, wie ich nach ihm auch, ein paar Jahre in
Norwegen zugebracht hatte. Was also blieb mir anderes übrig,
als mich mit diesem Herrn zu beschäftigen und herauszufinden,
wieso ein bildender Künstler und ein Schriftsteller mit ihrer
Arbeit an ein und denselben Menschen gemahnen konnten? Die
Antwort war einfach; denn diese für mich seinerzeit noch sträflich
unbekannte Grösse erwies sich als beides zugleich, war zuerst
Maler und dann ebenso Autor und darüberhinaus sogar noch in
anderen Sparten zu Hause, nämlich als Verleger, Werbegestalter,
Typograph und Vortragskünstler. Nebenbei hat er sich gar mit Bühnentheorie,
Fotografie und ein wenig mit Komposition befasst. Aber selbst
dem unermüdlichen Vermarkter in eigener Sache gelang es nicht,
mit seinen Arbeiten zu Reichtum und Ruhm zu kommen. Letzterer
kam – vor allem für den bildenden Künstler – nach seinem
Tod, dann freilich umso heftiger und weltumspannender, bis
schliesslich sogar die Leute in Hannover seinen Namen zu
buchstabieren lernten, eine Strassenkreuzung sowie einen
Kunstpreis nach ihm benannten und ihm gleich zwei Archive und
ein Hochschulzentrum widmeten.
Seit jener Kritiker mich mit seiner Bemerkung neugierig gemacht
hatte, habe ich im Laufe der Jahre allerlei über diesen Herrn
Schwitters erfahren, viele Bilder und künstlerische Arbeiten
gesehen und wohl das meiste Verfügbare von dem gelesen, was er
aufgeschrieben hat. Ein bedeutender Teil seiner Prosa, Lyrik,
Texte für und zum Theater sowie seiner programmatischen
Schriften und Aufrufe ist in fünf stattlichen Bänden
gesammelt. Hinzu kommen Briefausgaben und eine schier unübersehbare
Fülle von Katalogen und anderen Veröffentlichungen zu seinem
Leben und Werk. Aus all diesen schaut mich ein schwerer Mann an,
der es mit der Leichtigkeit hatte, ein ganz normaler Spiessbürger,
der seine Sentimentalität mit skurrilen, grotesken und märchenhaften
Einfällen zu konterkarieren wusste. Einer, der einen besonders
wachen Sinn hatte für das Aufeinanderprallen von alltäglichen
Banalitäten und hehrem Pathos, das ihm selbst nicht fremd, aber
nach den Erfahrungen des ersten europäischen Weltkriegs verdächtig
war. Einer schliesslich, der diese Zwiespältigkeiten ohne Scheu
und mit sicherem Gespür für Witz und Effekte in Kunst, in
Literatur verwandeln konnte und zwar in einer Weise, die nicht
belehrend daherkommt, sondern spielerisch und so das Kunststück
wie den Betrachter, Leser, Hörer zu dem je eigenen Recht kommen
lässt.
Auch nach vielen Jahren haben diese Figur und ihre
Hervorbringungen nichts, rein gar nichts an Faszination für
mich eingebüsst. Zum x-ten Mal kann ich mich ergötzen an
Zeilen wie diesen: Meine süsse Puppe;/ Mir ist alles
schnuppe,/ Wenn ich meine Schnauze/ Auf die Deine – bauze.
Oder ich kann auch bei wiederholter Lektüre trauerlächeln,
wenn Schwitters wenige Tage vor seinem Ende durch Herzversagen
an seinen Sohn schreibt, das Herzasthma habe sich nun zu einem
Merzasthma entwickelt.
Mit „Merz“, das muss erklärt werden, hatte es folgende
Bewandtnis: Der Begriff taucht erstmals auf in einer Assemblage
von 1919, in die Schwitters aus einer Bankreklame diesen
Wortfetzen eingeklebt hat und die drum den Titel „Merzbild“
erhielt. (Eben dieses Bild wurde übrigens, schräg und über
Kopf gehängt, 1937 in der Naziausstellung „Entartete Kunst“
gezeigt.) Ebenfalls 1919 druckte Herwarth Walden, der erste
abstrakte Arbeiten des jungen Mannes zwei Jahre zuvor in seiner
Berliner Galerie „Der Sturm“ präsentiert hatte, in der
gleichnamigen Zeitschrift dessen Artikel „MERZmalerei“ und
literarische Arbeiten. Nachdem der Hannoveraner auch noch die
„Merzbühne“ propagiert hatte, erschien aus seiner Feder ein
autobiographischer Text, der nur noch mit „Merz“ überschrieben
ist. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle
Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit. Zuerst
habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe
Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, dass die
Anordnung rhytmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt
Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden
sollen. Ich habe Bilder so genagelt, dass neben der malerischen
Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses
geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Ab
1923 gab er dann eine eigene Publikationsreihe „Merz“
heraus, numerierte seine Arbeiten je nach Gattung als Merz 1,
Merz 2 usw. und bezeichnete sich selbst immer wieder als Merz.
Merz erscheint nicht als ein spartenübergreifender neuer „-ismus“,
wie ihn die gleichzeitigen Dadaisten, zu denen Schwitters
Kontakte knüpfte und zu deren Kongress er 1922 nach Weimar
reiste, für sich in Anspruch nahmen. Gemeinsam war ihm wie
ihnen die Vorstellung, dass nach dem Kriegserlebnis mit den überkommenen
Begrifflichkeiten kein Staat mehr zu machen sei, dass sie
allenfalls für Verballhornungen tauglich seien. Aber anders als
etwa für Hans Arp, Tristan Tzara und Raoul Hausmann waren einem
spurtreuen Dadaisten Huelsenbeck´scher Prägung die Arbeiten
eines Kurt Schwitters aus der Provinz nicht vorbehaltlos genug
und es fehlte ihnen an politischem Biss. War nicht Schwitters´
Gedicht „An Anna Blume“, das ihm ab 1919 eine gelinde Berühmtheit
und – nachdem es auch an Litfassäulen prangte – eine
erregte öffentliche Reaktion eingetragen hatte, letztlich doch
ein, wenn auch verkapptes Liebespoem? Oh Du, Geliebte meiner
27 Sinne, ich liebe Dir! / Du, Deiner, Dich, Dir, ich Dir, Du
mir, - wir? Und waren womöglich einige der queren Attribute
dieser rotgrünen Dame mit dem Vogel (Hut auf den Füssen,
gelbes Haar, zersägte Kleider) nur Camouflage? Die Dadaisten
blieben skeptisch bis ablehnend auf Abstand. Schwitters, dem
tatsächlich politische Agitation fremd war und der nebenher gar
in einem Teil seiner Zeichnungen, Gemälde sowie seiner kurzen
Prosa, u.a. (Anek-)Doten, Märchen, Schlager, zugleich auch
einen bildhaften Realismus pflegte, machte aus der Not eine
Tugend (Merz und Dada sind sich durch Gegensätzlichkeit
verwandt.), indem er mit „Merz“ seine höchstpersönliche
Kunstrichtung kreierte, was im übrigen auch unter
PR-Gesichtspunkten eher von Vorteil war. Schwitters hatte es
hellsichtig vorhergesagt: Ewig währt am längsten.
Aber der Reihe nach: Kurt Eduard Karl Julius Schwitters
erblickte am 20.Juni 1887 in Hannover als Sohn ehrbarer Eltern,
die ein Damenkonfektionsgeschäft betrieben, das Licht der Welt.
Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter
schenkte mich meinem Vater, hat sich der Spassvogel später
mockiert über so viel Bürgerlichkeit, an der er, der
„Revolutionär im Bratenrock“, freilich ein Leben lang
festhielt. Nach dem Abitur studierte der Kränkelnde erst zwei
Semester an der Kunstgewerbeschule Hannover und dann von 1909
bis 1914 an der Kunstakademie Dresden. Auch als ausgebildeter Künstler
war der junge Mann zunächst noch ganz manierlich, malte höchst
herkömmliche Ölbilder, ehelichte eine Lehrerin aus betuchter
Familie und wurde alsbald Vater eines Sohnes. Da war er schon
eingezogen ins väterliche Haus in der Waldhausenstrasse in
einem der besseren Viertel der Residenzstadt, wo in den nächsten
fünfzig Jahren sein Lebensmittelpunkt sein sollte. Allerdings
wurde dies auch der Ort seines ersten „Merzbaus“, eines höchst
eigenwilligen „work in progress“, an dem er in den zwanziger
Jahren zu arbeiten begann. Ausgehend von einer Plastik, die er Kathedrale
des erotischen Elends nannte, entstand da im Laufe der Jahre
ein ausuferndes System von Grotten, die häufig anhand von
Fundstücken, Reliquien und anderen Freundesgaben an eine
Person, einen Ort oder ein Ereignis gemahnten und später unter
konstruktiven, weiss bemalten Bauelementen und Gips
verschwanden. Nach und nach wucherte das beispiellose Kunstwerk
über mehrere Stockwerke des Familienheims, liess jedoch Wohnräume
wie z.B. ein Biedermeierzimmer frei – ein weiteres Beispiel für
die von Schwitters jovial überbrückte Zweigleisigkeit, die ihn
zeitlebens begleitete. Es ist dieses Janusköpfige, das seinen
übel wollenden Kritikern das Geschäft erleichterte, indessen
ihm selbst in den Zeiten des Exils einen Lebensunterhalt, etwa
als Porträt- und Landschaftsmaler, ermöglichte. Zugleich
erlaubte ihm diese besondere Disposition, die Wirkung seiner
Texte und Auftritte vor einem unvorbereiteten Publikum sorgsam
zu planen, barg aber schon immer auch die Gefahr in sich, dass
seine kalkulierten Versatzstücke und deren Brüche zur
schenkelschlagenden Unterhaltung verkommen könnten, wenn
isoliert und platterdings von Anderen verwendet. Ich habe
Banalitäten vermerzt, d.h. ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung
und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Das genau hat
Schwitters vielfach vorexerziert mit seiner Collage-Technik, die
vorgefundene Stereotype kunstvoll und überraschend zusammenfügt
bzw. gegeneinander schneidet – in seinen meisterlichen
Klebebildern aus Fundstücken, die in erster Linie seinen Ruhm
begründet haben, ebenso wie in seinen bahnbrechenden Dichtungen
und zwar von den ersten expressionistischen Anfängen an bis in
seine späten Jahre. Die Kohlennot ist gross / Spart Gas- und
Fahrkartenpreise!(Übergangsverkehr) / Fundsachen werden
ersucht, die Bekanntmachung an der Leine zu führen (An das
Proletariat Berlins, 1922). The
world is full of goods trains/The
passengers are cows / And milk
and butter (Perhaps Strange, 1942).
Seine Vortragskunst
kam Schwitters vornehmlich bei sogenannten „Dada-Feldzügen“
zustatten, die ihn zu Tourneen u.a. nach Prag und Holland führten.
Seine Reisegenossen waren dabei Theo und Nelly van Doesburg
sowie Raoul Hausmann, dessen Buchstabengedicht „fmbsw“ er zu
der 1932 im letzten Merz-Heft veröffentlichten „Sonate in
Urlauten“ ausbaute, einer nach musikalischen Gesetzen
komponierten langen Lautdichtung in mehreren Sätzen, die
ausschliesslich unverbundene Buchstabenfolgen verwendet. mpiff
tillf too tillllll, Jü kaa!…Fümms bö wö tääzää
Uu, pögiff quii Ee!…Lanke trr gll / pe pe pe pe pe / Ooka
ooka ooka ooka Das Scherzo hatte er bereits 1925 auf
Grammophonplatte gesprochen bzw. gesungen. Die Ursonate ist Höhepunkt
einer stattlichen Reihe von phonetischen Gedichten, die über
gesetzte Buchstabenbilder, Alphabetpoeme und i-Gedichte bis hin
zu freien Lautgedichten reichen, zu denen sich etwa das
„Hustenscherzo“ oder „Die Wucht des Niesens“ wie
Vorstufen ausnehmen. Die abstrakte Dichtung löste, und das
ist ein grosses Verdienst, das Wort von seinen Associationen
und wertete Wort gegen Wort, speziell Begriff gegen Begriff,
unter Berücksichtigung des Klanges. Das ist konsequenter als
Wertung poetischer Gefühle, aber noch nicht konsequent genug
[...] Die konsequente Dichtung ist aus Buchstaben gebaut.
Das war kühn und ist es noch heute, wenn man die kleine
Schar der gegenwärtigen Lautpoeten betrachtet, deren sich viele
unverändert gern auf Schwitters berufen. Aber hätte sich der
Hannoveraner konsequent und ausschliesslich dieser Maxime
verschrieben, wäre das Vergnügen – auch sein eigenes - an
seiner prallen literarischen Produktion vermutlich ungleich
geringer. Seine häufig fragmentarischen Bühnenstücke, wie
etwa „Der Zusammenstoss“, seine langen selbständigen
Prosaarbeiten vom „Schacco Jacco“ über „Auguste Bolte“
zu „Franz Müllers Drahtfrühling“, seine kürzeren
Grotesken, die Schlagertexte und noch die Kinderbücher („Der
Hahnepeter“, „Die Märchen vom Paradies“, „Die
Scheuche“ – zusammen mit Käthe Steinitz) sind tatsächlich
aus Worten gebaut und handeln von Personen, Dingen und
Ereignissen, die – ob real oder vorgestellt – an verblüffender
Skurrilität, Witz und Frische so gut wie nichts eingebüsst
haben. (Von eher sentimentalischen Ausrutschern, die ihm vor
allem in den letzten Lebensjahren gelegentlich passierten,
schweigen wir ganz bewußt.)
Deren Urheber war eben alles andere als ein verbissener
Prinzipienreiter. Vielmehr stand er immer auch mit dem einen
Bein im Diesseitigen. Unermüdlich knüpfte er Verbindungen zu
wichtigen Zeitgenossen (darunter El Lissitzky, Phillippe
Souppault, Naum Gabo, Walter Mehring, Walter Gropius, Maholy
Nagy, Man Ray, Lajos d´Ebneth, Otto Nebel), hielt Kontakt zu Künstlergruppen
(z.B. „Bauhaus“, „De Stijl“, „cercle et carré“ bzw.
“abstraction – création”) oder gründete gar selber
welche wie „die abstrakten hannover“ oder den „ring neue
werbegestalter“, ergatterte Werbeaufträge und - das vor allem
– sorgte dafür, dass seine bildnerischen Arbeiten ausgestellt
wurden und er Auftrittsmöglichkeiten erhielt. Gemessen an
seinen Kontakten und seiner zunehmenden Bekanntheit hätte das,
zu Lebzeiten wohlgemerkt, eine beachtliche Karriere werden können,
- wenn nicht Adolf Hitler und die Nationalsozialisten dazwischen
gekommen wären.
Kurt Schwitters war kein politischer Kämpfer, aber den Nazis
ein Dorn im Auge als Künstler, der mit „Müll“ Bilder
machte, was den braunen Biedermännern als „entartet“ und
„vollendeter Wahnsinn“ vorkam. In hohem Masse „unvölkisch“
erschienen ihnen überdies seine Schreibereien und Auftritte. Er
geriet um so mehr unter Druck, als ein guter Freund aktiver
Sozialdemokrat war und Schwitters´ Sohn Ernst sich der
Einberufung entzogen hatte, indem er nach Norwegen gegangen war.
Auf Empfehlung von Hannah Höch hatte die Familie Schwitters
1929 eine Schiffsreise nach Spitzbergen unternommen und war
danach beinahe jedes Jahr ferienhalber in Norwegen gewesen,
zuletzt auf der kleinen, kaum bewohnten Insel Hjertöy vor der
Westküste im Moldefjord, wo Schwitters 1934 einen Schafstall für
sich und die Seinen gemietet hatte. Da lag es nahe, den immer drängenderen
Nachfragen der Gestapo im Land der Fjorde zu entgehen. Am 2.
Januar 1937 reiste Kurt Schwitters seinem Sohn hinterher und
bezog zusammen mit ihm eine Wohnung in Lysaker bei Oslo. Ich
baue hier ein neues Atelier als Zeichen, dass ein neues
Leben für mich beginnt. Es muss beginnen, ich bin erst 50
Jahre, da kann man ja noch einmal anfangen.“ Dem
Romantiker in Kurt Schwitters gefiel das Land, dem Künstler
weniger: „Neue Kunst, ausser Architektur, gibt es hier
nicht, aber das Land ist unbeschreiblich schön. Die Fjorde,
unsere Insel, Oslo, Stockholm, die Wikingerschiffe ,das ist wohl
das Wichtigste. Und avantgardistische Literatur, darf man
getrost hinzufügen, war dort ebensowenig geschätzt, schon gar
nicht, wenn der Autor Deutscher war. Eher war man geneigt, ihn für
einen Spion als für einen Künstler zu halten. Schrullig war er
allemal, wenn er sommers auf seiner Insel hauste oder sich in
westnorwegischen Hotels an Touristen heranmachte, um
Landschaftsbilder oder Porträts zu verkaufen und ihnen seine
schwer verständlichen Texte vorzutragen. Seine internationalen
Verbindungen litten und darunter wiederum er, obwohl er auch
weiter – bildnerisch wie literarisch – seine Merzarbeit
betrieb, allerdings praktisch unbeachtet von einer norwegischen
Öffentlichkeit. Probleme mit seiner Aufenthaltsgenehmigung
kamen hinzu.
Als schliesslich die deutschen Okkupationstruppen ihn am 9.
April 1940 in Oslo einzuholen drohten, floh er mit seinem Sohn
und dessen Frau zwei Monate lang nach Norden, bis es den Flüchtenden
gelang, mit dem Eisbrecher „Fritjof Nansen“ ausser Landes
nach Schottland zu kommen. Dann folgte die Internierung, zuletzt
auf der Isle of Man, von wo Kurt Schwitters Ende 1941 nach
London entlassen wurde. Die Lagerhaft war seine schlechteste
Zeit nicht; man liess ihn seine eigene Kunst sowie, gegen
Honorar, Porträts von Wachpersonal und Mitgefangenen machen.
Zum Lebensunterhalt versuchte er, in London daran anzuknüpfen.
Nachdem er von der Zerstörung seines „Merzbaus“ in Hannover
durch Fliegerbomben, später vom Tod seiner Frau und seiner
Mutter erfahren und einen ersten Schlaganfall erlitten hatte, übersiedelte
er 1945 zusammen mit Edith „Wantee“ Thomas, der Lebensgefährtin
seiner letzten, kranken Jahre,
nach Ambleside im englischen Lake District. Dort, im
nahen Kendal, ist Kurt Schwitters am 8.Januar 1948 gestorben.
In seiner späten, der englischen Zeit fertigte der Künstler
neben Porträts und Landschaften vor allem neue Collagen,
Kleinplastiken sowie abstrakte Malerei und begann, nur Monate
vor seinem Tod, einen weiteren Merzbau in einer Scheune. Als
Autor fügte er seinen collagierten Texten und Lautdichtungen
solche in englischer Sprache hinzu und plante per Korrespondenz
mit Raoul Hausmann, den es nach Limoges verschlagen hatte, die
Herausgabe einer Zeitschrift „PIN“, die beider gesamtes
Spektrum der künstlerischen Aktivitäten umfassen sollte.
Alles in allem erscheint es daher
sogar eher verwunderlich, dass der eingangs erwähnte Kritiker
in den grossen Fusstapfen von Kurt Schwitters nur zwei Gegenwärtige
wandeln sah. Aber das bezog sich auf Niedersachsen.
Bibliographische Notiz:
Das literarische Werk von Kurt Schwitters ist, jedenfalls was die
Ersterscheinungen angeht, ganz ausserordentlich verstreut. Eine
„Ausgewählte Bibliographie“ von Hans Bollinger (in der Publikation
des kunsthistorischen Wiederentdeckers von Schwitters, Werner
Schmalenbach, zählt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – fast 250
Einträge. Im Einzelnen auf die grösstenteils kaum erhältlichen,
ephemeren Veröffentlichungen zu verweisen, würde Lesewilligen Steine
statt Brot geben. Das gilt selbst für die diversen „Anna
Bluma“-Dichtungen der Jahre 1919 bis 1922, den „Tran Nr. 30 –
Auguste Bolte“ von 1923, die typographisch gestalteten Kinderbücher
(„Märchen vom Paradies“, „Die Scheuche“, „Hahnepeter“) der
Jahre 1924/5 und erst recht für die von Schwitters zwischen 1922 und
1932 in unregelmässigen Abständen herausgegebenen „Merz“-Hefte. Am
umfassendsten sind sämtliche Kategorien der Schwitters'schen Texte
wiedergegeben in der mehrbändigen Lach'schen Ausgabe.
Werke:
Das literarische Werk. Band 1 – 5. Hrsg. von Friedhelm Lach. Köln
1973 - 1977.
Wir spielen bis uns der Tod abholt, Briefe aus fünf Jahrzehnten. Hrsg.
von Ernst Nündel. Frankfurt/M. 1986.
Über Kurt Schwitters:
Käte Traumann Steinitz: Kurt Schwitters. Erinnerungen aus den
Jahren 1918 – 30. Zürich 1963.
Werner Schmalenbach: Kurt Schwitters. Köln 1967.
Ernst Nündel: Kurt Schwitters. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten,
Reinbek 1992.
Zur
Auswahl
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