Kai Engelke

 „Sei uns gegrüßt, du holde Freiheit!“

Johann Heinrich Voß

Geboren am 20. Februar 1751 in Sommersdorf bei Waren (Mecklenburg), gestorben am 29. März 1826 in Heidelberg

Johann Heinrich Voß – wie oft schon ist mir dieser Name in Anthologien und Literaturgeschichten begegnet! Möglicherweise erregte auch die Namensähnlichkeit mit einem heutigen niedersächsischen Lyriker meine Aufmerksamkeit. Doch wer war Johann Heinrich Voß? Zeitgenosse Goethes, Lyriker, Übersetzer – kaum mehr war mir über diesen Mann bekannt, von dem ich allenfalls das eine oder andere Gedicht gelesen, 

der mich ansonsten eher weniger berührt hatte. Ein erster Blick in verschiedene Nachschlagewerke:
„Entstammte einer ehemals leibeigenen Familie, daher zeitlebens ein Gegner des Absolutismus [...] im Alter ein engstirniger Verfechter eines starren Klassizismus; heftige Angriffe gegen die Heidelberger Romantiker und Goethes Sonettendichtung. [...] Formstrenger Metriker.“ (Der Literatur-Brockhaus, Mannheim, Leipzig, Wien 1995) – „Entstammte ärmlichen Verhältnissen. [...] Mitglied des Hainbunds. Mitherausgeber des Göttinger Musenalmanachs. [...] Voß´ eigentümliche dichterische Leistung liegt [...] in seinen Idyllen mit ihren teils realistisch-naturnahen, bäuerlich-derben, teils bürgerlich-behaglichen Zügen. [...] Die Bedeutung des Übersetzers Voß übertraf noch die des Dichters. [...] Seine [...] Übertragung Homers hat diesen zum geistigen Eigentum weiter Kreise in Deutschland gemacht. [...] Die bis zur Pedanterie gehende metrische und wörtliche Treue gegenüber dem Original führte nicht selten zu sprachlichen und rhythmischen Gewaltsamkeiten. [...] Seine Unbeweglichkeit in Fragen der Kunst und Religion, die sich in seiner hartnäckigen Verfechtung von aufklärerischem Protestantismus und regelabhängigem Klassizismus offenbarte, trug wesentlich dazu bei, dass Voß in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens mehr und mehr vereinsamte.“ (Brockhaus-Enzyklopädie, Wiesbaden 1974)  Voß war übrigens schon zu Lebzeiten im Brockhaus-Conversationslexikon mit dem von ihm selbst verfassten "Abriß meines Lebens“ vertreten.
Die „Deutsche Literaturgeschichte“ von Otto Mann (Gütersloh 1969) verzeichnet Voß lediglich als Mitglied des „Göttinger Hain“ und als Vorbild Goethes bei dessen Niederschrift von „Hermann und Dorothea“.
Frenzels „Daten deutscher Dichtung“ (Köln 1981) stellen Voß als einen der wichtigsten Vertreter der Epoche der Empfindsamkeit (1740 – 1780) vor. Das Wort „empfindsam“ geht übrigens auf Gotthold Ephraim Lessing zurück, der es als Verdeutschung des englischen „sentimental“ empfahl.
Hermann Pongs´ „Lexikon der Weltliteratur“ (Wiesbaden 1984) rühmt Voß, „Spitzweg ein halbes Jahrhundert vorausgenommen“ zu haben, kritisiert ihn aber gleichzeitig als „zu streng in seiner Metrik, die selbst Goethe zu tyrannisieren vermochte.“ Voß´ eigenes Werk sei „biederste Alltagsheiligung.“ Er „verholzte sich in Doktrinen, auch mit seiner Hexameter-Metrik, verdarb sich sein Alter.“
Eines wird bei erster Beschäftigung mit Leben und Werk des Johann Heinrich Voß schnell deutlich: Er war bereits zu Lebzeiten ein hochgeehrter, anerkannter, gleichzeitig zutiefst umstrittener Poet, Herausgeber, Übersetzer und nicht zuletzt auch Pädagoge. Ein Mann mit deutlich sichtbaren Ecken und Kanten also, und genau dieser Umstand war es, der endgültig mein Interesse an Johann Heinrich Voß weckte.
  Goethe sagte über ihn: „Ein Mann wie Voß wird übrigens so bald nicht wieder kommen. Es haben wenig andere auf die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluss gehabt als er. Es war an ihm alles gesund und derb, weshalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältnis hatte, woraus denn für uns andern die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Wer von seinem Werte durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll.“
Geboren wurde Johann Heinrich Voß am 20 Februar 1751 in Sommersdorf bei Waren in Mecklenburg als erstes Kind des Zollverwalters, Gastwirts und Schulmeisters Johann Heinrich Voß (1714 – 1778) und dessen späterer Ehefrau Katharina Dorothea Carsten (1718 – 1798). Die Eltern heirateten erst kurz nach der Geburt des ersten Sohnes. Er bekam noch vier weitere Geschwister. Johann Heinrich Voß war der Enkel eines freigelassenen, vormals leibeigenen Handwerkers. Auch dieser Umstand hat in Johann Heinrich Voß möglicherweise seine lebenslange Skepsis gegenüber Adel und jeder Art ererbter Vorrechte erwachsen lassen. Doch muss ebenso gesagt werden, dass Voß in geordneten, wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen aufwuchs. Sein Vater war als Gastwirt sogar zu einigem Wohlstand gekommen. Erst später verarmte die Familie in Folge des siebenjährigen Krieges.
Die Familie zog von Waren in die benachbarte Kleinstadt Penzlin, der junge Johann Heinrich besuchte die dortige Stadtschule. Er war ein äußerst wissbegieriger und fleißiger Schüler. Was ihm körperlich nicht gegeben war – er kränkelte oft – das glich er durch geistige Leistungen aus. Es fiel der Familie außerordentlich schwer, den Besuch der weiterführenden Schule in Neubrandenburg zu finanzieren. So genannte Freitische (kostenfreie Mahlzeiten) bei mildtätigen Neubrandenburger Bürgern ermöglichten die Ausbildung des talentierten Schülers. Was die Schule ihm zu bieten hatte, das war für seinen Wissensdrang nicht genug. So gründete er gemeinsam mit anderen Schülern die Geheimgesellschaft „Societas Graeca“, um im Selbststudium Latein und Griechisch zu pauken und die Werke aktueller Dichter wie Friedrich von Hagedorn, Christian Fürchtegott Gellert und vor allem Friedrich Gottlieb Klopstock zu lesen und zu diskutieren.
Ein Studium kam nach Abschluss der Schule aus finanziellen Gründen zunächst nicht in Frage. So nahm er das Angebot des Gutsbesitzers von Oertzen aus dem nahegelegenen Ankershagen an, dessen zehnjährigen Sohn als Privatlehrer zu unterrichten. Es begann für Voß nun eine etwa zweieinhalbjährige Zeit der Demütigungen und Erniedrigungen. Er bekam deutlich weniger Lohn als sein Vorgänger, man gab ihm Bier statt Wein zu trinken – was als bewusste Kränkung gedacht war – nur sonntags bot man ihm Wein an, doch den lehnte der junge Voß aus verletztem Stolz ab. Wozu er nicht gut genug in der Woche war, das wollte er auch sonntags nicht zu sich nehmen. Er musste ein Gedicht verfassen, das der junge Adelsspross dann während einer Festlichkeit als eigenes Werk vortrug und dafür eine Belohnung kassierte. Voß ging leer aus. Besonders die Dame des Hauses ließ den jungen Privatlehrer den Standesunterschied spüren. Voß konnte und wollte nicht akzeptieren, dass angeborene Vorrechte mehr gelten sollten, als durch eigene Leistung erworbene Verdienste. Diese entwürdigende Zeit als Hauslehrer in Ankershagen hat Voß tief geprägt. Hier wurden mit Sicherheit am nachhaltigsten die Grundlagen für seinen lebenslangen Kampf gegen die Auswüchse der Adelsherrschaft und gegen jegliche Art von Standesprivilegien gelegt.
Ermutigt durch seinen Freund, den jungen Pastor Ernst Theodor Brückner, schickte Voß ein paar seiner Gedichte nach Göttingen, an den Herausgeber des „Göttinger Musenalmanach“, Heinrich Christian Boie. Der druckte tatsächlich eines der Voß´schen Gedichte, und es begann ein angeregter Briefwechsel, an dessen Ende Boie den jungen Voß nach Göttingen rief, damit dieser dort ein Studium beginne. Für Freitische und Hörgeldfreiheit werde er, Boie, schon sorgen. Und so geschah es.
Der Gang nach Göttingen brachte die entscheidende Wende im Leben des Johann Heinrich Voß. Er begann nicht nur das Studium (zunächst Theologie, später alte Sprachen und Kulturen) bei Professor Christian Gottlob Heyne, noch wichtiger für Voß war die Anerkennung als Dichter und die Verbindung zu all jenen jungen Poeten, mit denen sein Förderer, Gönner und späterer Schwager Heinrich Christian Boie ihn zusammenführte. Schon im ersten Semester seines Studiums in der berühmten Universitätsstadt Göttingen kam es zur Gründung des „Göttinger Hain“. Seine Mitglieder wählten Friedrich Gottlieb Klopstock zu ihrem geistigen Oberhaupt. Am 12. September 1772 schlossen sie sich unter hohen Eichen zu einem Freundschaftsbund zusammen und nannten sich nach Klopstocks Ode „Der Hügel und der Hain“ kurz „Hainbund“. Die führenden Mitglieder waren neben Boie und Voß Johann Martin Miller, Johann Friedrich von Hahn und Ludwig Heinrich Christoph Hölty. Später kamen noch die Grafen Friedrich Leopold und Christian zu Stolberg hinzu. Voß befand sich nun quasi im Mittelpunkt des poetischen Geschehens in Deutschland, gehörten doch die Mitglieder des „Hainbundes“ zur ersten Garde der damaligen deutschen Lyriker. Er dichtete, studierte und – von wesentlicher Bedeutung für seinen späteren Lebensweg – begann einen angeregten Briefwechsel mit der erst 17jährigen Schwester seines Freundes Boie, Ernestine, die er bald kennen und lieben lernte. An sie schrieb er 1774 über die Stadt Göttingen, in der sein künstlerisches Leben erst richtig zur Entfaltung gekommen war: „Göttingen ist ein recht ungesunder Ort. Wir liegen hier alß in einem Kessel von Bergen, beständig unter Nebel und Regen. Die Dänen sollen ja wegen ihres Clima so dumm seyn; die Göttinger sinds wahrlich auch. Sie liegen wie die Schweine in ihrem sumpfigen Lager, und mästen sich mit Kartoffeln.“
Von 1772 bis 1775 wohnte der Student Johann Heinrich Voß gemeinsam mit seinem Freund Heinrich Christian Boie bei dem Göttinger Bier- und Branntweinschenker Johann Philipp Frankenfeld in der Barfüßerstraße 16. In den „Bardei“ genannten Räumen fanden die wöchentlichen Zusammenkünfte jenes Freundschaftsbundes statt, der als „Hainbund“ in die Literaturgeschichte eingehen sollte, und hier empfingen die jungen Dichter häufiger den von ihnen hochverehrten Friedrich Klopstock. In seiner Göttinger Zeit verfasste Voß Oden und Lieder, von denen viele vertont wurden, u.a. von Carl Philipp Emanuel Bach.
1775 ging Voß von Göttingen nach Wandsbek, um dort – was zu jener Zeit völlig unüblich war – als freier Schriftsteller zu leben. Er übernahm von Boie die Redaktion des Musenalmanachs, was ihm immerhin jährlich ein Honorar von 150 Talern einbrachte – ein Grundstock zwar, doch zum Leben zu wenig. Voß war auf weitere Nebeneinkünfte angewiesen. Da er „kein Amt“ hatte, verweigerte Voß´ spätere Schwiegermutter zunächst die Heirat mit ihrer Tochter Ernestine. Erst eine List, die beinahe an Erpressung grenzte – Ernestine verließ das Elternhaus und weigerte sich, zurückzukehren – brachte die Mutter dazu, der Hochzeit zuzustimmen. 1777 heiratete Voß seine große Liebe und Muse Ernestine Boie. Es wurde vom Anfang bis zum Ende eine außerordentlich glückliche Ehe. Ernestine war der Ruhepol, das ausgleichende Element in Voß´ eher unruhigem Leben.
Er schrieb nun weniger Lyrik, wandte sich stattdessen den längeren Formen, vor allem der Idylle zu. 1775 schrieb Voß „Die Leibeigenen“, im Jahr darauf „Die Freigelassenen“. Die Voß´schen Idyllen, die Titel lassen es bereits vermuten, hatten kaum etwas von Romantisierung oder Schönfärberei, im Gegenteil: Voß benutzte die damals übliche Form der Idylle, um beispielsweise die Situation der armen, ausgebeuteten Landbevölkerung in klarer, teils derber Sprache zu schildern und dadurch zur Verbesserung der Lebenssituation der einfachen Leute beizutragen.
Die Idyllendichtung gilt als der bedeutendste Bereich im eigenschöpferischen Werk des Johann Heinrich Voß. In Wandsbek begegnete Voß dem Dichter Matthias Claudius, dessen berühmtes „Abendlied“ (Der Mond ist aufgegangen) in der von Voß herausgegebenen „Poetischen Blumenlese für das Jahr 1779“ erstmals gedruckt wurde. Ebenfalls in Wandsbek begann Voß die Arbeit an seiner ersten Homer-Übersetzung.
Um seine Familie ernähren zu können – inzwischen war der erste Sohn Friedrich Leopold geboren worden, benannt nach seinem Freund und späteren Widersacher Friedrich Leopold Stolberg – nahm Voß 1778 eine Stellung als Rektor der Lateinschule in Otterndorf in den Elbmarschen an. Neben seiner Tätigkeit als Schulmeister vollendete Voß die Übersetzung der Odyssee. Er ließ das Werk auf eigene Kosten drucken, also im Selbstverlag. Er versprach sich durch das Anwerben von Subskribenten einen höheren Gewinn, auf den er wegen seines niedrigen Gehalts als Rektor angewiesen war. In seiner Otterndorfer Zeit erkrankte Voß an Typhus, litt unter immer wiederkehrenden Fieberanfällen. Voß machte die häufig auftretenden Nebel in den Elbmarschen für seine Krankheit verantwortlich. So dachte er daran, Otterndorf, wo seine Söhne Heinrich und Wilhelm das Licht der Welt erblickt hatten und wo seine berühmte Idylle „Der siebzigste Geburtstag“ entstanden war, wieder zu verlassen.
Dank der Fürsprache und Vermittlung seines Freundes Friedrich Leopold Stolberg erhielt Voß 1782 die Stelle eines Rektors an der Eutiner Lateinschule. In Eutin blieb er zwanzig Jahre, hier entfaltete sich seine künstlerische Schaffenskraft vollends. Er übersetzte klassische Autoren wie Vergil und Horaz, Ovid und Hesiod und natürlich Homers „Ilias“; er verfasste sein berühmtes Werk „Luise, ein ländliches Gedicht in drei Idyllen“, schrieb Gedichte, Satiren, Streitschriften, Hymnen und nicht zuletzt die Idylle „Die Erleichterten“. Außerdem redigierte er bis 1800 seinen jährlich erscheinenden Musenalmanach. In den Eutiner Jahren entstand ohne Zweifel der wichtigste Teil des Voß´schen Werkes. Manche Quellen vermuten sein ungeheures Arbeitspensum in jener Zeit als Ursache häufiger Krankheiten und zunehmender Gereiztheit und Nervosität. Neben seiner Tätigkeit als Dichter, Herausgeber und Übersetzer war ja noch die nicht eben leichte Arbeit eines Schulmannes zu bewältigen. Und dann bahnte sich zu allem Überfluss noch der Bruch mit seinem wohl besten Freund aus Göttinger Tagen, dem Grafen Stolberg an. Unterschiedliche Positionen in Fragen der Politik, der Poesie und der Religion hatten immer wieder zu eher kleineren Streitereien geführt; doch als Stolberg sich im Jahre 1800 katholisch taufen ließ, da sah Voß, der die katholische Kirche ebenso wie den Adel für Unterdrückung und Gängelung verantwortlich machte, diesen Entschluss Stolbergs als Verrat an. Die Freundschaft zerbrach endgültig. Die Enttäuschung über den Verlauf dieser Freundschaft – für Voß war auch das Versprechen „ewiger Freundschaft“ zu Zeiten des Hainbundes gebrochen worden – und enorme gesundheitliche Probleme veranlassten den Dichter und Rektor, seinen Dienstherrn, Herzog Peter Friedrich Ludwig, um Befreiung von seinen Dienstpflichten zu bitten. Sein Wunsch wurde ihm 1802 erfüllt, und so zog Voß gemeinsam mit seiner Familie nach Jena, wo seine Söhne Heinrich und Wilhelm studierten. Als Kurzzeitbürger von Jena pflegte Voß mit Goethe und Schiller im nahen Weimar freundschaftlichen Kontakt. Goethe ließ sich in Sachen Hexametertheorie von Voß unterweisen und beherzigte dessen Ratschläge sogar.
Die Zeiten der poetischen Hochleistungen waren allerdings vorbei. Im Jahre 1805 erhielt Voß durch den Kurfürsten Carl Theodor einen Ruf als Professor ohne Lehrverpflichtung an die Universität Heidelberg. Er bezog fortan ein Ehrengehalt, seine Tätigkeit für die Universität hatte lediglich beratenden Charakter. So war er beispielsweise maßgeblich an der Berufung bedeutender Gelehrter an die Universität Heidelberg beteiligt. Voß übersetzte Hesiod und Aristophanes, brachte gemeinsam mit seinen Söhnen Heinrich und Abraham sämtliche Dramen Shakespeares ins Deutsche, überarbeitete seine Idyllen für Neuauflagen und verfasste Streitschriften, die zum Teil eher als Schmähschriften zu bezeichnen sind. Seine Schrift „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ kränkte den einstigen Freund ganz erheblich. Zu einer Gegenschrift aus der Feder des Angegriffenen kam es nicht mehr, da Stolberg vorher starb. Voß legte sich immer häufiger mit ehemaligen Freunden, Förderern und Weggefährten an. Seine Verletzungen aus ganz früher Zeit, seine überhöhten Ansprüche an sich und seine Mitmenschen sowie eine gute Portion Starrsinn ließen die Lage sich derart zuspitzen, dass die Regierung ihm androhte, die Pensionszahlungen einzustellen, sollte er weiterhin Schmähschriften verfassen. Weitere Konfrontationen gab es nicht mehr, denn Johann Heinrich Voß starb am 29. März 1826 im Alter von 75 Jahren.
Der dänische Schriftsteller Jens Baggesen (1764 – 1926) schrieb über Voß: „Nun stand er groß und schlank mit apollinischem Anstand, mit dem Lächeln des Frühlings auf seiner offenen Stirn vor mir – und als er meine Hand drückte und mich freundlich willkommen hieß, erschien er mir als einer der schönsten Männer, die ich auf dieser Welt gesehen habe.“
Und der Dichter Hermann Allmers (1821 – 1902) notierte: „Voß verlor den Muth niemals, und seine Freunde und Bekannte waren entrückt von der Liebenswürdigkeit des Dichters und seiner Gattin, namentlich aber von dem unverwüstlichen Humor und Herzensfrohsinn, der Beide beseelte.“
Ganz anders Heinrich Heine (1797 – 1856): „Voß ist ein niedersächsischer Bauer, so wie Luther es war; er gehört zu jenem derbkräftigen, starkmännischen Volksstamme, dem das Christentum mit Feuer und Schwert gepredigt werden musste, [...] der Schulmeister, [...] der in seinen Nebenstunden die griechischen Dichter ins Deutsche übersetzt und von Thor den Hammer borgt, um die Verse damit zurecht zu klopfen, und der endlich [...] den armen Fritz Stolberg mit dem Hammer auf den Kopf schlägt.“
Und August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845) wetterte gar: „Voß hatte eine ganz einzige Gabe, und zwar die: jede Sache, die er verfocht, auch die beste, durch seine Persönlichkeit unliebenswürdig zu machen. Er pries die Milde mit Bitterkeit, die Duldung mit Verfolgungseifer, den Bürgersinn wie ein Kleinstädter, die Denkfreiheit wie ein Gefängniswärter.“
Ganz offensichtlich schieden sich an Voß die Geister.
Ein Unbequemer? Ein Querdenker? Ein Aufrührer?
Auf alle Fälle – wie eingangs gesagt – ein Mann mit stark ausgeprägten Ecken und Kanten, eine Persönlichkeit mit einer starken Reibungsintensität. Ausgestattet mit hohen Idealen, unerschütterlich in seinem Eintreten für Gerechtigkeit und gegen Benachteiligung; sicherlich zuweilen ungeschickt bis starrköpfig in der Art und Weise seines Handelns, seiner Argumentation.
Was bleibt von Johann Heinrich Voß? Unbestritten sind bis heute die positiven Ergebnisse seiner umfangreichen Hexameterforschung und der daraus resultierenden Hexametertheorie, die nicht nur Goethe nachhaltig beeinflusste. Niemand zweifelt an der immensen Bedeutung seiner Homer-Übertragungen. Johann Heinrich Voß hat der Tätigkeit des literarischen Übersetzens eine neue Qualität gegeben. Mit seiner Übersetzungsmethode – jeweils gleicher Vers und gleiche Metrik in Original und Übertragung sowie getreuer Wortlaut – hat Voß bis heute gültige Maßstäbe gesetzt.
Seine Idyllen, vor allem die „Luise“, sind feste Bestandteile deutscher Kulturgeschichte. Auch als maßgeblicher Mitbegründer des „Göttinger Hainbundes“ wird Voß für immer in den Literaturgeschichten verzeichnet bleiben.
Ist er tatsächlich ein Vergessener?
Die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung vergibt jährlich den mit 15.000 Euro dotierten Preis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Übersetzung. Seit 1977 trägt dieser wichtigste deutsche Übersetzerpreis den Namen „Johann Heinrich Voß-Preis für Übersetzung“. Im Jahre 1999 war der Preisträger übrigens Harry Rowohlt. Die deutsche Post AG gab im Jahre 2001 eine Sonderbriefmarke zum 250. Geburtstag von Johann Heinrich Voß heraus. In Eutin ist die Johann Heinrich Voß-Gesellschaft (c/o Eutiner Landesbibliothek, Schloßplatz 4, in 23701 Eutin) darum bemüht, das Andenken an Voß zu wahren und die Bedeutung seines Werkes nicht ins Vergessen hinab gleiten zu lassen. Und im Internet finden sich unter dem Stichwort „Johann Heinrich Voß“ mehr als 2.600 Fundstellen.
Ein Vergessener ist er also wohl doch nicht. Aber ein Unterschätzter.


Werke (Auswahl):
Die Leibeigenen (Idylle) 1775; Musenalmanach oder poetische Blumenlese, Lauenburg 1775; Die Freigelassenen (Idylle) 1776; Der siebzigste Geburtstag (Idylle) 1781; Odüßee (Homer-Übersetzung), Hamburg 1781; Gedichte 1. Band, Hamburg 1785; Landbau (Übersetzung Vergil) 1789; Hymnus an die Freiheit, nach der Melodie der Marseillaise 1792; Ilias (Homer Übersetzung) 1793; Junker Cord, Ein Gegenstück zu Virgils Pollio (Satire), 1794; Mythologische Briefe, 1794; Luise, Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, Königsberg 1795; Vierte Ekloge (Übersetzung Vergil), 1795; Gedichte 2. Band, Königsberg 1795; Zehn erlesene Idyllen (Übersetzung Vergil), 1797; Verwandlungen (Übersetzung Ovid), 1798; Aeneis (Übersetzung Vergil), 1799; Die Erleichterten (Idylle), 1801; Sämtliche Gedichte, Sechs Theile, Königsberg 1802; Zeitmessung der deutschen Sprache, Königsberg 1802; Horaz (Übersetzung), 1802; Hesiod (Übersetzung), 1806; Abriß meines Lebens, Rudolstadt 1818; Shakespeares Schauspiele, Bd. 1 – 9, 1818-1829; Wie ward Fritz Stolberg zum Unfreien? (Streitschrift), 1819; Aristophanes (Übersetzung), 1821; Antisymbolik, 1824-26; Kritische Blätter nebst geograf. Abhandlungen, Stuttgart 1828; Properz (Übersetzung), 1830; Mythologische Forschungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von H. G. Brzoska, 1834; Sämmtliche poetische Werke. Hrsg. von A. Voß, Leipzig 1835; Anmerkungen und Randglossen zu Griechen und Römern. Hrsg. von A. Voß, Leipzig 1838; Briefe von Johann Heinrich Voß. Hrsg. von A. Voß. Leipzig 1840; Werke in einem Band. Hrsg. von H. Voegt. Berlin u. Weimar 1966; Briefe an Goeckingh 1775 – 1786. Hrsg. von G. Hay. München 1976.

Über Johann Heinrich Voss:
Christian D. Hahn: Johann Heinrich Voß. Leben u. Werk. Husum 1977.
Klaus Langenfeld: Johann Heinrich Voß. Mensch – Dichter – Übersetzer. Eutin 1990 (= Eutiner Bibliothekshefte Nr. 3).
"Ein Mann wie Voß…" Ausstellung zum2 50. Geburtstag von Johann Heinrich Voß. Bremen 2001.

Die Überschrift dieses Beitrages ist die erste Zeile des „Hymnus der Freiheit“ (1793) von Johann Heinrich Voß.

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