Dirk Dasenbrock

 "Im Schleier verregneter Gärten"

Georg von der Vring

Geboren am 30. Dezember 1889 in Brake (Unterweser),
gestorben am 1. März 1968 in München


Dieser Name: Georg von der Vring. Ein Name wie ein Liedanfang, wie der Beginn eines Gedichts – mit eingebautem automatischen Trochäus. Aber dieser Name war verschwunden. Der Dichter Georg von der Vring existierte nicht mehr. Nicht in der Schule, nicht in den germanistischen Fachbereichen der Universitäten. Auf den Namen kann man nur stoßen, wenn man nach vergessenen Dichtern aus Norddeutschland forscht. Entdeckt man

ihn, dann liest man einen der großen deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Es war mal ganz anders: Georg von der Vring wurde gleich mit seinem ersten Roman berühmt. Seine Unterhaltungsliteratur erschien in riesigen Auflagen und er galt zeitlebens als bedeutender deutscher Lyriker. Noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts war er in Anthologien und Schulbüchern kanonisiert.

Von heute aus kann man sagen: Vrings Prosa war sehr zeitgemäß. Seine Lyrik war und ist zeitlos – und zugleich unzeitgemäß. Mit diesen Gedichten, Naturlyrik, vordergründig „naiv“, dazu noch fast immer in einfachen Reimen, kann die literarische Szene heute nichts anfangen. Aber schon der zweite Blick zeigt: diese Einfachheit ist Ziel höchster Artistik. Was bleibt? Vielleicht ein gutes Dutzend vollkommene Gedichte. Das ist viel, sehr viel.

Geboren wurde Georg von der Vring 1898 in Brake an der Unterweser. Fast alles drehte sich dort in seiner Kindheit um die See- und die Schiffahrt. Der Großvater weckte erste musische Neigungen in dem Jungen. Schon mit 14 Jahren verließ Vring sein eher ärmliches Zuhause und seine Heimatstadt. Er ging nach Oldenburg auf das dortige Lehrerseminar. Er kehrte nicht zurück. Als Dichter hat er Brake nie verlassen. In Oldenburg schloß er fünf enge Freundschaften mit Gleichaltrigen. An den Künsten war er durchaus interessiert, aber mehr noch an Fußball. Nach dem Seminar folgten zwei Lehr-Jahre in Horumersiel, bis ihn ein Freund 1912 überredete, nach Berlin zu gehen, um Zeichenlehrer zu werden und um zu malen. Vring malte, dichtete ein wenig, vor allem aber traf er in der Haupstadt die Liebe seines Lebens, Therese Oberlindorfer, ihm vollkommen ebenbürtig, auch in der Malerei.

Dann kam der Krieg, dann kam der Tod. Vring wurde 1915 eingezogen. Die folgenden vier Jahre ließen ihn nie wieder los. Fast alle seiner Freunde starben,  zwischendrin Kriegshochzeit, am Ende Gefangenschaft. Das Jahr 1919 sieht das junge Ehepaar in Jever. Zwei Kinder werden geboren.

Neun Jahre gab es den Schulmeister Vring. In dieser Zeit malte er viel, schrieb wieder Gedichte und literarische Skizzen. Ein Text von der Vrings aus dieser Zeit ist elementar: Der Roman „Soldat Suhren“. Das Manuskript des Romans war 1924 abgeschlossen. Es folgte eine Verlagsodyssee für das Buch: Der siebzehnte Verlag schließlich, J.M. Spaeth in Berlin, akzeptierte das Manuskript, und Georg von der Vring errang auf einen Schlag die Aufmerksamkeit der gesamten literarischen Öffentlichkeit Deutschlands. Denn „Soldat Suhren“ ist - dieses Verdienst bleibt Georg von der Vring - der erste deutsche Kriegsroman über den Ersten Weltkrieg. Erich Maria Remarques berühmtes Buch „Im Westen nichts Neues“ erschien erst ein Jahr später, und die Jahre zuvor veröffentlichten Erinnerungen Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ waren ausgewiesen autobiographische Texte.

Nach den Verheerungen des Ersten Weltkrieges dauerte es zehn Jahre, bis in der Weimarer Republik eine Art Militärnostalgie ausbrach. „Soldat Suhren“ erschien 1927 und wurde zum literarischen „Bestseller“. Binnen weniger Monate wurden 30000 Exemplare verkauft, alle großen deutschen Feuilletons brachten ausführliche Rezensionen, positive auch von Stefan Zweig und Thomas Mann.

Allerdings: Der „Soldat Suhren“ ist eine prototypisch „unsoldatische“ Figur. Der Held des Romans, der gegen seinen Willen – im Taumel der Kriegsfreiwilligenbegeisterung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchaus ungewöhnlich – zum Waffen- und Kriegsdienst eingezogen wird, versucht zunächst, dem Dienst durch Simulation zu entkommen. Als das schiefgeht, fügt er sich in das Unvermeidliche und beschließt, „ein brauchbarer Soldat zu werden“. Keine Spur von soldatischer Begeisterung und Todesmut fürs Vaterland, Suhren will seinen Dienst anständig durchstehen. Vring schildert soldatischen Alltag, Rekrutendrill, Vorgesetztenschikanen und entstehende Kameradschaften. Erst das letzte Kapitel führt an die Front und in feindliche Kugelhagel. Die Armee aus der Sicht des gemeinen Soldaten, nicht der potentiell heroische Krieger auf dem Schlachtfeld, ist das Thema des Buches in oft tragisch-komischen Skizzen: den ungestörtesten Platz für Suhren, den Brief seiner Geliebten zu lesen, findet er ganz nah bei den Latrinen. Das Drama eines Empfindsamen in einer wahrlich rauhen Umgebung und sein Versuch, dieses Drama in Kameradschaft möglichst unbeschädigt zu überstehen: das ist der Kern des Romans.

Dieses Buch, das erste seiner Art, enthält, deutlicher auch als „Im Westen nichts Neues“, eine neue, „moderne“ Wendung: Die Klage und Polemik Vrings, unprätentiös und ohne Pathos im Roman immer gegenwärtig, richtet sich deutlich gegen die „unmenschlichen“, entpersonalisierten Methoden der Ausbildung des gemeinen Soldaten und die Methoden moderner Kriegsführung im 20. Jahrhundert, exekutiert durch diesen gemeinen Soldaten, der im Ersten Weltkrieg auch Unteroffizier und rangniedriger Offizier werden konnte. Auf diese Personen bezieht sich Vrings Empathie, deren neue Rollendefinition Peter Sloterdijk skizziert: „Das heißt, die Heldenzumutungen fallen immer mehr auf diejenigen, die ihrer Natur und Motivation nach eher Zögerer und Feiglinge sind. In den modernen Infanterien muß daher ein schizoider Heldendrill - die Dressur zu einem anonymen und unbedankten Todesmut - durchgeführt werden. Die Spitzenoffiziere, die ihrer strategischen Position gemäß weniger gefährdet bleiben, schieben das Heldenrisiko ab. Sobald die Soldaten sich dessen bewußt wurden, setzten in der Truppe argwöhnische Reaktionen gegen die Führenden ein. Die modernen Großarmeen standen und fielen mit der Gruppe der Unterführer und niederen Offiziere, die ,mit nach vorn’ gingen.“ Für den Erfolg von „Soldat Suhren“ und seiner Nachfolger glaubt Sloterdijk ein bestimmtes Sehnsuchtsmoment geortet zu haben. „Die Kriegsnostalgie war u.a. eine Restauration der Männlichkeit, mehr noch aber die Restauration eines untergehenden sozialpsychologischen Typs, des ,eindeutigen Charakters’.“ Die Sehnsucht nach diesem „eindeutigen Charakter“ ist inVrings Buch durchgängig anwesend, gerade in der fast ununterbrochenen Beschreibung aller im Armeesystem begründeten Verhinderungen von Ansätzen zur Erfüllung dieser Sehnsucht.

Für Vring gibt es im Krieg und an der Front kein Gut und Böse, kein Freund-Feind-Schema: „Denn in jener Front, die der Heeresbericht erwähnt, kämpft Gutes gegen Gutes, Böses gegen Böses, Gutes gegen Böses und Böses gegen Gutes.“ Die inhumanen Grausamkeiten beim militärischen Drill, in der Etappe und an der Front bilden bei Vring die Negativfolie zur Entwicklung seines eigenen, gänzlich anderen Ideals, das damals und noch für Jahrzehnte fast zwangsläufig illusorischen Charakter hatte: Vring ist bereits hier, und das sollte so bis zu seinem Tode bleiben, getrieben von einem tatsächlichen, intentional ungekünsteltem frontübergreifendem Humanismus. „Eindeutiger Charakter“, das bedeutet für Georg von der Vring: ein Gewissen, das zur Menschlichkeit mahnt, auch nationen- und völkerübergreifend. Diese illusorisch zu nennende Position nahm Vring bereits sehr früh ein und hat sie auch in seinen literarischen Stoffen bis an sein Lebensende vorgetragen.

Am liebsten hab ich gelebt
Im Schleier verregneter Gärten.
Hier fanden mich gute Gefährten.
Wir haben nach Hohem gestrebt.

Sie fielen, so blieb ich allein
Und lebte, da niemand mich störte,
Ein Leben, das keinem gehörte,
Und also war es nicht mein.


Nach dem Erscheinen des „Soldat Suhren“ empfand sich von Georg von der Vring als anerkannter und etablierter Schriftsteller und nahm seinen Abschied von der Schule. Seine junge Frau hatte den großen Durchbruch nicht mehr erlebt. Sie starb 1927 an Tuberkulose, ein Verlust, den Vring 40 Jahre lang  betrauerte. Nach kurzen Episoden im Tessin und in Wien ließ sich Vring in Stuttgart nieder. Um seine Familie ernähren zu können, verfasste er, neben Lyrik – der erste Gedichtband erschien 1930 – eine große Zahl von Unterhaltungs-Romanen. Diese oft autobiographisch gefärbten Bücher verkauften sich gut. Einer, „Schwarzer Jäger Johanna“, wurde sogar mit Marianne Hoppe verfilmt. 1936 feierte Vring, gemessen an der Auflage, seinen größten Bucherfolg mit dem Roman „Die Spur im Hafen“. Das Buch erzählt die phantasievoll ausgeschmückte Geschichte eines geheimnisvollen Mordes, der in Brake geschah und über den Vrings Großmutter dem jungen Mann berichtet hatte.

„In einer kleinen norddeutschen Hafenstadt ereignet sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein mysteriöser Todesfall. Der junge Neffe des vermeintlich Verunglückten, Assessor am Hamburger Seeamt, kommt nach Werderfleth, um das Vermächtnis zu übernehmen. Die geheimnisvollen Umstände, die mit dem Tod seines Onkels verbunden sind, lassen ihn nicht ruhen und zwingen ihn, die Spur des Mörders zu verfolgen“ - so der bündige Klappentext der Taschenbuchausgabe. Dieser Heimat-Kriminal-Roman von der Vrings erreichte eine Auflage von 445000 Exemplaren. Man könnte sagen, es ging Vring ganz gut.

Fast könnte man sagen: So lebte er hin, in zweiter Ehe und mit nun vier Söhnen. Er publizierte Lyrik, Romane, verfasste Hörspiele und Theaterstücke, er übersetzte Klassiker aus dem Französischen und Englischen – und er malte. Er lebte sein großes und vielfaches Talent. Dann widerfuhr ihm der nächste große Krieg. Georg von der Vring und seine Familie überlebten. Beschädigt selbstverständlich. Vring zog nach München, um seinem Verleger Reinhard Piper näher zu sein. Er war nun ein älterer Herr, der in den Schulbüchern stand – und der irgendwann unter einer Wolke von Wohlwollen und Anerkennung verschwunden war. So lange gelobt, bis keine Reibungsfläche mehr übrig blieb und er mitsamt seinen Bewunderern durch jedes Auswahlmuster gerutscht war. Der zeitlose Dichter Georg von der Vring war schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts praktisch verschwunden. Bis er dann wirklich verschwand und – wohl aus Liebeskummer (welch trotzige Geste eines 78 Jahre alten Mannes!) – zum Freitod in die Isar ging.

Was war dem Schriftsteller Georg von der Vring am Ende noch wichtig geblieben? Seine Gedichte. Was wird von ihm bleiben? Gedichte. Was Vring – in einer nur scheinbar „naiven“ Poetik – anstrebte, waren, nach einer Formulierung des Philosophen Hans-Georg Gadamers, Gedichte als „Refrain der Seele. Refrain ist, worin alle einstimmen“. Im besten Fall sollten dem Dichter „Kunststücke“ gelingen, denen man die Kunst nicht mehr ansieht. Gar nicht überraschend: der Titel eines von ihm 1943 gehaltenen Vortrags enthält Vrings programmatische Zielvorgabe als poetologische Handlungsanweisung: „Das Einfache in der Dichtung“ zu erreichen als die schwerste und die höchste Leistung. Mit der Definition seiner lyrischen Arbeit als der – nach einer Formulierung von Karl Marx – vom Menschen regulativ gesteuerten Abarbeitung mit der Natur hätte Vring durchaus etwas anfangen können. Dem Brechtschen Verdikt, über Bäume dürfe man angesichts viel drängenderer Probleme, der Bedrohung durch politisch-kulturelle Barbarei, nicht schreiben, wäre Vring nie gefolgt. Seine Lyrik war intentional nicht agitatorisch, sondern sollte Trost und Hoffnung in einer trostlosen Welt vermitteln.

Die Schwerter der Krieger sind härter
Als die Schwerter der Lilien im Garten,
Doch ein Lilienblatt ist mir werter
Als ein Schwert voller Rinnen und Scharten


Im übrigen sind am Anfang des 21. Jahrhunderts Bäume zum zentralen Thema in der Auseinandersetzung mit lebensbedrohenden ökologischen Barbareien der industriellen Gesellschaft geworden. Der Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg spricht in seiner Untersuchung über „Naturlyrik und Gesellschaft“ davon, daß "im Gedicht Natur in der Regel weniger Welt als Gegenwelt darstellt". Würde man diesem Argument folgen, dann wäre das Besingen von Lilien und Päonien in Gedichten Vrings, die sich lasen, als entstammten sie einer anderen, früheren Zeit, hoffnungslos obsolet, eigentlich gar nicht mehr möglich, entsprungen einem vergangenen bürgerlichen Naturkonzept und einer im „Naturgedicht zur Schau gestellten Harmonie mit Natur“, mit einem Wort: weltfremd. Naturlyrik stehe „beispielhaft für die Tendenz zum Unpolitischen, Praxis- und Gesellschaftsfernen bei vielen Formen der Lyrik überhaupt“. Dahinter steckt die nicht neue Forderung von einer Lyrik mit richtig dosierter Würze von Welthaltigkeit, immer angeschlossen an den Zeitgeist, einer Rezeptur, der Georg von der Vring zutiefst mißtraute -


Man schrie beim Toto durchs Gewimmel:
„Sieh da, der drahtige N.N!
Er ging durchs Ziel auf Rilkes Schimmel.
Jetzt sattelt er den Rappen Benn.“


Umso erstaunlicher bleibt die enorme Haltbarkeit einer Lyrik, deren Verfallsdatum nach den genannten Vorgaben eigentlich schon bei der Produktion längst abgelaufen war, einer Lyrik, die sehr genau eine andere Art von Vergänglichkeit zu beschreiben vermochte:

Es sind im Oktober die Beeren
Roter als irgendwann.
Doch kommenden Herbst - was dann,
Wenn wir nicht wiederkehren?
Sie mögen, als ob wir noch wären,
Sich röten - aber sie waren
In all unsren wenigen Jahren
Roter als irgendwann

Natürlich weiß Vring und mit ihm sein Leser, daß die besungenen Beeren in jedem Herbst immer gleich rot leuchten. Hier wird keine kleine, heile Welt der Gräser und Blüten besungen, Klage über Verlust, über Altern und Tod beherrscht ein Bild aus der Natur ohne jeden idyllischen Anhauch, verknüpft mit einer Reflexion über die andere, subjektiv überhöhte Wahrnehmung von Liebenden, in Bildern, die dem Leser unvermittelt einleuchten - darin besteht die poetische Leistung dieser acht Zeilen. Georg von der Vring schrieb keine Idyllen, keine Schilderungen ungetrübten Daseins friedvoller Menschen im Gleichklang von Geist und Natur, vielmehr beherrschen Bilder eines getrübten Daseins, Freud- und Friedlosigkeit seine Gedichte. Beschreibung und Evokation von Natur münden bei Vring oft in Zeilen und Strophen über unerfüllte Wünsche, gescheiterte Hoffnungen, gebrochene Stimmungen, hinter einer Folie nur scheinbar zeitloser Naturbetrachtung.

Georg von der Vring hatte einen klaren Begriff von einer Naturkraft, die gar nichts Rührendes, nichts „Tümelndes“ hat, die vielmehr in der Lage ist, auch außerhalb der hybriden Menschheitsgeschichte zu existieren. Christoph Meckel berichtet, wie der alte Dichter seinen jungen Kollegen bei einem Spaziergang unvermittelt und „streng“ belehrte: „Die alten Bäume überleben uns!“ Obwohl das „Waldsterben“ zu seiner Zeit noch unbekannt war, besaß Vring eine Ahnung von Naturkraft in ihren völlig anderen Zeitdimensionen, deren Unterschätzung auch kenntlich wird in dem grün-ökologischen Irrtum, die Menschheit sei dabei und in der Lage, diese Erde zu zerstören - sie kann sicher ihre eigene Rasse vernichten, aber die Natur würde sich re- und neuorganisieren, sie ist nach aller historischen Erfahrung schon mit vergleichbaren Katastrophen, als welche sich die beherrschende Ausbeutung durch den homo sapiens entpuppt hat, fertig geworden.

Vring gehörte zu der nur vordergründig einfach strukturierten Spezies deutscher Dichter, die in schlichten Worten, aber höchster Wortartistik eine Naturlyrik schrieben, die das potentielle Ende aller Natur und Natürlichkeit gleich mitbeschwört: Kinderverse mit schwärzester Grundierung. Eine Formulierung seines Dichterkollegen Oskar Loerke kennzeichnet die formale Kunst auch Georg von der Vrings: „Der Geist des Stoffes heißt Form. Das höchste Gelingen vorausgesetzt, ist in unserer Kunst der Gedanke ganz Gefühl, das Gefühl ganz Gedanke, beides ganz Anschauung.“

Georg von der Vring entwickelte sich im Lauf seines fast 80-jährigen Lebens - im Deutschland des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reichs, der Bundesrepublik - zum, wie Peter Hamm ihn titulierte, buchstäblich „letzten Meister des Liedes“. Ohne Breitenwirkung, ohne Schüler, ohne Epigonen, ohne Einfluß. Er wurde lexikalisch eingereiht, er blieb wirkungslos. Ein zeitloser Dichter, der seit langer Zeit unzeitgemäß ist. Am Ende seines Lebens formulierte Georg von der Vring sehr deutlich, was ihm blieb, und was von ihm bleiben sollte: „Vielleicht einhundert gute Gedichte. Trotz dieses Scheißlebens.“  Wohl nicht einhundert, sicher aber mehr als zehn der Gedichte Vrings scheinen den Beweis ihrer „zeitlosen“ Gültigkeit und Anziehungskraft antreten zu können. Die berühmteste zeitgenössische deutsche Lyrikerin Sarah Kirsch zitiert in ihrem Tagebuch das „Jägerlied“:

Schwarz ist der Schrot
Im Rohr meiner Flinte.
Feuerfarben
Sprühen die Garben
Hinter dem Wilde dahin.

Heute das Wild
Und morgen der Jäger!
Nachts in der Hütte
Stören mich Schritte,
Aber ich höre nicht hin.


Für Sarah Kirsch ist das „Jägerlied“ „eines meiner siebzehn Lieblingsgedichte“. Georg von der Vring ließ am Ende nur die Gedichte gelten. Keine Gültigkeit für die Romane und Erzählungen aus den Jahren 1928 bis 1959. Sie erscheinen dem Leser heute wie überzogen mit der Patina des jeweiligen Jahrzehnts; sehr zeitgemäß bei ihrem Erscheinen, sehr zeitgebunden, bei erneuter Lektüre doch sehr veraltet in Inhalten und Intention: vergilbte Geschichten aus einer anderen Zeit.

Dagegen die Gedichte: obwohl gerade sie beim ersten Lesen den Eindruck vermitteln, als stammten sie aus einem ganz anderen Jahrhundert, entfalten sie ihre Wirkung, im besten Fall ihren Zauber, ungeschmälert heute wie vor 70 Jahren. Ein Verfallsdatum scheint es nicht zu geben. Über diese phänomenale Haltbarkeit schrieb sein norddeutscher Kollege Helmut Heissenbüttel - und man kann nur staunen, denn der Schriftsteller Heissenbüttel ist vom Schriftsteller Vring denkbar weit entfernt - nach dem Tod Georg von der Vrings: „Ein lyrisches Werk also, daß sich besser gehalten hat als andere, die mit Anspruch und Mythologie, mit Spitzfindigkeit und Experiment gearbeitet haben. Ich selber, dem, wie man sagt, sogenannten Experiment verschrieben, nur weil ich Schwierigkeiten hatte, eine Redeweise für mich zu finden, habe das nie geleugnet und immer einmal wieder Verse von der Vrings zitiert. Diese Verse haben sich, und das ist es doch eigentlich, was zählt, in mein Leben eingemischt, wie umgekehrt Erinnerung sich an sie angehängt hat, die von mir kommt.“

Georg von der Vring wollte keine literarische Aufklärung. Aufklärung aus der Perspektive selbstbewußter menschlicher Autonomie mit dem Ziel, Welt zu erforschen, zu unterwerfen, zu beschreiben: das war nicht sein Anliegen. Er wollte verzaubern.



Werke (Auswahl)

Lyrik:
Verse. Gedichte. 96 Seiten. Bremen 1930. Schünemann
Die Lieder des Georg von der Vring. 84 Seiten. Oldenburg 1939. Stalling
Oktoberrose. Gesammelte Gedichte. 153 Seiten. München 1942. Piper
Verse für Minette. 62 Seiten. München 1947. Piper
Abendfalter. Ausgewählte Gedichte. 63 Seiten. München 1952. Piper
Kleiner Faden Blau. Gedichte. 84 Seiten. Hamburg 1954. Claassen
Die Lieder des Georg von der Vring. 1906-1956. 202 Seiten. München 1956. Langen Müller
Der Schwan. Lieder und Gedichte. 91 Seiten. München 1961. Langen Müller
Der Mann am Fenster. Neue Gedichte. München 1964. Langen Müller
Gesang im Schnee. Neue Gedichte. 71 Seiten. München 1967. Langen Müller
Die Gedichte. Gesamtausgabe der veröffentlichten Gedichte und eine Auswahl aus dem Nachlaß. 535 Seiten. Ebenhausen bei München 1989. Langewiesche-Brandt

Prosa:
Soldat Suhren. Roman. Berlin 1927. 396 Seiten. Dresden 1928. J.M. Späth
Die Spur im Hafen. Kriminalroman. 185 Seiten. Berlin 1936. Scherl
Die Wege tausendundein. 287 Seiten. Hamburg 1955. Claassen. Nachdruck im Isensee-Verlag, Oldenburg 2001

Übersetzungen:
Englisch Horn. Anthologie angelsächsischer Lyrik von den Anfängen
bis zur Gegenwart. Übertragen und herausgegeben von Georg von der Vring. Köln/Berlin 1953. Phaidon/Kiepenheuer & Witsch
Angelsächsische Lyrik aus sechs Jahrhunderten. Englisch-Deutsch. Herausgegeben, übertragen und mit biographischen Notizen versehen von Georg von der Vring. 278 Seiten. Köln 1962. Kiepenheuer & Witsch


Über Georg von der Vring:
Dirk Dasenbrock: Georg von der Vring. 1889 – 1968. Vier Leben in Deutschland. Vechta: Eiswasser 1997.

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Georg von der Vring


Soviel Raffinesse
und dann klingt es so naiv
ein Romantiker im falschen Jahrhundert
sang Lieder vom Öffnen von Nüssen
von Gräsern und Blumen quer durch die Flora

Die rechte Hand schrieb von alleine
fast immer kurze Zeilen fast immer Reime
immer mehr trostlose Strophen
„Meine Wälder sind nur Schilf“
„Die alten Bäume überleben uns“
Schwarze Natur Georg von der Vring
Name aus lange vergangener Zeit
Name im Stein halb versunken im Gras

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Zur Auswahl