|
Bernd Wolffs „Klippenwandrer“:
Heine trifft Goethe
Ein Meisterwerk literarischer Empathie |
Bernd Wolffs Roman „Klippenwandrer“ endet mit den Worten „Kein Ende“. Tatsächlich ist er endlos in dem Sinne, der die Endlosigkeit von Leben und Literatur anzeigt: Von Goethe und Heine ist die Rede, zwei Sonnen mit zahlreichen Planeten und unendlich vielen Monden; und die Sonnensysteme kreisen nicht nur umeinander, sondern ziehen auch noch große und kleine Planeten in ihre Bahn und Meteoriten, die verglühen. Ein wahres Weltall von Dichtern und ihren Gesellen, jeder vom anderen beeinflusst und abgestoßen, manche verschwinden, neue tauchen auf.
Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten, Literaturgeschichte bildlich umzusetzen. Eine andere wählt Wolff im vierten und letzten, in sich abgeschlossenen Harzroman: Ein junger und ein alter Hirsch beäugen einander misstrauisch, machen sich brüllend zum geweihsplitternden Streit bereit und lassen es dann doch. Vorerst. Die gleichnishafte Andeutung führt auf den ersten Seiten des Buches in die Natur, lässt aber erahnen, worum es letztlich geht. Fast während der ganzen Erzählung umkreisen sich der alte Goethe und der junge Heine, stoßen sich ab, versuchen, an sich zu ziehen, wer ihres Geistes ist. Das Großartige an der Harztrilogie war die Verschmelzung von Literatur und Geschichte, Landschaft und Natur. Beim „Klippenwandrer“ ist bewundernswert der behende Wechsel zwischen Wolff-Prosa und Klassikerzitaten. Selten liest man ein so unangestrengtes Ineinander zweier, mehrerer, vieler Sprachebenen. Am Ende ergibt sich daraus – „Wie doch alle die Fäden miteinander verwoben sind“ – ein festes Netz.
Der Roman, so lässt sich aus den Andeutungen rekonstruieren, setzt am 21. September 1820 ein, und man ist schon tief im Geschehen drin, wenn sich die beiden „Platzhirsche“ noch kaum aufeinander zu bewegt haben; Goethe ohnehin nicht und Heine auf den verbürgten Wegen und Umwegen seiner „Harzreise“, die seinen Ruhm begründete und offenbar eine ganz neue Literaturform bot.
Der Leser ahnt es: Das Treffen der beiden Großen kann nur zum Desaster werden. Goethe hinterher lakonisch in seinem Tagebuch: „Heine von Göttingen.“ Die Begegnung war ihm gerade mal drei Worte wert! Wolff hat dieser Stelle ein Kapitel gegeben – und um dieses Kapitel sein ganzes vielschichtiges Gewebe gesponnen. Beim nachhaltig enttäuschten Heine, der sich so vieles von dieser Begegnung erhofft hatte, schlägt die Wut in völliges Verschweigen um: „Ich war in Weimar; es giebt dort sehr gutes Bier.“ Was letztlich bedeuten soll: Wenn Ihr jetzt vielleicht erwartet, ich werde nach Weimar auch nur von IHM reden, wie alle Welt, dann habt ihr Euch gewaltig getäuscht. Wer ist ER denn schon? Bier ist besser.
Werden schon die beiden Hauptfiguren anschaulich und bewegend gezeichnet, so umgibt sie Wolff mit einer Vielzahl biographisch verbürgter Nebenfiguren; Familienmitglieder, Dichterkollegen, wodurch sie noch farbiger werden. Die traurige Existenz Eckermanns berührt extrem, und die seines Hannchens tut richtig weh. Auch das Nicht-mehr-treffen, wohl aber Immer-noch-aneinander-denken von Goethe und Ulrike von Levetzow ist ein schmerzhafter Höhepunkt der Erzählung.
Zugleich macht die Kahnpartie von Mutter Levetzow und ihren Töchtern auf der Elbe deutlich, wie trefflich Wolff nicht nur Text-, sondern auch Bildzitate in sein Mosaik einfügt: Vom Arzt und Maler Carl Gustav Carus – auch er eine Nebengestalt des Romans – stammt das Bild „Kahnfahrt auf der Elbe“ (1827). Es zeigt eine junge Dame mit Sonnenhut und den Kahnfahrer, vorn im Sonnendunst die unverwechselbare Silhouette von Dresden. Raffiniert erzählt Wolff derart von den Levetzows, dass, wer dieses Bild kennt, es auf einmal wie ein Déjà-vu vor Augen hat.
Wolffs Erzählung ist äußerst genau im Historischen, aber keine Nacherzählung. Sie ist eine Neuschöpfung, die verborgene Zusammenhänge hervorhebt, deutlich macht. Oder, wie es der Autor im Nachklang intendiert: „Was meine Helden bewegt, sind auch Fragen unserer Zeit – das Aufgenommen- oder Ausgegrenztsein in der Gesellschaft, Glauben und Wissen, Selbstverwirklichung und Anerkennung, Liebe, Neid und Hass, unser Verhältnis zu Natur und Sprache und vieles mehr.“
Ein Heinezitat, das nicht im Buch steht, könnte als Motto über dem Werk stehen: „Ich kam immer in der Welt überall zu frühe; dieses und meine falsche Position, die das Exil mit sich führt, waren mein Unglück.“ Tatsächlich ist Heinrich Heine lange Zeit ein erbärmlicher Verlierer und, wüsste man nicht, dass er am Ende doch noch der strahlende Sieger einer neuen Literaturzeit werden würde, ganz offenkundig ein Versager. Aber er hat durchgehalten, hat sich regelrecht durchgebissen. „Indessen“ – so Georg Sartorius über Heines Zukunft – „man wird Sie nicht lieben“. Eine Einschätzung, die von der Nachwelt nicht übernommen worden ist.
Natürlich lässt sich hinterher leicht sagen, was die dumme Vergangenheit doch eigentlich hätte vorher wissen sollen: was für ein Genie Heine war. Dieser Gefahr ist Wolff in einer der stärksten Szenen des Romans ausgewichen. Frau von Cotta, geborene Gemmingen-Guttenberg hat die „Harzreise“ gelesen und verreißt sie vor den Ohren des Dichters nach Strich und Faden. Eine Klassikerschelte, wie es sie noch selten zu lesen gab: Die gebildete Leserin versteht genau zu lesen, kennt die Welt, vergleicht Literatur und Leben und kommt dem Dichter weder mit unscharfen Empfindungen noch mit lehrerhaften Hochnäseleien. Sie irrt zwar vor der Nachwelt, dies aber auf hohem Niveau.
Bernd Wolffs Roman ist eine der herausragenden Neuerscheinungen dieses Literaturherbstes. Möge ihm die Anerkennung zuteil werden, die er verdient.
Bernd Wolff. Klippenwandrer. Heines Harzreise. Roman. Basel: Futurum Verlag 2012. 471 S., geb. 24,90 €