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„Die schönste unter den schönen Städten“
Goethe in Neapel |
„Ich beschäftige mich jetzt mit meiner italiänischen Reise“, schreibt Goethe in Vorbereitung zu seinem berühmten Reisebuch. „Ich habe glücklicherweise noch Tagebücher, Briefe, Bemerkungen und allerley Papiere daher, so daß ich zugleich völlig wahrhaft und ein anmuthiges Mährchen schreiben kann. Hiezu hilft mir denn höchlich Meyers Theilnahme, da dieser mich ankommen und abreisen gesehen, auch die ganze Zeit, die ich in Neapel und Sicilien zubrachte, in Rom blieb. Hätte ich jene Papiere und diesen Freund nicht, so dürfte ich diese Arbeit gar nicht unternehmen.“ Wie für so vieles wurde also Johann Heinrich Meyer, der „Kunscht-Meyer“, Goethe auch bei der Materialiensammlung zu seinem später populärsten Reisebuch eine unerlässliche Hilfe. Nur „in Neapel und Sicilien“ war er nicht dabei, aber da stand ihm Johann Heinrich Wilhelm Tischbein mit seinem Wissen und seinen Kontakten zur Seite. Und noch anderes Reisebuch blieb unerwähnt, obwohl er es gekannt haben muss: das seines Vaters („Viaggio per l’Italia“), dessen Neapel-Passagen in der heutigen Taschenbuchausgabe 75 Seiten umfassen, zwar trocken sind, aber allein schon durch den Umfang der Kapitel zeigen, wie wohl sich Johann Caspar Goethe im Süden gefühlt haben muss. Nicht umsonst hat er Neapel später „die schönste unter den schönen Städten“ genannt.
Wenn man an die „Italienische Reise“ denkt, denkt man vor allem an Rom, allenfalls noch an Venedig. Das liegt an der Quantität der sekundären Literatur. Aber „Goethe in Neapel“? Da gäbe es Benedetto Croce zu nennen (1903), zwei, drei italienische Untersuchungen und dann natürlich die kleinen Kapitel in den großen Biographien. So kann also ein so kleines Buch wie das von Dieter Richter ein echtes Desideratum sein, das auf seinen 140 Seiten selbst dem Kenner viel Neues erzählt. Und es ist nicht nur klug und gründlich geschrieben, sondern auch in einem unprofessoral schönen Stil.
Neu dürfte der abenteuerliche Lebenslauf des Antonio Domenico Giovanazzi sein, bei dem Goethe Vater und Sohn ihr Italienisch gelernt haben, und der den Dichter zur Gestalt seines Harfners in „Wilhelm Meister“ inspiriert haben dürfte. Neu ist auch ein von Tischbein nicht abgesandter Brief an Goethe, in dem er an das mit „kleinen zarten Thierchen“ verunreinigte Trinkwasser erinnert, das jener tapfer trank und das ihm dann in den ersten Neapolitaner Tagen einen gewaltigen Durchfall beherrschte.
Genau wird beschrieben, wie die Reisenden in der Ebene von Fondi eine damals noch klar erkennbare Vegetationsgrenze passierten, die heute so nicht mehr erkennbar ist – allenfalls im übertragenen Sinne als Temperamentsgrenze zwischen Nord- und Süditalien. Sei doch wahrzunehmen, so Goethe, „daß alle in ihrer Art nicht arbeiten, um bloß zu leben, sondern um zu genießen, und daß sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen.“
Was sich in Rom erst zu einer Italienvorfreude entwickelte, das wandelte sich in Neapel alsbald zu mediterraner Lebenslust. Selbst die „lärmende Gottesverehrung“ bei einem Fest in Palermo freute ihn, und den Volksheiligen Filippo Neri schloß der protestantische Denker aus dem Norden gar in sein Herz.
Oft haben wir von der Urpflanze gehört, „die alte Grille“, die ihm im Park der Villa Giulia wieder einfällt. Aber wer wusste schon, dass eine kleine Fächerpalme im „Orto Botanico“ von Padua bis heute den Namen „Palma di Goethe“ trägt? Und dass die recht konkreten Anklänge in „Faust II“ (4. Akt, „Hochgebirge“) an Monte Nuovo und Vesuv erinnern („Die Teufel fingen sämtlich an zu husten, / Von oben und von unten aus zu pusten“) und noch einmal genauestens in den Notizen „Eilige Anmerkungen über den Vesuv“ beschrieben werden.
Bei den Feierlichkeiten zur Enthüllung einer Ehrentafel für Goethe sagte Francesco Torraca, ein Freund Benedetto Croces: „Die Stadt der Denker erinnert sich daran, wie Er zwei ihrer größten und ihr teursten Söhne [Filangieri und Vico] ehrte – und sie jubelt darüber. Und die gute und arbeitsame, die intelligente und fleißige Stadt erinnert sich daran, daß kein Ausländer sie besser verstand, keiner sie mehr liebte, sie besser verteidigte – und sie ist Ihm dankbar dafür.“
Fannullonismo wird den Süditalienern vorgeworfen, Müßiggang und Faulheit, nicht zuletzt bis heute von der Liga Nord. Der arbeitsame Goethe hat genauer hingeschaut, und seine Aufzeichnungen in der „Italienischen Reise“ haben darum nichts von ihrem Wert verloren.
Klaus Seehafer
Dieter Richter: Goethe in Neapel. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2012. (Wagenbach Salto) 141 S. Geb. 15,90 €