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Goethes erste große Liebe |
Nach Dagmar von Gersdorff, die in den letzten Jahren mit redlich kompilierten Biografien über Goethes Mutter und Marianne Willemer hervorgetreten ist, war die Frankfurter Kaufmannstochter Lili Schönemann Goethes erste große Liebe. "Auch kann ich sagen", zitiert sie ein bekanntes, von Eckermann überliefertes Wort, "daß sie die Letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener ersten verglichen, nur leicht und oberflächlich." Aber sollen wir daraufhin so unterschiedliche,. aber doch tiefgehende und langjährige Beziehungen wie die zu Charlotte, Christiane, Marianne wirklich nur als "leicht und oberflächlich" betrachten? Kann es nicht eine augenblickliche Alterssentimentalität gewesen sein, die aus dem Dichter gesprochen hat oder eine Übertreibung des sich erinnernden Sekretärs?
Immerhin hat sich Goethe schon bald, nachdem er Lili kennengelernt hat, mit Heiratsgedanken getragen. Argwöhnisch von Lilis Brüdern auf Abstand gehalten, die für ihre gerade sechzehnjährige Schwester eine bessere Partie im Auge hatten, mußte er freilich bald erkennen, daß er den Ansprüchen ihrer Familie nicht genügen würde. Es kam zum Bruch. Die kleine Doppelbiografie läßt das Liebesdrama vor den Augen des Lesers wiederaufleben. Sämtliche Gedichte, die Goethe an Lili richtete, seine auf sie bezogenen Briefe und Tagebuchnotizen sind in den Text integriert. Und in der Tat hat ihn die Zeit, während der er mit Lili verlobt war, bis ins Alter hinein beschäftigt.
Nur weniges in dem kleinen, schön gestalteten Insel-Büchlein ist wirklich neu, und doch gewinnt man durch die Art der Zitat-Zusammenstellung, die Verknüpfung der Wissenspartikel, den geruhsam verbindenden Erzählfluss am Ende den Eindruck, erst jetzt so recht Bescheid zu wissen über das, was diese beiden jungen Menschen einst verbunden hat. Eingehender und auch differenzierter jedenfalls, als aus den Groß-Biografien über den Dichter.
Dagmar von Gersdorff: Goethes erste große Liebe. Lili Schönemann. Frankfurt/Main: Insel Verlag 2002. (Insel-Bücherei Nr. 1229) 109 S., geb. 12.80 EUR