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Goethes gefährlichste Liebe oder: Warum es sie gar nicht gab
Ettore Ghibellino als Jüngster in der Reihe vergeblicher Enthüller |
Ach ja, die Enthüllungen um Goethe! 1997 outete man ihn als Schwulen (Karl Hugo Pruys: "Die Liebkosungen des Tigers"), 1999 als politischen Spitzel (W. Daniel Wilson: "Das Goethe-Tabu") und gemeinen Menschen überhaupt (Tilman Jens: "Goethe und seine Opfer"). Und dass die Zahl seiner Liebschaften nicht zu zählen sei, gilt schon fast für gesichert. Ettore Ghibellino vermindert sie in seinem Buch zunächst um Charlotte von Stein, um sie gleich darauf aber um eine andere, höchst illustre Dame zu vermehren. Seiner Meinung nach pflegten nämlich der Dichter und Herzogin Anna Amalia eine lange, äußerst raffiniert verborgen gehaltene Liebe.
All diese "Forscher" – Ghibellino eingeschlossen – gehören zu einer merkwürdigen Spezies: Der Neid muss ihnen lassen, dass sie sich in den entlegensten Einzelheiten von Werk und Leben des Dichters auskennen; aber irgendwann sitzen sie einem missdeuteten Dokument auf, entwickeln eine abenteuerliche Theorie und ordnen dem bedenkenlos jeglichen Textfund unter. Solchem Verfahren kommt entgegen, dass diese Autoren mit Hingabe Fiktionen für Fakten nehmen, Dichtung für Wahrheit. Bei Ghibellino heißt das dann so: "Goethe hat sich in seinem dichterischen Werk, wenn auch verschlüsselt, immer an die Wahrheit gehalten; deshalb gab er viele Hinweise, mit deren Hilfe das unglaubliche Täuschungswerk, das mit Hilfe von Frau v. Stein in Szene gesetzt wurde, erkannt werden."
Die jung verwitwete Anna Amalia, so seine Behauptung, sei also die Geliebte Goethes gewesen. Eine Adlige konnte sich aber unmöglich an einen Bürgerlichen attachieren. Also musste eine Strohmann, resp. eine Strohfrau herhalten, der alle Briefe des Dichters galten und die sie weiterleitete an die eigentliche Adressatin. Wann immer es also "Geliebte Charlotte" heißt, sei in Wahrheit "Geliebte Anna Amalia" gemeint. Das wird eingangs behauptet, aber dann im ganzen Buch kein einziges Mal stichhaltig belegt. Auf Seite 19 bringt Ghibellino Goethes Erregung über die Halsbandaffaire in Zusammenhang mit der Gefahr, in die seine Liebe zu Anna Amalia sie und ihr Herzogtum versetzen könnte. Damit ist das Leitmotiv angeschlagen und wird nun durchs ganze Buch theatralisch und entnervend wiederholt: Charlotte v. Stein = Anna Amalia. Alle herzbewegende Liebesbriefe und –gedichte an Charlotte bekommen jetzt den Ruch einer klassischen Variante von "Verbotene Liebe". Schon bald wird die geheime Geliebte nur noch "Anna Amalia" genannt. Und wenn es in Goethes Tagebuch einmal heißt "Nachmittag durchgelogen", dann ist das natürlich auch wieder ein Beleg für die Richtigkeit der Annahme. Als ob das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, Täuschung, Wirklichkeit, Retouche oder einfacher Bewahrung von Konventionen nicht für jeden moralisch sensiblen und halbwegs skrupulösen Menschen ein Thema sein könnte!
Der hanebüchene Umgang mit Zitaten sei an zwei Beispielen gezeigt. Ghibellino behauptet, dass Goethe zunächst noch glaubte, Anna Amalia ehelichen zu können und meint das mit folgendem Zitat belegen zu können: "Man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst." Ja, dann! In Wahrheit entstammt der Satz einem autobiografischen Fragment, in dem sich Goethe über sein eigenes jünglinghaftes und späteres Selbstbewußtsein amüsiert.
Noch spinnerter ist der Einfall, ein aus zweiter Hand überliefertes Märchen der Herzogin durch entsprechende Interpretation ins Prokrustesbett der Ghibellino'schen Idee zu zwingen. (Original nachzulesen im "Goethe-Kalender auf das Jahr 1932".) Es ist da von zwei "außerordentlich schönen Brillianten" die Rede. Ein Weiser sagt schließlich vom leuchtenderen: "Der Stein ist nicht echt." Schlußfolgerung des Autors: Man brauche statt des männlichen nur den weiblichen Artikel zu setzen – ha! – dann heißt das Ganze: "Die Stein ist nicht echt."
Ich habe das Märchen ganz gelesen und Abenteuerliches entdeckt. In Wirklichkeit hat Goethe nämlich weder Anna Amalia noch Charlotte v. Stein geliebt, sondern –Schillers Frau Charlotte von Kalb. Heißt es doch an bezeichnender Stelle: "Er pflügt mit seines Nachbaren Kalbe." Schiller war Goethes Nachbar, die Kalb hieß Kalb und pflügen... aber das wollen wir nun wirklich nicht näher vertiefen!
Ettore Ghibellino: J. W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe. Weimar: A. J. Denkena Verlag 2003. 193 S., kart. Euro